Gemeinschaft und Gemeinsinn im 19. Jahrhundert: Vereine, Netzwerke, Stifter, Mäzene

Gemeinschaft und Gemeinsinn im 19. Jahrhundert: Vereine, Netzwerke, Stifter, Mäzene

Organisatoren
Institut für Regional- und Sozialgeschichte der Universität Bremen
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.06.2002 - 08.06.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Rudolf Bauer, Bremen

Das im Gästehaus der Universität Bremen veranstaltete Kolloquium sollte - so formulierte das Tagungsprogramm die Erwartung der Veranstalter/innen - dazu dienen, "eine Gelegenheit zum Austausch über Forschungsschwerpunkte zur bürgerlichen Gemeinschaftsbildung zu bieten". Dieses Ziel wurde ohne Zweifel erreicht: Am ersten Tag des Kolloquiums, das unter der fachkundigen Leitung von Dr. Eva Schöck-Quinteros stand, referierten Wissenschaftler/innen aus Bremen über vorwiegend bremische Themen, während am zweiten Tag die Gäste von auswärts mit Beiträgen zu Wort kamen, in denen ausserbremische Befunde vorgestellt wurden. So ergab sich hinreichend Gelegenheit zum Kennenlernen und wissenschaftlichen Austausch sowohl unter den Bremer Teilnehmer/inne/n als auch zwischen diesen und den Gästen von auswärts.

Im Einführungs- und Begrüßungsreferat unterstrich Dr. Franklin Kopitzsch (Professor der Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit) das zentrale Anliegen der Begegnung und des Austausches während der zweitägigen Veranstaltung. Zugleich verwies Kopitzsch auf die gegenwärtigen Diskurse über Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement sowie auf die daraus resultierende gesellschaftspolitische Aktualität des geschichtswissenschaftlich bearbeiteten Forschungsthemas.

Die ungewöhnlich große Zahl von rund vierzig interessierten Teilnehmer/inne/n war ein sichtbarer Beweis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Zielsetzung des veranstaltenden Instituts für Regional- und Sozialgeschichte an der Universität Bremen. Dessen an die Workshop-Tagung gerichteten Erwartungen wurden auch durch die regen Debatten eingelöst, die im Anschluss an die vorgetragenen Forschungsberichte stattfanden und eine Vertiefung des Vorgetragenen erlaubten.

Sylvelin Wissmann eröffnete den ersten Teil der Tagung mit einem Beitrag, in dem sie unter dem Obertitel "Lindern und Verhindern" verschiedene "Aspekte der über Vereine praktizierten Wohltätigkeit in Bremen zwischen 1814 und 1850" vorstellte. Mit ihren, als Zwischenergebnis aus einem Forschungsvorhaben gewonnen Erkenntnissen vermittelte die Referentin einen ersten, teilweise etwas unsystematischen und in theoretischer Hinsicht noch zu vertiefenden Ein- und Überblick zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der - ihrem Charakter nach insbesondere bürgerlichen und zugleich weiblich dominierten - bremischen Privatwohltätigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frau Wissmann berührte dabei unterschiedliche Fragen: solche der Motivation bei den Akteur/inn/en ebenso wie solche hinsichtlich ihrer Verflechtung mit Institutionen und anderen Personen sowie bezüglich der Zwecksetzung und Wirksamkeit der neu gegründeten Vereine.

Das politisch-diplomatische, also öffentlich-hoheitliche Gegenstück zur weiblichen Privatwohltätigkeit -- ihr "männliches Pendant" gewissermaßen -- stellte Nicola Wurthmann vor. Sie demonstrierte am Beispiel des bremischen Senators Johann Smidt (1773-1857), mit welchem Geschick dieser es verstanden hatte, beim Wiener Kongress im Interesse der Hansestadt ein informelles Netzwerk aufzubauen, durch das er staatsmännisches Ansehen, vertrauliche Nachrichten und politischen Einfluss erlangte. Dass den Hanseaten von der Weser bei seinen Gesprächen "mit kundigen Männern aus ganz Europa" (Smidt) auch seine nach Wien mitgebrachte Gattin und die gemeinsame heiratsfähige Tochter unterstützten, verdient nicht unerwähnt zu sein.

