Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentation imperialer Erfahrungen in der Historiographie seit 1918

Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentation imperialer Erfahrungen in der Historiographie seit 1918

Organisatoren
Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentation imperialer Erfahrungen in der Historiographie seit 1918
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2004 - 12.12.2004
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Von
Blazej Bialkowski, Geschichte Ostmitteleuropas, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Zeitalter knapper Forschungsmittel und des staatlich induzierten Reformdrucks scheint die historische Ostmitteleuropaforschung mehr denn je der Gefahr ausgeliefert zu sein, an den Rand gedrängt zu werden. Die Kategorien "Größe" und "Ohnmacht" historiographiegeschichtlich zu problematisieren, hatte damit einen brisanten Aktualitätsbezug. Die Jahrestagung 2004 des GWZO behandelte die Frage nach der Repräsentation imperialer Erfahrungen in der Historiographie nach 1918. Die staatlichen Neuordnungen in Ostmittel- und Osteuropa im 20. Jahrhundert haben, so die Tagungsveranstalter Frank Hadler und Mathias Mesenhöller (beide Leipzig) in ihrer Einführung, den betroffenen Gesellschaften wiederholt erhebliche Orientierungsleistungen abgefordert, zu denen die jeweiligen (nationalen) Historiographien wesentlich beitrugen. Die internationale Relevanz des Tagungsthemas zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sich die European Science Foundation im Rahmen ihres Programms "Representations of the Past: The Writing of National Histories in Europe" (NHIST) personell und finanziell an der Jahrestagung des GWZO beteiligte.

Erörtert wurden die Historiographiegeschichten von sechs Imperien bzw. imperiale Verfestigungen, die zu verschiedenen Zeiten auf Ostmitteleuropa ausgegriffen haben: die des Schwedischen Dominium Maris Baltici, des Polnisch-litauischen Commonwealth, des Osmanischen Reiches, der Hohenzollerndynastie, der Habsburgermonarchie und des Petersburger Imperiums. Zum Auftakt umrissen die Veranstalter dieses Kräftefeld, die Entwicklung von Norden nach Süden sowie von Westen und Osten. Als zentrales Thema benannten sie die historisch gewachsene Spannung zwischen Großmächten und "kleinen Völkern", nationalgeschichtlichen Identitätskonstruktionen und transnationalen Verflechtungen. Sie warfen die Fragen auf, wie diese Spannungen historiographisch generiert, gesteigert und ggf. aufgelöst worden seien und ließen es offen, ob sich Europa künftig als multinationaler Staatenbund konstituieren werde. Was hier bereits anklang, war der Versuch, die Ansätze postcolonial und imperial studies für die heutige Ostmitteleuropaforschung fruchtbar zu machen und den Europabegriff in seiner realhistorischen und symbolisch-mythischen Ausprägung auf den Prüfstand zu stellen. Die Struktur der Tagung betreffend legten die Veranstalter dar, dass jedes der Imperien in mindestens drei Beiträgen behandelt würde, die neben der Sicht der "Nachfolgegesellschaften" "positive" und "negative" "Opfergeschichten" zum Gegenstand haben sollten.

In der ersten Sektion: "Das schwedische Dominium Maris Baltici 1617-1721" wies der Moderator Stefan Troebst (Leipzig) darauf hin, dass Schweden in Ostmitteleuropa nicht an sich, sondern als das unbekannte Ostsee-Imperium mit seiner transbaltischen Expansionssphäre präsent war. Dann referierte zunächst Ragnar Björk (Södertörn) über das schwedisch-baltische Imperium in der schwedischen Historiographie. Deren vorherrschendes Paradigma im 19. Jahrhundert, das zum Teil bis heute seine Gültigkeit behalten habe, sei die Geschichte Schwedens als Geschichte der Könige gewesen. Im Bezug auf den imperialen Gedanken hätten in den 1920er bis 1980er Jahren zwei Epochendeutungen dominiert: The Swedish Great Power Era und The Swedish Baltic Empire. Während die erste Deutung das eigentliche Schweden fokussierte, konzentrierten sich die zweite auf die Dominanz Schwedens im Ostseeraum und seine kriegerische Expansion. Davon leitete Björk zwei Thesen ab: Zum einen seien die Triebkräfte und Motive für die Expansion mit der Rettung des Protestantismus verbunden gewesen; zum anderen rekurriere das Engagement Schwedens im Baltikum auf sozial- und wirtschaftshistorische Momente.

