Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressource füreinander

Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressource füreinander

Organisatoren
Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (Universität Bielefeld) in Kooperation mit dem Deutschen Museum (München)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.02.2005 - 04.02.2005
Von
Torger Möller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Am 3. und 4. Februar 2005 fand an der Universität Bielefeld der Workshop des DFG Schwerpunktprogramms (SPP) 1143 zum Thema "Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressource füreinander" statt. Die Tagung wurde vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (Bielefeld) in Kooperation mit dem Deutschen Museum (München) durchgeführt.1

Der SPP 1143 (Laufzeit 2003-2009, zurzeit 23 Projekte) hat zum Ziel die Genese und Strukturierung von Wissenschaft in der Gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhundert zu erforschen.2 Im Zentrum stehen dabei die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Das Thema des Bielefelder Workshops stellt somit ein Teiluntersuchungsfeld des Forschungsprogramms dar. Der zentrale Ausgangspunkt des Workshops bestand in der Ablehnung des eindirektionalen Modells der Wissenskommunikation, bei dem die Wissenschaft ihr Wissen lediglich einer passiven Öffentlichkeit vermittelt ohne wiederum selbst von dieser affiziert zu werden.

In dem einleitenden Vortrag von Peter Weingart (Bielefeld) mit dem Titel "Die Wissenschaften der Öffentlichkeit und die Öffentlichkeiten der Wissenschaft" wurde in einem historisch-systematischen Überblick das wechselseitige und sich wandelnde Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit betrachtet. Die grundlegende These lautete, dass Wissenschaft zu allen Zeiten öffentlich war. So war für die Naturforschung des 17. und 18. Jahrhunderts die höfische Gesellschaft das Publikum und Wissenschaftler waren auf Patronage angewiesen. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Wissenschaft übernahmen wissenschaftliche Akademien und Fachzeitschriften die Rolle der Beurteilung wissenschaftlicher Qualität. Es kam zu einer Ausdifferenzierung der Kommunikation. Von der primären innerwissenschaftlichen Kommunikation in Fachjournalen müsse die sekundäre Kommunikation mit der Öffentlichkeit unterschieden werden. Das 19. Jahrhundert wurde zum goldenen Zeitalter der Popularisierung und bürgerlich als auch proletarisch ausgerichtete Vereinigungen wirkten an der Vermittlung des wissenschaftlichen Wissens mit.3 Im ausgehenden 20. Jahrhundert wird die Öffentlichkeit zu einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Durch die Massenmedien wird die Wissenschaft einer dauerhaften Beobachtung unterworfen. Die Atomkraft, die Gentechnik, die Klimaforschung und die jüngsten Landwirtschaftsskandale sind hier herausragende Fälle, bei denen sich massenmediale (Rück-)Wirkungen auf die Wissenschaft beobachten lassen.

Sybilla Nikolow (Bielefeld) sieht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Zäsur im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit und erläuterte ihre These an der Bildstatistik von Otto Neurath. Mittels der bildstatistischen Methode, die an alltagsweltliche Semantiken, zum Beispiel dem Sarg oder Kreuz als ikonisches Zeichen für den Tod, ansetzte, wurden nun erstmals auch breiteren Bevölkerungsgruppen statistische Einblicke in gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge gewährt.

Arne Schirrmacher (München) und Ulrike Thoms (Berlin) stellten die Frage nach der Wissensvermittlung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Beiträge. Bei Schirrmacher ging es um das Atom als Problemfall der Wissensvermittlung in der Zeit um 1900. Die physikalischen Vorstellungen entzogen sich der lebensweltlichen Anschauung. Während beim Atom der Topos der Unbeschreiblichkeit wissenschaftlichen Wissens eine Barriere zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit darstellte, zeigte sich in dem von Thoms vorgestellten Fall der Vitaminforschung eine durchlässigere Form der Wissensvermittlung. Die hohe öffentliche Aufmerksamkeit wurde jedoch von Wissenschaftlern zum Teil kritisch beäugt und als "Vitaminrummel" disqualifiziert. Die beiden konträren Fälle von Schirrmacher und Thoms zeigen, wie unterschiedlich das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Abhängigkeit von der Explizierbarkeit und Praxisrelevanz des Gegenstandbereichs sein kann.

