Historische Graffiti als Quellen. Methoden und Perspektiven eines jungen Forschungsbereichs

Historische Graffiti als Quellen. Methoden und Perspektiven eines jungen Forschungsbereichs

Organisatoren
Polly Lohmann, Institut für Klassische Archäologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.04.2017 - 22.04.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Wozniak, Fachbereich Geschichtswissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen

Graffiti als Formen von Inschriften, die auf nicht dafür vorgesehenen Flächen angebracht wurden, bilden eine der umfangreichsten Quellengruppen der Geschichtswissenschaft überhaupt. Trotzdem ist der Zugriff auf diese Zeugnisse je nach Epoche höchst unterschiedlich. Während sich die internationale Forschung, besonders die englische, französische und italienische, seit Jahren den Graffiti als Quelle zuwendet, ist der Zugang aus deutschsprachiger Perspektive bislang eher punktuell. Da es aber mittlerweile doch eine gewisse Zahl interessierter Forscher der unterschiedlichen Geschichtsepochen gibt, sollte die Konferenz in München besonders der Vernetzung und epochenübergreifenden Diskussion von Methoden und Perspektiven der deutschsprachigen Graffiti-Forschung dienen.

In der ersten Sektion, die von Stefan Ritter (München) geleitet wurde und den antiken Graffiti gewidmet war, hob JULIA PREISIGKE (München) hervor, dass eines der Probleme bei Graffiti die ungenaue Datierung ist. Einerseits scheinen in Theben viele Tempelgraffiti von der Priesterschaft im Rahmen von Ritualen eingeritzt worden zu sein, auch fanden sich an einem Tor, an dem noch Rauchspuren stierförmiger Räucheraltäre zu erkennen sind, Graffiti solcher Altäre. Andererseits scheinen Graffiti an solchen heiligen Orten angebracht worden zu sein, die nicht mehr als solche aktiv waren.

In seinem Vortrag zeigte ANGELOS CHANIOTIS (Princeton) ausgewählte Beispiele der mehr als 2.000 bekannten, überwiegend griechischsprachigen Graffiti aus Aphrodisias, mit deren Edition und Publikation er seit 1995 beschäftigt ist. Neben den 500 Graffiti im Theater und zahlreichen Tiergraffiti, ging er auch auf randständige Graffitimotive ein, wie Spielbretter, Platzreservierungen der Händler, Gebete, religiöse Symbole (Menora) oder Phallusdarstellungen. Er betonte, dass Graffiti nur unter bestimmten Lichtverhältnissen überhaupt sichtbar sind.

POLLY LOHMANN (München / Heidelberg) hob hervor, dass, obwohl aus Pompeji 5.600 Graffiti (CIL IV) bekannt sind, diese bisher sehr selektiv erforscht wurden. Nur bei rund zehn der ausgegrabenen Häuser sind die Graffiti aufgrund schützender Dächer noch in situ erhalten. Während die erotischen Graffiti überproportional stark wahrgenommen wurden, umfasst deren tatsächlicher Anteil nur etwa fünf Prozent. Demgegenüber dominieren Namen und Nachrichten. Viele der Graffiti interagieren mit bereits Vorhandenem: sie kommentieren und kopieren andere Graffiti, nutzen vorhandene Wanddekorationen als Vorlage oder wurden bewusst in diese integriert.

Im öffentlichen Abendvortrag von STEFAN RITTER (München) wurde eine Kneipenszene in vier Bildern aus Pompeji im Detail vorgestellt, die unter den bekannten römischen Wandbildern keine direkten Parallelen haben; den Szenen beigefügte Dialoge sind entweder als Dipinti (zugehörige Bildbeischriften) oder Graffiti (sekundäre Kommentare) zu verstehen.. Die Bilder stellen wohl typische Verhaltensweisen in Kneipen dar – ob zur Illustration und Belustigung oder zur Warnung.