Im zweiten Referat sprach Klaus Zernack (Berlin) über die polnische Perspektive auf Schweden und Polen im Konkurrenzkampf um die Ostseeherrschaft. Vor allem der Einfall der Schweden nach Polen im Jahre 1655 habe als protestantisch-ketzerische "Sintflut" ("Potop") mit Kulturraub und Landverwüstung in die polnische Erinnerungskultur Eingang gefunden. Die polnische Wahrnehmung änderte sich aber nach der ersten Teilung Polens (1772), als Westpreußen/Pommerellen von Polen abgetrennt wurde. Die Beschäftigung mit der Schwedenzeit habe dadurch an Deutungskraft verloren, sei geschichtspolitisch entschärft und im 19. Jahrhundert von einer Zentrierung der polnischen Ostsee-Perspektive auf Preußen abgelöst worden. Zwar wurde von dem polnischen Nationalschriftsteller Henryk Sienkiewicz die schwedische "Sintflut" literarisch für den polnischen Unabhängigkeitskampf aufbereitet, doch ging es hier vor allem darum, identitätsstiftend die einstige Größe Polens aufzuzeigen. Nach 1918 vertiefte sich der deutsch(preußisch)-polnische Gegensatz im Geist eines Kampfes um den Ostseezugang. Die "Wiedergewinnung der Oder- und Weichselmündung" nach 1945 forderte den Polen dann noch verstärkt Legitimations- und Integrationsideologien ab. Zernack machte somit auf eine gewisse Deviation des Sektionsthemas aufmerksam, denn diese Entwicklung habe die Überbetonung eines polnischen Dominium Maris Baltici zur Folge gehabt. Im heutigen polnischen Gedächtnis spiele schließlich die Schwedenzeit kaum eine Rolle und gehöre zum Untersuchungsgegenstand der Historiker "im engeren Sinne".

Demgegenüber stellte die Schwedenzeit in der lettischen Historiographie einen vorwiegend positiv besetzten Bezugspunkt dar. Ilgvars Misans (Riga) betonte in seinem Vortrag einen diesbezüglichen Gegensatz zwischen lettischer und deutschbaltischer Geschichtsauffassung. Galt die Schwedenzeit den Letten als "helles Zeitalter" (Augusts Tentelis), so zeichneten die Deutschbalten ein eher negatives Bild, das Schwedens Konfrontationskurs gegenüber der deutschen Ritterschaft in den Vordergrund rückte. In der lettischen Öffentlichkeit nach 1918 hingegen avanciert das schwedische Dominium zum positiven Mythos. Vor allem diejenigen, die nach 1945 ins Exil gingen, propagierten weiterhin ein freundliches Bild, während in der sowjetlettischen Geschichtswissenschaft die Eingliederung Livlands in das Reich Peters des Großen hervorgehoben und besonders nach 1953 die positive Schilderung der Schwedenzeit als Geschichtsverfälschung der lettischen Bourgeoisie diffamiert wurde. Seit 1991 nun gelten - so das ernüchternde Schlusswort Misans' - die Frühe Neuzeit und damit auch die Beschäftigung mit Schweden als Stiefkind der lettischen Historiographie.