Die Medien der Wissenskommunikation standen in den Beiträgen von Anja Casser (München) und Christina Brandt (Berlin) im Vordergrund. Casser stellte anhand von Zeichnungen und Illustrationen technischer Erfindungen die verschiedenen Visualisierungsformen und ihre spezifische Bildrhetorik vor. Am Beispiel der Brüder von Römer zeigte sie, inwieweit Zeichnungen der 1920er und 30er Jahre über der Luftfahrt- und Raketentechnik von einem modernen Fortschrittsglauben durchzogen waren. In dem Vortrag von Brandt stand das Medium der populären Literatur und das kulturelle Phänomen des Klons im Mittelpunkt. Brandt vertrat die These, dass die populäre "Klon-Literatur" der 1970er Jahre als Experimentierfeld für Folgen der Klonierung betrachtet werden müsse. Es handele sich um eine erste Form der gesellschaftlichen Einordnung und Bewertung der sich abzeichnenden biotechnischen Möglichkeiten. Somit fülle die "Klon-Literatur" einen Raum, der erst später durch professionalisierte und institutionalisierte Ethikdebatten übernommen werden sollte.

Der Abendvortrag von Helmut Trischler (München) behandelte die Wissenskommunikation im Wissenschafts- und Technikmuseum des 20. Jahrhunderts, wobei vor allem auf die Geschichte des Deutschen Museums in München eingegangen wurde. In der nunmehr über hundertjährigen Geschichte des Deutschen Museums (gegründet 1903) lassen sich Veränderungen in der Konzeption und Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Artefakte feststellen. Die anfänglichen "Botschaften" des Deutschen Museums an ihre Besucher waren, dass Wissenschaft und Technik ein linearer Prozess sei, der - in der Regel - von "großen Männern" gestaltet werde. Das heutige Bild der Wissenschaft als ein sozialer Prozess innerhalb der Gesellschaft trete demgegenüber und es erfolge eine stärkere Dialogorientierung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Der Einfluss der Öffentlichkeit auf die wissenschaftliche Disziplinenbildung und -entwicklung wurde in den drei Beiträgen von Christina Wessely (Wien), Per Leo (Berlin) und Ina Dietzsch/ Cornelia Kühn (Berlin) behandelt. Anhand der 1894 entwickelten Weltentstehungslehre von Hans Hörbiger (Welteislehre), zeigte Wessely, dass die Öffentlichkeit bei der Bewertung der Welteislehre nicht die Rolle eines unbeteiligten Dritten einnahm. Mit dem Anwachsen einer breiten Anhängerschaft in Laienkreisen, konnten Astronomen und Physikern die Welteislehre nicht länger ignorieren, sondern griffen diese nun als "Irrlehre" an. In dem anschließenden Vortrag stellte Leo die These auf, dass der kurzen Professionalisierungs- und Disziplinenbildungsphase der Graphologie im Nationalsozialismus eine vor allem durch die Öffentlichkeit forcierte Expansionsphase vorausging. So stieg die Graphologie in den 1920er Jahren durch öffentliche Nachfrage und mediale Präsenz in den Rang einer Wissenschaft auf. Beide Fälle (Welteislehre und Graphologie) zeigen den Einfluss der Öffentlichkeit auf die weitere Entwicklung und Bewertung eines Wissensgebietes. Verallgemeinerte Schlussfolgerungen auf den grundsätzlichen Beitrag der Öffentlichkeit auf die wissenschaftliche Disziplinenentwicklung sind jedoch problematisch, da es sich um Sonderfälle handelt. Nicht nur retrospektiv, sondern auch aus ihrer Zeit heraus blieb der wissenschaftlicher Status der beiden Wissensgebiete äußert strittig. Einen anders gelagerten Fall präsentierten hingegen Dietzsch und Kühn am Beispiel der Volkskunde. Zum einen ging es um ein etabliertes Wissensgebiet. Zum anderen war im Gegensatz zu Wessely und Leo die Öffentlichkeit weniger Akteur als Adressat einer Popularisierungs- und Legitimationsarbeit. Die Herstellung von öffentlicher Anerkennung der Volkskunde verfolgte dabei das Ziel weitere Ressourcen für die Volkskunde zur Verfügung zu stellen. Dietzsch erläuterte diese These am Atlas der deutschen Volkskunde ab 1928; Kühn an der Etablierung der Volkskunde in der DDR Anfang der 1950er Jahre.