Von den beeindruckenden neuen Befunden zu den über 500 Graffiti aus den überdachten Grabungen in Hanghaus 2 in Ephesos, das im Jahr 202 einem Erdbeben zum Opfer gefallen war, berichtete HANS TAEUBER (Wien) in seinem Vortrag. Er betonte, dass die Graffiti gehäuft an verschiedenen Orten auftreten und häufig Dinge aus der unmittelbaren Umgebung reflektieren. Neben 30 erhaltenen „Ausgabelisten“ ging er auf die sogenannte Zahlenrätsel ein und zeigte Möglichkeiten auf, aus der Zahl „666“ (Offb. 13,18) einen konkreten Namen zu berechnen.

Von den Graffiti, die in der Nähe des Gipfels des 1.059 Meter hohen Magdalensberg in Südnoricum gefunden und dokumentiert worden waren, berichtete KORDULA GOSTENČNIK (Wien). Der natürliche Mangangehalt des Eisens aus dem nahen Görschitztal ermöglichte die Herstellung des in der Antike beliebten ferrum noricum, weshalb es nicht verwundert, dass hier 300 Händlergraffiti gefunden wurden, von denen aber keines mehr im Original erhalten werden konnte. Die erhaltenen Fotografien der mehr als 20 Jahre dauernden Grabungen ab 1948 bestätigen die Dokumentation des Corpus von Rudolf Egger, so die Referentin.

In der zweiten Sektion zu den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Graffiti, die von Christine Steininger (München) geleitet wurde, stellte ULRIKE HECKNER (Pulheim-Brauweiler) eine durch eine besondere Baugeschichte überlieferte Ansammlung spätmittelalterlicher Graffiti auf einer Außenwand des Kirchenschiffs der ehemaligen Klosterkirche St. Katharina in Wenau vor, die seit dem 15. Jahrhundert durch das Kirchendach geschützt sind. Auf einem zweilagigen romanischen Kalkputz wurden vier Motive von Graffiti in größerer Zahl eingeritzt: 42 Hämmer in Originalgröße in unterschiedlichen Formen, Rosetten, Pentagramme und ein Wappen sowie eine wenig repräsentativ ausgeführte Bauinschrift.

Anschließend stellte ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Graz) heraus, dass Graffiti bei bisherigen Editionsprojekten von Inschriften allzu oft als ephemere Form des Schreibens übersehen oder als Form von Vandalismus betrachtet wurden. Gerade bei „Hic fuit …“-Graffiti geben die beigeordneten Angaben oft Auskünfte über die soziale und geographische Herkunft des Anbringenden. Vormoderne Graffitischreiber scheinen nur ein gebildeter Ausschnitt der Bevölkerung zu sein, weshalb die Graffiti nur wenig zur Frage der Schriftlichkeit einer Gesellschaft sagen können. Auffällig ist die Beobachtung, dass selbst in Nonnenklöstern kaum Graffiti von Frauenhand vorkommen, wie Schmitz-Esser erläuterte.

Auf ein ehemaliges Nonnenkloster bezog sich THOMAS WOZNIAK (Tübingen), indem er Neufunde aus der seit Frühjahr 2016 wieder begehbaren Krypta der ehemaligen Marienkirche auf dem Münzenberg in Quedlinburg vorstellte. Ein Teil der dortigen Kryptenbögen war nach der Reformation zugemauert worden und so konnten sich größere Putzflächen aus dem Spätmittelalter erhalten. Darauf fand sich neben mehreren Pentagrammen und Inschriften auch die Darstellung eines Ritters, der aufgrund seiner Bewaffnung (Nasalhelm, Kettenpanzer, Normannenschild) ins 11./12. Jahrhundert datiert werden kann.

Dass Graffiti als Quellenmaterial ernst zu nehmen sind, zeigte überzeugend SIMON DIETRICH (Marburg) anhand der über 1.300 Graffiti der Marburger Elisabethkirche. Ein großer Teil ist auf der Südseite, am ehemaligen Friedhof, angebracht, viele finden sich auch auf den Grabsteinen der hessischen Landgrafen. Die 400 ältesten Graffiti, die ins Spätmittelalter datieren, befinden sich in der Sakristei auf einer Wand gegenüber dem Elisabethschrein. Anhand dieser Beispiele können Aussagen zur Elisabethwallfahrt nach Marburg, zur Positionierung von Kirchenmobiliar wie auch zur Universitätsgeschichte gemacht werden.