In der Sektion "Der polnisch-litauische Commonwealth 1569-1772/1795" machte der Moderator Hans-Jürgen Bömelburg (Lüneburg) auf einen gewissen Zwiespalt in der Geschichtsauffassung aufmerksam: Zwar sei Polen-Litauen gewiß als imperiales Gebilde zu verstehen, andererseits habe die Historiographie in der republikanisch-demokratischen Tradition Joachim Lelewels stets auf die res publica abgestellt. Die Forschung zum Wechselverhältnis zwischen imperialen und republikanischen Geschichtsdeutungen stehe allerdings erst am Anfang. Wie der Vortrag "Between two concepts: From ethnic nation state to Commonwealth. The Lithuanian point of view" von Jurate Kiaupiene (Vilnius) deutlich machte, arbeitet man sich im heutigen Litauen an nationalzentrierten Deutungsschemata ab. Zwar fungiere der Großfürst Vytautas weiterhin als Nationalheld und Begründer des litauischen Staates im 14. Jahrhundert und werde sein Bruder Jogaila, der spätere polnische König Wladyslaw II. Jagiello, des Landesverrates bezichtigt - doch könne man den Wert der 1385 von Jogaila geschlossenen Personalunion zwischen Polen und Litauen nicht ganz verneinen, des Polonisierungsdrucks nach der Lubliner Realunion von 1569 ungeachtet. Die Referentin betonte in der Diskussion, dass sie damit einen staatsgeschichtlichen und nicht nationalgeschichtlichen Ansatz vertrete.

Anschließend sprach Wilfried Jilge (Leipzig) über "Das Bild Polen-Litauens und die Konzeptualisierung der Nation in der modernen ukrainischen Historiographie". Drei Hauptströmungen in der neuesten Nationalhistoriographie lassen sich unterscheiden: postsowjetische "Nomenklaturtschiki", nationalukrainische Traditionalisten und staatskritische Nonkonformisten/Intellektuelle aus Lemberg und Kiew. Die zweite Gruppe beschwöre eine ewige polnisch-ukrainische Feindschaft und betrachte Polen-Litauen als Agentur der Erweiterung der polnischen Magnatenherrschaft in die Ukraine. Bei einer gewissen differenzierten Wahrnehmung der Rolle der polnischen Könige und der Adelsgesellschaft, werde insgesamt ein antitatarisches, antipolnisches und antirussisches Feindbild, gekoppelt an das Autostereotyp einer ehrenhaften Ritterschaft der Kosaken, gepflegt. Die dritte Gruppe um Popovic und Jakovlenko sehe dagegen das ukrainische Grenzland im 17. Jh. vor allem in Bezug auf die Chmelnitzkij-Deutung: Der Kosakenführer habe lange zwischen Aufstand und der Option, mit dem polnischen König einen Kompromiss zu schließen, taktiert, und so fungiere auch Polen-Litauen als lockeres Herrschaftsgebilde in positiver Abgrenzung zu Russland. Dagegen richteten die sowjetukrainischen Narrative der ersten Gruppe sich nationalistisch gegen Polen und das Osmanische Reich.

In der Sektion "Das Osmanische Reich 1526-1699" erörterte zunächst Fikret Adanir (Bochum) das osmanische Erbe und die Visionen einer "Großtürkei" von der Adria bis zur chinesischen Mauer in Nationsbildung und Globalisierung - als eine Analyse des türkischen Selbstfindungsprozesses. Der Zusammenbruch des Reiches nach 1918 brachte mit Atatürk eine "Kulturrevolution von oben", die verwestlichend und entislamisierend wirkte und die Gesellschaft in eine Identitätskrise stürzte. Seit den 1930er Jahren erfolgte in der "Entwicklungsdiktatur mit faschistischen Zügen" eine Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsbildes, demzufolge die Geschichte des Osmanischen Reiches eine Geschichte der Degeneration gewesen sei. Die 1950er und 1960er Jahre brachten dann eine Reislamisierung und eine nationalkulturelle Reosmanisierung, auf die in den 1970er Jahren die Suche nach einem Kompromiss folgte, nach der türkisch-islamischen Synthese, einem dritten Weg zwischen abendländischer und arabischer Kultur, und nach 1991 schließlich die Suche nach der Position der Türkei in einer sich globalisierenden Weltgemeinschaft. Anschließend präsentierten Geza David und Pal Fodor (beide Budapest) Betrachtungen des Osmanischen Reiches in der ungarischen Historiographie. Verwaltung, Wirtschaft, Kirchenorganisation, kulturelles Leben und Justiz wurden deskriptiv als Bereiche einer ungarisch-osmanischen Verflechtungsgeschichte vorgestellt. Als Fazit konstatierten die Referenten eine kaum überraschende Ambivalenz der ungarischen Wahrnehmung des Osmanischen Reiches, die aus der habsburgisch-osmanischen Umklammerung resultiert habe.