Franz Schütte (1836-1911) ist eine weitere Bremer Persönlichkeit, aus deren Lebenslauf jene sozialökonomische Ligatur ersichtlich wird, die sich zur Zeit der Entstehung des modernen Bürgertums in der Verbindung von kluger Heiratspolitik, der Übernahme öffentlicher Ämter, dem Engagement bei Vereinen und Stiftungen sowie kaufmännischem Kalkül und einer gewissen, damit verbundenen unternehmerischen Waghalsigkeit zeigte. Letztere bewies der Bremer "Ölbaron und Kunstmäzen", wie der Beitrag des Schütte-Biografen Dieter Fricke eindrucksvoll belegte, zunächst im damals von honorigen Handelshäusern als "feuergefährlich und widerwärtig" abgelehnten Erdölhandel, ferner auch durch seine Beteiligung bei zahlreichen Firmengründungen sowie im Immobilienhandel.

Einen weiterer Aspekt der hansestädtischen politischen Kultur und des Selbstverständnisses der Bremer Bürger im 19. Jahrhundert beleuchtete Wiebke Hoffmann. Sie berichtete über erste Ergebnisse einer Studie zur Auswertung von Korrespondenzen zwischen Kaufleuten aus Bremen und ihren in New York tätigen Angehörigen oder Geschäftsfreunden. In den Briefen werden verschiedene Details des Zusammenspiels im Zweigestirn von "Wohltätigkeit und Wohlverhalten" erkennbar. Hoffmanns Untersuchung soll fortgesetzt werden und neu aufgefundenes Briefmaterial bis zur Zeit um 1930 einbeziehen.

Den Schritt ins 20. Jahrhundert hinein vollzog Eva Schöck-Quinteros mit einem Beitrag unter dem Titel "Margeriten oder rote Nelken". Das scheinbar blumig ansprechende Thema verweist in seinem Kern auf eine zentrale politische Streitfrage des späten Kaiserreiches (deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen dürften): nämlich auf die politische Kontroverse in der Frage der Mittelbeschaffung für die private Wohltätigkeit. Der Konflikt spitzte sich um 1910/11 zu in der Auseinandersetzung zwischen einerseits der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, als deren Symbol die rote Nelke gilt, und der bürgerlichen Frauenbewegung andererseits, deren Sammlerinnen sich bei den Spendern mit weißen Margeriten (oder Kornblumen) bedankten.

Die in der breiten Öffentlichkeit geführte Kritik an den als Blumentage bezeichneten Spendensammel-Kampagnen galt einem, wie Schöck-Quinteros formulierte, "Event" zur spektakulären "Inszenierung der Wohltätigkeit" für Säuglingsheime und notleidende Mütter. Ein Teil der Gegner der Blumentage erhob sozialreformerische Forderungen nach staatlicher Finanzierung der Hilfemaßnahmen für die Bedürftigen. Ein anderer Teil engagierte sich politisch für eine sozialistische Arbeits- und Gesellschaftsordnung mit dem Ziel, die sozioökonomischen Bedingungen von Mütter- und Kinderarmut zu beseitigen.

Mütter (bzw. "Ersatzmütter") waren auch Thema des Beitrags von Ines Wiebersiek zur "Kultur- und Sozialgeschichte der Amme im 18. und 19. Jahrhundert". Die Bedeutung des Ammenwesens wurde in der sozialgeschichtlichen Forschung bisher kaum beachtet, obwohl beispielsweise um 1750 in Hamburg bei einer Gesamtbevölkerung von 90.000 Einwohnern 4.000 bis 5.000 Frauen als Still- oder Säugammen tätig waren, und zwar nicht nur in den bürgerlichen Familien, sondern auch bei den weniger begüterten Bevölkerungsgruppen der Städte, ferner in Hospitälern sowie in Findel- und Waisenhäusern.