In seinem Vortrag stellte DETLEV KRAACK (Berlin/Plön) Graffiti mit Namen und Wappen vor, die er in den 1990er-Jahren in Ägypten und Israel dokumentiert hatte. Er beschrieb ein Statussystem der Ehre, bei der Adelige heilige Stätten, als Orte adeliger Exklusivität besuchten und dort Wappen und Namen, auf Pergamentblättern und in den Stein geritzt, hinterließen. Bereits der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri übte in den 1480er-Jahren an dieser Praxis Kritik, da der Pilgerbetrieb durch die Adeligen gestört werde. Zum Mittel des Graffito wurde anscheinend überwiegend dann gegriffen, wenn andere Möglichkeiten der Verewigung nicht vorhanden waren.

ULRIKE GÖTZ (München/Freising) stellte Schülergraffiti aus dem Karzer der ehemaligen bischöflichen Hochschule in Freising vor. Dieser befand sich – anders als die bekannten Beispiele in Heidelberg, Marburg oder Greifswald – auf einem Dachboden. Besonders Hinrichtungsinstrumente wie Galgen scheinen ein Charakteristikum von Schülergraffiti zu sein. Am Beispiel des Anton Lang, eines begabten, aber unbeliebten Schülers, dessen Initialen von Mitschülern nachträglich quasi an den Galgen gehängt wurden, wurde gezeigt, wie Graffiti miteinander korrespondieren können.

Die dritte Sektion widmete sich unter der Leitung von Irmgard Fees (München) den neuzeitlichen Graffiti. Dabei stellte DANIEL SCHULZ (Zug) die über 1.000 Graffiti aus Schloss Ludwigsburg vor, das zwischen 1703 und 1733 errichtet wurde. Jeweils etwa ein Drittel stammt aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Das erste datierte Graffito ist aus dem Jahr 1716 überliefert. Viele der Graffiti weisen Bezüge zu anderen Schmuckformen in den Räumen auf, andere zeigen apotropäische Symbole wie Drudenfüße oder Labyrinthe. Zahlreich sind in Ludwigsburg auch die Funde in den Zwischenböden, von denen besonders die 20 mumifizierten Katzen bemerkenswert sind.

ANDREAS EFFLAND (Göttingen) führte in seinem Vortrag den Zug der napoleonischen Armee nach Ägypten von 1798 bis 1801 im Detail vor Augen und zeigte dessen bis heute sichtbare Auswirkungen in Form zahlreicher neuzeitlicher Graffiti an den antiken Bauwerken. Von den 38.000 Soldaten sind 110 namentlich über ihre Graffiti, die sie teilweise an verschiedenen Orten in ähnlicher Form hinterließen, bekannt.

Die beiden letzten Vorträge wurden als öffentliche Vorträge vor einem größeren Publikum gehalten. Sehr bewegend waren die Zeugnisse aus dem EL-DE-Haus in Köln, die WERNER JUNG (Köln) präsentierte. Das 1935 errichtete Haus war trotz der großflächigen Bombardierungen der Stadt unzerstört geblieben und die von der Gestapo als Gefängnis genutzten Keller fanden bis Ende der 1970er-Jahre als Aktenkeller Verwendung, ohne dass sie neu gestrichen wurden. Auf der Schicht des letzten Anstrichs von 1943 finden sich über 1.000 Häftlingsgraffiti, davon über 500 in kyrillischer Schrift, die von den unmenschlichen Zuständen in den Räumen des Gestapo-Gefängnis Zeugnis ablegen. Teilweise in Form von Abschiedsbriefen und Abstreichkalendern führen sie die Verzweiflung der Betroffenen vor Augen.