Mit einem Referat über "Vertraute Fremdheit: Das Osmanische Reich in der makedonischen Geschichtskultur" schloss Stefan Troebst (Leipzig) den Themenblock ab. Zunächst schilderte er das im Gegensatz zu Griechenland und Bulgarien positive Türkenbild in der makedonischen Alltagskultur. Dagegen stelle die neueste makedonische Historiographie eine Mischung von Nationalromantik, Marxismus-Leninismus-Relikten und Ansätzen zur Verwissenschaftlichung dar. Gleichzeitig ließen Revisionsansprüche Bulgariens, Griechenlands, Serbiens und Albaniens das Osmanische Reich in vergleichsweise mildem Lichte erscheinen. Auch folgten der Osmanenzeit serbische, griechische, bulgarische und albanisch-italienische Besetzungen, welche die Erinnerung an die Herrschaft des Sultans eher ins Positive rückten. Mit der "vertrauten Fremdheit" sei schließlich die Ambivalenz zwischen dem positiven Osmanenbild in der entjugoslawisierten Gedächtniskultur und dem Negativtopos der "Fremdherrschaft" in der staatlichen Geschichtspolitik bzw. in der makedonisch-nationalen Meistererzählung gemeint.

In der Sektion "Hohenzollerndynastie 1701-1918", die von Stefan Berger (Glamorgan) moderiert wurde, zeigte sich schnell, dass es nicht nur um das Herrscherhaus gehen kann, sondern allgemein um die historischen Mutationen von Preußen und dessen Rezeption. Zunächst behandelte Nikolas Berg (Leipzig) Preußen als Erinnerungsort der deutschen Geschichtsschreibung zwischen Weimar und Bonn. Eine Reihe gängiger Topoi sei bereits vor 1918 in der borussischen Historikerschule zu einer einseitig-affirmativen Preußenlegende amalgamiert und in die Weimarer Republik tradiert worden: preußisches Sendungsbewusstsein, Berufung Preußens zur Reichseinigung, Vormachtstellung als "Bezwinger, Lehrer und Zuchtmeister" im Osten (Treitschke) und Bollwerk gegen das Slawentum. Nach 1918 ging es noch einmal aggressiver und ideologischer um das teleologisierte "Wesen" des Preußentums, weniger um Ereignisse und realhistorische Zusammenhänge. Berg differenzierte bis 1933 drei Interpretationsrichtungen: altpreußisch-antidemokratisch (J. Haller, H. Rothfels, G. von Below), borussisch-gemäßigt (F. Meinecke, F. Hartung, E. Marcks) und liberal (Franz Schnabel, Veit Valentin, Hugo Preuß). Die Betonung von Heldentum, Militarismus und Führerpersönlichkeiten im ersten Lager wurde aber bald mit der vorsichtigen Kritik des Nebeneinanders von Machtstaat und humanitär-sozialen Momenten des altpreußischen Staatswesens im zweiten Lager kombiniert. Die Entmythisierungsversuche der demokratisch-liberalen Auslegung der preußischen Geschichte dagegen wurden in Weimar marginalisiert, nach 1933 boykottiert und ihre Protagonisten verdrängt. Im NS-Staat und besonders nach 1939 erfuhr der ideologische Gebrauch essentialistischer Topoi von "Preußentum" wie Pflicht, Opferbereitschaft, starker Staat, Führerprinzip und "Geist der deutschen Wehrhaftigkeit" vollends seine ideologische Übersteigerung. Für die Zeit nach 1945 dann schilderte Berg eindrucksvoll die "vorsichtige Umerziehung" und die Entmythisierung des deutschen Preußenbildes als Ambivalenz zwischen Trauer und Verstocktheit, Selbstkritik und Selbstüberhöhung, vehementer Ablehnung alles Preußischen und gewissen Rettungsversuchen sowie diffuser Anklage und hypertropher Rhetorik einer expliziten Preußen-Apologie.