In den Vorträgen von Sabine Freitag (Köln) und Monika Löscher (Wien) standen Vereine und Verbände als Mittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit im Zentrum des Interesses. Freitag stellte anhand der Kriminalitätsdiskurse britischer Reformgesellschaften die Grenzen wissenschaftlicher Deutungsmacht dar. Ob ein wissenschaftliches Deutungsangebot übernommen oder zurückgewiesen wurde, hing von der Praxisrelevanz des Wissens und normativen Selektionsmustern ab. Freitag wies in diesem Zusammenhang insbesondere auf die ausgeprägte und jahrhundertealte philanthropische Tradition des protestantischen Englands hin. In dem Vortrag von Löscher wurde das Verhältnis zwischen Eugenik und katholischen Milieus am Beispiel der St. Lukas Gilde in Österreich der 1930er Jahre vorgestellt. Die Übersetzung eugenischen Wissens ins religiöse Milieu geschah dabei vor dem Hintergrund eines katholischen Sittlichkeitsdiskurses, sodass katholische Tugenden mit eugenischen Werten gleichgesetzt wurden. Sowohl der von Freitag als auch von Löscher vorgestellte Fall verdeutlichte exemplarisch den Stellenwert von Organisationen als Orte des Wissenstransfers, in denen die Anschlussfähigkeit wissenschaftlichen Wissens an gesellschaftliche Semantiken erfolgt.

Die Abschlussdiskussion wurde eröffnet mit einem Kommentar von Mitchell Ash (Wien). In Ablehnung des eindirektionalen Modells der Popularisierung wissenschaftlichen Wissens, schlug er eine Historisierung und Pluralisierung der Gegenstände und Beziehungen vor. Zu unterschiedlichen Zeiten, aber auch innerhalb einer Zeit, gäbe es verschiedene Wissenschaften und Öffentlichkeiten, wobei sich wiederum vielfältige Wechselwirkungen zwischen ihnen beobachten ließen. Inwieweit die Bereiche Wissenschaft und Öffentlichkeit eine Ressource für einander darstellen und welche spezifischen Wechselwirkungen es gäbe, müsse dabei fallabhängig beantwortet werden. In methodologischer Hinsicht gelte es insbesondere den diffusen Öffentlichkeitsbegriff weiter zu präzisieren und der Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft noch mehr Aufmerksamkeit zu zuwenden.

Der Kommentar von Ash und die Abschlussdiskussion offenbarten das bestehende Spannungsverhältnis, das den gesamten Workshop durchzog: Es gilt einerseits ein Modell der Wissenskommunikation zurückzuweisen, dass die Mannigfaltigkeit der historischen Fälle in ein inadäquates Korsett sperrt. Andererseits soll ein neues Modell entwickelt werden, dass der empirischen Vielfalt der Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) gerecht wird. Das Modell der Wissenskommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit darf dabei einerseits nicht die Forschungsperspektive präformieren, andererseits soll es aber auch als heuristisches Vehikel die Bewertung und Einordnung des Materials in systematischer Perspektive ermöglichen. Auf die weiteren Ergebnisse der laufenden Forschungsprojekte des DFG Schwerpunktprogramms darf man insofern gespannt sein, als es ihnen gelingt eine sowohl empirisch offene als auch systematische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) zu liefern. Die Tagung war hierzu ein erster und wichtiger Schritt.

Anmerkungen:
1 Das angekündigte und in dieser Form realisierte Tagungsprogramm findet sich unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=3472.
2 Homepage des SPP: http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche/wige/dfg/index.htm. Siehe auch die Förderinitiative "Wissen für Entscheidungsprozesse", die das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vornehmlich vor dem Hintergrund heutiger Entwicklungen untersucht: http://www.sciencepolicystudies.de.
3 Siehe Daum, Andreas, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit. 1848-1914, München 1998.

http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche/wige/dfg/index.htm
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