UTA FISCHER (Berlin) zeigte Beispiele von Graffiti aus dem Ghetto Theresienstadt, das zwischen 1780 und 1790 als Garnisonsstadt für etwa 3.500 Einwohner errichtet worden und 1942 mit 59.000 Lagerhäftlingen überbelegt war. Viele Graffiti fanden sich in einem lange Zeit verschlossenen Tordurchgang der Garnisonsmauer, andere auf Dachböden. Gerade die öffentlich zugänglichen historischen Graffiti können oft nur durch umfangreiche Dokumentationsmaßnahmen vor rezenten anthropogenen wie umweltbedingten Zerstörungen bewahrt werden.

Die Abschlussdiskussion, die sehr konstruktiv und lebhaft war, konnte leider nicht mehr von allen Teilnehmern begleitet werden. Die Klärung der Definition von Graffiti wurde anhand verschiedener Gegenüberstellungen (spontan/geplant, abtragend/auftragend, geduldet/heimlich), aber auch in Bezug auf Kontext und Produktionsbedingungen diskutiert. Dass Graffiti – als Inschriften/Grafiken auf ursprünglich dafür nicht vorgesehenen Oberflächen – eine Quellengruppe mit weitreichenden Interpretations- und Erkenntnismöglichkeiten sind, steht nicht erst nach dieser epochenübergreifenden Tagung außer Frage.

Konferenzübersicht:

Polly Lohmann (Heidelberg/München): Begrüßung

1. Sektion: Antike Graffiti

Julia Preisigke (München): Graffiti an ägyptischen Tempeln: Quellen für den Zugang der Bevölkerung zu den Tempeln und das Problem ihrer Datierung
Angelos Chaniotis (Princeton): Die Graffiti von Aphrodisias: Ein Überblick
Polly Lohmann (München/Heidelberg): Römisches Alltagsleben im Spiegel der pompejanischen Graffiti
Stefan Ritter (München): Belebte Bilder: Dialogische Graffiti in pompejanischen „Kneipenszenen“ (Öffentlicher Abendvortrag)
Hans Taeuber (Wien): Das tägliche Leben in Ephesos anhand der Graffiti im Hanghaus 2
Kordula Gostencnik (Wien): Die Händlergraffiti aus der Stadt auf dem Magdalensberg

2. Sektion: Mittelalterliche und frühneuzeitliche Graffiti

Ulrike Heckner (Pulheim-Brauweiler): Spätgotische Handwerkergraffiti in der ehemaligen Klosterkirche St. Katharina in Wenau (Kreis Düren)
Romedio Schmitz-Esser (Graz): Graffiti als Quellen zur Sozialgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit am Beispiel Tirols
Thomas Wozniak (Tübingen): Die Graffiti der ehemaligen Marienkirche auf dem Münzenberg in Quedlinburg
Simon Dietrich (Marburg): Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Graffiti in der Marburger Elisabethkirche – Befund, methodische Herausforderungen und Quellenwert
Detlev Kraack (Berlin/Plön): Adelige auf Reisen: Graffiti des 14.–16. Jahrhunderts
Ulrike Götz (München/Freising): „Nomina stultorum…” – Graffiti des 18. Jahrhunderts im Karzer der ehemaligen bischöflichen Hochschule in Freising

3. Sektion: Neuzeitliche Graffiti

Daniel Schulz (Zug): Sprechende Wände: Graffiti aus dem Schloss Ludwigsburg
Andreas Effland (Göttingen): „Alle Namen auf diesem Heiligtum sind französisch” – Graffiti der napoleonischen Orientarmee in Ägypten

Öffentliche Vorträge

Werner Jung (Köln): Zeugnisse der Opfer: Häftlingsgraffiti im Kölner Gestapogefängnis
Uta Fischer (Berlin): „O Wanze, o Wanze, o unheimliches Biest“ – Graffiti aus dem Ghetto Theresienstadt

Abschlussdiskussion

Ulrike Grambitter (München): Führung zu den Graffiti (überwiegend US-amerikanischer Wachsoldaten) im Keller des Hauses der Kulturinstitute, dem ehemaligen Verwaltungsbau der NSDAP


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