Diesem ständig mutierenden Preußenbild auf deutscher Seite stellte Markus Krzoska (Mainz) die konstant negative Preußen-Wahrnehmung in der polnischen Geschichtskultur und Historiographie gegenüber, wobei er in Anlehnung an Jörn Rüsen drei Dimensionen von Geschichtskultur unterschied: ästhetische, politische und kognitive. In der Verschränkung der damit gemeinten künstlerischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Geschichtsdeutungen ankere die Zähigkeit des polnischen Preußenbildes. Seit 1795 sei es auf das engste mit der Frage der staatlichen Existenz Polens verkoppelt gewesen; zwar sei es im 19. Jahrhundert zum Austausch zwischen deutscher und polnischer Geschichtswissenschaft gekommen, doch habe sich schließlich im Umkreis des Politikers Roman Dmowski die sog. "piastische" Idee durchgesetzt, die ethnisch, nationalkatholisch und eben antideutsch war. Nach 1918 ist vor allem der Posener Historiker und Westforscher Zygmunt Wojciechowski zu nennen, der 1934 die sog. polnische "Mutterländer"-Konzeption und den Kampf "für ein Polen an Oder und Ostsee" mit der territorial-expansiven Entwicklung Brandenburg-Preußens auf Kosten des polnischen Staates begründete. Damit wurden bis in die 1960er Jahre die Weichen für ein weiterhin bestehendes und durchaus negatives Preußenbild in der künstlerischen und politischen Erinnerung Polens gestellt. Dieser Topos kulminierte in der Ablehnung von Konrad Adenauers Auftritt im Ordensrittermantel oder in der Begeisterung für den antideutschen Film "Krzyzacy" (Kreuzritter) von 1960. Freilich habe es in der polnischen Geschichtswissenschaft bereits seit 1956 an Entmythisierungsversuchen nicht gefehlt. Der Posener Historiker Gerard Labuda etwa habe mit dem Forschungsansatz einer Landesgeschichte Großpommerns ein Gegenmodell zum deutsch(preußisch)-polnischen Antagonismus entworfen, der bis heute an den Universitäten von Posen, Stettin, Danzig und Thorn in Gebrauch sei. Seit 1989/90 ändere sich auch in der polnischen Öffentlichkeit das Preußenbild, indem das preußische Erbe nicht nur materiell, sondern auch geistig vereinnahmt werde.

In der Sektion "Habsburgermonarchie 1648-1918", die von Robert Luft (München) moderiert wurde, referierte zunächst Werner Suppanz zum Thema: "Der lange Weg in die Moderne: Die Habsburgermonarchie in den österreichischen Geschichtsdiskursen nach 1918". Suppanz stellte drei zentrale Narrative bzw. politische und zugleich intellektuelle Diskurse vor. Erstens: einen deutschnationalen, Habsburg-feindlichen, der eine großdeutsche Preußenorientierung pflegte, im Nationalstaat den Inbegriff der Moderne erblickte, so etwa Heinrich Ritter von Srbik. Zweitens: einen christlich-sozialen, prohabsburgischen, der sich auf die Aura des Alten Reiches berief, seine kulturelle Überzeitlichkeit und eine österreichische Kulturmission gegenüber den Slawen, die Selbstsicht als Bollwerk gegen die Türken zur Begründung eines österreichischen Exzeptionalismus im Gesamtdeutschtum pflegte und in der Prussifizierung Deutschlands eine Fehlentwicklung erblickte. Schließlich drittens: einen sozialdemokratischen, der freilich in der Republik Österreich nach 1918 akademisch nicht vertreten war und eine untergeordnete Rolle spielte. Als sich nach 1945 ein Teil der ehemaligen Habsburgermonarchie im sowjetischen Ostblock wiederfand und Österreich selbst bis 1955 von allen vier Siegermächten besetzt war, kam es zu einer Pluralisierung und Polarisierung der Diskurse. Zum einen idealisierte man die Monarchie und betonte die Eigenständigkeit der österreichischen Geschichte; zum anderen wies man auf die Multiethnizität Österreich-Ungarns und die Gegenentwürfe zum Nationalismus und Kommunismus hin; schließlich orientierte man sich historisch an dem wie auch immer als 'modern' verstandenen Preußen. Diese virulente Spannung zwischen nationalgeschichtlicher Fixierung und postkolonialer Perspektive war bereits von Robert Luft angesprochen worden; virulent vor allem dann, und das kann man an dieser Stelle hinzufügen, wenn eine Titularnation in die Rolle einer Kulturnation schlüpft.