Am zweiten Tag des Bremer sozialgeschichtlichen Kolloquiums befasste sich Rita Huber-Sperl, München, mit dem Thema "Frauen und organisierte Wohltätigkeit". Im Zusammenhang des im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert einsetzenden Entwicklungsprozesses begannen bürgerliche Frauen sich der Rechtsform des Vereins im Sinne eines Organisations- und Handlungsinstruments zu bedienen. Für Frau Huber-Sperl ergibt sich daraus die Frage nach neuen Handlungsmustern und einem neuen Verständnis der weiblichen Geschlechterrolle. Ihre Studie, deren Ergebnisse noch nicht in abgeschlossener Form vorliegen, verspricht interessante Erkenntnisse, zumal Rita Huber-Sperl in Aussicht gestellt hat, die Untersuchung um einen Vergleich zwischen der deutschen und der französischen Entwicklung der organisierten Wohltätigkeit von bürgerlichen Frauen ergänzen zu wollen.

Die Früchte transnational vergleichender historischer Untersuchungen bereicherten auf beeindruckende Weise den Bericht über "Internationale jüdische Hilfsorganisationen 1860-1914". Der Historiker Eli Bar-Chen, München, konnte nachweisen, dass die 1860 von französischen Juden zur Unterstützung ihrer Glaubensgenossen im Ausland (u. a. beispielsweise in Marokko) gegründete Hilfsorganisation -- ebenso wie die mit gleicher Zielsetzung 1871 in London und 1901 in Deutschland entstandenen Vereinigungen -- eine großzügige Förderung seitens der nationalen Regierungen in den jeweiligen Gründungsländern erfahren haben. Das erklärt, warum beispielsweise die französischsprachigen Bildungseinrichtungen der jüdischen "Alliance" in Marokko 1914 von 43.000 Schülern besucht werden konnten.

Die regierungsseitige Unterstützung für die jüdischen Hilfsorganisationen im Ausland erfolgte allerdings nicht aus selbstlosen Motiven, wie Eli Bar-Chen nachweisen konnte. Im Fall der französisch-jüdischen Hilfsorganisation "Alliance" dienten die mit ihren finanziellen Mitteln errichteten und unterhaltenen Schulen zur Unterrichtung jüdischer Kinder vor allem der Verbreitung der französischen Sprache und des französischen Erziehungssystems. Letztlich also sahen die nationalen Regierungen - auch die britische und die deutsche -- in "ihren" internationalen jüdischen Hilfsorganisationen ein Instrument zur (nicht nur) kulturellen Kolonialisierung in den jeweiligen Zielländern. Die als Verein institutionalisierten Hilfsorganisationen, so Bar-Chem, diente den Juden im Ausland als ein "Kommunikationsmittel" und ihren nationalen Regierungen als "Instrument zur Verbreitung der westlichen Kultur".

Die folgenden Beiträge am zweiten Tag des Kolloqiums fokussierten abermals auf die Verhältnisse innerhalb Deutschlands im 19. Jahrhundert. Zunächst stellte Kerstin Wolf, Kassel, die von ihr erhobenen Forschungsergebnisse über "Das Siechenhaus in Harburg" sowie eine Reihe weiterführender Überlegungen zur Diskussion. Die Bedeutsamkeit der Wolf'schen Untersuchung resultiert daraus, dass zum einen aufgezeigt wurde, wie eine aus der Privatwohltätigkeit des Harburger Frauenvereins heraus entstandene Einrichtung nach einem Jahrzehnt erfolgreichen Engagements zur "städtischen Institution" wurde. Zum anderen stellte Frau Wolf die grundsätzliche, von der Forschung bisher aber kaum untersuchte Frage, "ob der Terminus der privaten Wohltätigkeit in Abgrenzung zur öffentlichen Wohltätigkeit nicht ... Setzungen transportiert, die der Realität im späten 19. Jahrhundert nicht gerecht werden".

"Selbstverwaltung, Selbsthilfe und Kontrolle" lautete das Thema des Beitrags von Dirk Riesener, Hannover. Sein Untersuchungsgegenstand waren - wie der Untertitel des Referats besagte - "Hannoversche Vereine 1840-1866 unter der Überwachung durch die Königliche Polizei". Das Fazit seiner vorwiegend auf Hannoveraner Polizeiakten gestützten Forschung lautet: "Nach der Zerstörung bzw. Domestizierung des frühen Arbeitervereinswesens wandte die Polizei Repressalien verstärkt auch gegen die Assoziationen der liberal-bürgerlichen Selbstverwaltung an. Das politische Ziel der Polizei war es, die gesamte Sozialfürsorge in ein obrigkeitsstaatliches Kontroll- und Disziplinierungssystem zu verwandeln, sofern es nicht durch seine Nähe zum Hof oder der protestantischen Orthodoxie unverdächtig und ... unangreifbar war".