Anschließend besprachen Ivan Sedivy (Prag) die tschechische bzw. tschechoslowakische Historiographie und Elena Mannova (Bratislava) das Habsburg-Bild im kollektiven Gedächtnis der Slowaken. Während Sedivy zu dem Schluss kam, dass man sich seit 1968 vom negativen Habsburg-Bild zu verabschieden begonnen hat, versuchte Mannova mit einigen slowakischen Autostereotypen aufzuräumen: Opfermythos, Knechtschaft und Leidensgeschichte der Slowaken, "angeborene Treue" zu der treuebrüchigen Monarchie, gekoppelt an das Gefühl der Verlassenheit hinsichtlich paternalistischer Vormundschaft, Dualismus zwischen dem dann doch positiven Habsburg-Bild und dem negativen Ungarn-Bild sowie die kulturelle Rückständigkeit der Slowaken. Die Referentin veranschaulichte diese Topoi vor dem Hintergrund der Entwicklung nach 1918, der Institutionalisierungsprozesse der 1940er Jahre, der marxistisch-leninistischen Umdeutungen in den 1960er Jahren und schließlich der Pluralisierung der slowakischen Gesellschaft nach 1989/1990. In der Diskussion wurde noch einmal den österreichischen Geschichtsdeutungen zwischen Universalismus und Nationalfixiertheit sowie der Sonderstellung Österreichs als Brücke zwischen Ost und West besonderes Augenmerk zuteil. Ferner versuchte man die durch Krankheit der Referenten ausgefallene polnische und ungarische Perspektive auf die Habsburgermonarchie zu ergänzen, während die von Matthias Middell (Leipzig) aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten eines transnationalen Forschungsansatzes bzw. gar nach einem eventuellen imperial turn weitgehend offen blieb.

Zum Thema der letzten Sektion "Das Petersburger Imperium 1721-1917", die von Martin Schulze Wessel (München) geleitet wurde, referierte Aleksandr Semyonov (St. Petersburg) zu "The elusive concept of Empire: The History of a multinational state through the prism of nationalism and imperialism". Im Vordergrund standen die Fragen, ob und wie sich die Dynamik menschlicher Bewegungen in die Strukturen der Geschichte einfangen lasse, und welche Rolle dabei historische Imaginität, Gedächtnis und Identitätskonstruktionen spiele. Seine von westeuropäisch-angelsächsischen Diskussionen geprägten Ausführungen ließen den Referenten verschiedene Konzeptionen russischer Vergangenheit dem im 19. und 20. Jh. präsenten Spannungsverhältnis zwischen National- und Staatsgeschichte, zwischen "russki" und "rossijski" und schließlich zwischen Imperial- und Revolutionsgeschichte zuordnen. Dagegen ging Igor Martynyuk (Simferopol) in seinem Vortrag über "Scholarship into politics: The Eurasianist Controversy over the ‚Other' Russia and the art of diasporic ideology-making (1921-1933)" einen anderen Weg: Zentral schien hier die Zugehörigkeit Russlands zu Eurasien als Faktor der Erfindung des Imperiums zu sein. Zu ergänzen wäre die Rezeption der eurasiatischen Konzeption in der deutschen und polnischen Russlandforschung. Während in Deutschland diese Geschichtsdeutung aufgrund der traditionellen deutsch-russischen, d.h. vor allem russisch-europäischen Transfergeschichte auf gewisse Widerstände stößt, nehmen polnische Historiker mit einer gewissen Sympathie asienzentrierte Geschichtsdeutungen der jüngeren, russischen Historiker wahr.

Mit der Frage, ob es eine polnische Tradition gebe, russische Geschichte lieber außerhalb Europas zu verorten, sah man dem Vortrag von Rafal Stobiecki (Lodz) "Comparing Polish historiography on the Petersburg Empire: Second Republic - People's Poland - Exile" entgegen. Stobiecki nannte zuerst drei Faktoren für das polnische Interesse an Russland: konfliktgeladene Nachbarschaftsbeziehungen, eine gemeineuropäische Faszination durch dieses Land sowie die Frage nach der Europäizität Russlands und damit seiner Rolle unter den slawischen Völkern. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts operierte das durchaus negative Russlandbild der polnischen Historiker mit einer Reihe gängiger Topoi, die bereits im 19 Jahrhundert vorformuliert worden waren: "genuine Gegensätzlichkeit polnischer und russischer Kultur" (Stanislaw Kutrzeba), "zivilisatorischer, polnisch-russischer Antagonismus" (Feliks Koneczny), "Antieuropäizität" (Jan Karol Korwin-Kochanowski), schließlich "Brutalität der Regierungsformen" (Jan Kucharzewski). Im kommunistischen Polen sei dann bis in die 1960er Jahre russische Geschichte ein Tabuthema gewesen, danach habe man vorwiegend die Schemata der sowjetischen Literatur kopiert. Lediglich Andrzej Walicki und Benedykt Zientara suchten nach einem differenzierten Bild und versuchten dem im polnischen Geschichtsdenken fest verankerten "Syndrom der Abnormalität" russischer Geschichte entgegenzuwirken. Dagegen arbeiteten polnische Exilhistoriker wie Henryk Paszkiewicz und Oskar Halecki weiterhin am Geschichtsbild eines antieuropäischen Russland. Hingegen ließ der Exilpublizist Ryszard Wraga dieses negative Russlandbild zurück und sprach von einem "russischen Schwebezustand" zwischen Europa und Asien. Stobiecki resümierte selbstkritisch, diese streckenweise russophobe Russland- und Russen-Wahrnehmung unter polnischen Historikern sei auf deren "Sklaverei" gegenüber eigenen historischen Kollektiverfahrungen zurückzuführen.

Diese Erfahrungen teilte mit der polnischen auch die estnische Historiographie, deren Russland-Rezeption von Mati Laur (Tartu) dargeboten wurde. Vor dem Hintergrund der seit 1918 einsetzenden Professionalisierungsprozesse und des Paradigmenwechsels nach 1945 von der Volksgeschichte zu marxistischer Indoktrination und nach 1989 zur Landesgeschichte habe die estnische historische Erinnerung zwei Feindbilder ausgeprägt: Deutschbalten und Russen - zweifellos eine interessante Parallele zur deutsch-russischen Umklammerung der polnischen Geschichte.

In seinem Resümee für die Schlussdiskussion wies Frank Hadler noch einmal auf die Bedeutung imperialer Erfahrungen und deren Repräsentation in dem auf sich verschiebenden mentalen Karten als Überlappungszone zu deutenden Ostmitteleuropa hin. Fikret Adanir schlug im Ergebnis der Leipziger Diskussionen vor, ein Netzwerk im Bereich der stark anwachsenden imperial studies zu bilden. Diesem Vorschlag schloss sich Klaus Zernack an, während Hans-Jürgen Bömelburg zu bedenken gab, ob in der Erforschung der einstigen Reichshistoriographien mit ihren Titularnationen der kulturalistische und imperiale Ansatz dominant sei und ob nicht in der Auseinandersetzung mit den Historiographien der sog. "kleinen Völker" postcolonial-Ansätze stärker zu machen seien. Dass z.B. Polen und Ungarn weder in dem einen noch in dem anderen Lager eindeutig verortet werden können, wurde leider nicht mehr diskutiert. Ausgeklammert blieb letztendlich auch die enorm wichtige historische und historiographische Verflechtung von Wissenschaft und Politik. Einige Kolleginnen und Kollegen hielten immer noch Nationalgeschichte für einen vertretbaren Forschungsansatz: kann man sich aber im Elfenbeinturm eingeschlossen und die Welt von oben betrachtend der Maschinerie des Geschichtsprozesses entziehen? An einer neuen Reflexion über die Unhintergehbarkeit der eigenen historiographischen Einbindung in den nicht abgeschlossenen Geschichtsprozess muss sicherlich noch gearbeitet werden. Der geplante Tagungsband wird dazu einen wichtigen Beitrag leisten.


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