Im 19. Jahrhundert (wie auch heute noch) spielten auf dem Gebiet der bürgerlichen Wohltätigkeit neben den assoziativen Vereinen auch Stiftungen eine wichtige Rolle. Diese wurden in den Beiträgen von Sabine Graf, Stade, und Frank Hatje, Hamburg, thematisiert. Letzterer beleuchtete am Beispiel der "Konjunkturen" von privaten karitativen Stiftungen in Hamburg verschiedene Aspekte der Stiftungspraxis in der städtischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: die Motive der Stifter, deren soziale und ökonomische Verankerung sowie die Praktiken der Gemeinschaftsbildung im Rahmen von Stiftungen.

Während Hatje das Thema "Stiftung, Stadt und Bürgertum" am Beispiel Hamburgs abhandelte, illustrierte Sabine Graf die ländlichen Dimensionen des Stiftungswesens und der Legate für mildtätige Zwecke. Anliegen ihrer Forschungen ist es, anhand von Beispielen aus dem Elbe-Weser-Raum das Verhältnis zwischen privaten Armenstiftungen und öffentlichen bzw. kirchlichen Armenkassen zu beleuchten, die Motive der Stiftenden unter Berücksichtigung externer Faktoren zu beschreiben, der sozialen Herkunft und Stellung von Wohltätern und Wohltäterinnen nachzugehen und schließlich nach den Zielgruppen der Stiftungstätigkeit zu fragen.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Stephen Pielhoff, Wuppertal. Pielhoff befasste sich unter dem Titel "Gabentausch und Anerkennung" mit Interpretationen des wohltätigen und mäzenatischen Handelns im 19. Jahrhundert. Dabei wandte er sich kritisch gegen den handlungs- und modernisierungstheoretischen Ansatz, der das Schenken als teleologischen und rationalen Akt im Sinne der Logik ökonomischer Verteilungskämpfe interpretiert. Statt dessen seien Wohltätigkeit und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert als traditional überlieferte Handlungsmuster zu deuten, die den Gabentausch im Sinne einer vormodernen, von Konflikten um gegenseitige Anerkennung bzw. Missachtung geprägten Logik der symbolischen Inszenierung und Identitätskonstruktion verstehen. Pielhoff belegte seinen theoretischen Ansatz mit einer Reihe von empirischen Beispielen aus den Städten Hamburg, Münster und Dortmund im 19. Jahrhundert.

In der Diskussion wurde von den Teilnehmer/inne/n des Kolloquiums hervorgehoben, dass die geschichtswissenschaftliche Untersuchung historischer Beispiele von Wohltätigkeit, Mäzenatentum und Philanthropie nicht zuletzt deshalb besonders verdienstvoll ist, weil sie einen klärenden Beitrag zu leisten vermag angesichts der begrifflichen Verwirrung in den aktuellen Diskursen über Freiwilligkeit und bürgerschaftliches Engagement. Gemeinsinn sei außerdem "kein 'deus ex machina'" (Pielhoff), sondern an gesellschaftliche Voraussetzungen geknüpft, über die es noch weitaus mehr in Erfahrung zu bringen gelte, als es gegenwärtig der Fall ist. Für die zukünftige Forschungsagenda ist es deshalb einerseits wichtig, die Untersuchungen zum 19. Jahrhundert mit Nachdruck fortzusetzen, aber auch zu ergänzen um weitere Studien über die zahlreichen Ansätze der genossenschaftlichen und der Arbeiterselbsthilfe. Andererseits sollten die Fragestellungen der Tagung auch auf die Entwicklungen im 20. Jahrhundert ausgedehnt werden.

Rudolph Bauer, Bremen
<rubauer@uni-bremen.de>


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