Migration – Kulturtransfer – Erinnerungskultur. Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V.

Migration – Kulturtransfer – Erinnerungskultur. Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V.

Organisatoren
Brauweiler Kreis für Landes- und Zeitgeschichte e.V.
Ort
Duisburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.03.2017 - 10.03.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Agnes Weichselgärtner, Bocholt

Wirft man einen Blick in die Medienberichterstattung, so wird deutlich, dass die derzeitige globale politische Lage Migration zu einem allgegenwärtigen Thema gemacht hat. Dabei lässt insbesondere die große Anzahl flüchtender Menschen in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck entstehen, die Ursache von Migration sei allein in der Flucht vor Krieg und Verfolgung zu suchen. Gleichzeitig empfinden viele Menschen den großen Zustrom von Flüchtenden als eine spezielle Herausforderung der Gegenwart und zum Teil auch als Bedrohung. Eine Emotionalisierung der Debatte über Flucht und Einwanderung ist die Folge. Tatsächlich verzerrt diese Sicht auf Migration aber historische Tatsachen: Migration gehört seit jeher zur Geschichte der Menschheit, Menschen migrieren aus den verschiedensten Gründen. Die Flucht vor lebensbedrohenden Umständen ist hierbei sicherlich der drängendste, aber nicht der einzige Grund. So gehörte in Deutschland beispielsweise auch das Anwerben von ausländischen Arbeitskräften oder der Zuzug von Menschen aus den ehemaligen Ostprovinzen zum Phänomen Migration. Die Tagung des Brauweiler Kreises hatte zum Ziel, eingeschränkte Denk- und Interpretationsmuster zu durchbrechen, Träger und Akteure von Migration zu benennen und zugleich nach Konzepten einer Migrationsgeschichte zu fragen. Im Mittelpunkt stand dabei der Blick auf interkulturelle Beziehungen, Kulturtransfers und gesellschaftliche Veränderungen.

Zum Auftakt der Tagung begrüßten FRANK BISCHOFF (Duisburg), MARTINA WIECH (Duisburg) und SABINE MECKING (Duisburg) die Anwesenden und führten in das Thema der Veranstaltung ein.

In dem anschließenden öffentlichen Abendvortrag stellte CHRISTOPH RASS (Osnabrück) Fragen nach dem Umgang mit Migration und nach ihrer öffentlichen Wahrnehmung. Rass konzentrierte sich hierbei auf die sogenannten „Gastarbeiter“, die seit Mitte der 1950er-Jahre vor allem aus Südeuropa angeworben worden waren, um den Arbeitskräftemangel in der BRD zu beheben. Bereits der Begriff „Gastarbeiter“ verweist auf die gängige Sichtweise, dass die betreffenden Menschen ohne Option auf Verbleib und Zugehörigkeit nach Deutschland migrierten. Diese Kategorisierung blieb oftmals über Jahre und Generationen hinweg bestehen. Gleichzeitig werden andere Migrationsbewegungen wie die „Ostsiedlung“ nicht als solche bezeichnet. Das wirft die (provokante) Frage auf, welchem Herkunftsland und welchem sozialen Horizont ein Mensch entstammen muss, um als Migrant bezeichnet zu werden, und ob es sich hierbei um einen wertenden Begriff handelt. Rass betonte die Wichtigkeit, gängige Sichtweisen aufzubrechen und dafür zu sensibilisieren, dass der größte Teil der Menschen einen wie auch immer erfahrenen Migrationshintergrund hat.

Die Moderation der Vormittagssektion übernahm SABINE MECKING (Duisburg). MARGRIT SCHULTE BEERBÜHL (Düsseldorf) informierte in ihrem Vortrag über die Geschichte der italienischen Eiskrem-Verkäufer in Deutschland. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Eis zu einem beliebten Massenkonsumgut. Die Straßenverkäufer stammten zum großen Teil aus der norditalienischen Region Veneto, von wo Ende des 19. Jahrhunderts ca. 1,2 Millionen Italiener nach Deutschland ausgewandert waren. Dabei handelte es sich vor allem um ein saisonales Migrationsverhalten, sowohl was die Bewegung innerhalb Deutschlands anging, als auch was die Rückreise nach Italien in den Wintermonaten betraf. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs boomten die Eisdielen, die die Italiensehnsucht der Deutschen mit der aufkommenden Populärkultur des Rock’n’Roll verbanden. Gleichermaßen interessant für Familien, Kinder und Jugendliche, waren sie keine Orte der Rebellion, sondern vielmehr des friedlichen Nebeneinanders der Generationen. Inwiefern das grundsätzlich auf Eisdielen zutraf oder ob diese insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren auch zum Treffpunkt revoltierender Jugendlicher werden konnten, blieb in der anschließenden Diskussion offen.

Der folgende Vortrag von STEFAN GOCH (Gelsenkirchen) hatte zum Ziel, anhand des Beispiels Gelsenkirchen zu fragen, was Migration für die Entwicklung einer Stadt bedeuten kann. Dazu stellte Goch anhand zahlreicher Statistiken die soziale und wirtschaftliche Struktur Gelsenkirchens dar und analysierte diese. Gerade für den südlichen Bereich der Stadt mit einem hohen Ausländeranteil wurden die gegenwärtigen Desiderate deutlich. Armut und schlechtere Bildungschancen für Kinder mit Migrationshintergrund bergen gleichzeitig großes Problempotenzial für die Zukunft. Insbesondere die Frage danach, wie es gelingen kann, in dieser hochdifferenzierten Gesellschaft zusammenzufinden, und die dringende Forderung nach einer neuen Wertediskussion waren dem Referenten ein Anliegen.

Wie Gelsenkirchen ist Dortmund ebenfalls eine Stadt, die einen hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund hat. STEFAN MÜHLHOFER (Dortmund) stellte die Entwicklung des zunächst kleinen Ortes (1816: ca. 4.400 Einwohner) hin zu der heutigen Großstadt dar. Die Stadt erlebte drei große Zuwanderungswellen zunächst im ausgehenden 19. Jahrhundert durch den Zuzug von Arbeitskräften, dann nach dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus den ehemaligen Ostprovinzen und Displaced Persons (DPs) und schließlich in den 1960er-Jahren im Zuge der Anwerbung von „Gastarbeitern“. Trotz dieser langen Migrationsgeschichte der Stadt blieb eine erfolgreiche Integration der Zuwanderer jedoch aus, was sich bis heute vor allem in der Benachteiligung der Kinder im Bildungsbereich und in der Ghettoisierung bestimmter Wohnbezirke zeigt. Auch eine adäquate Erforschung der städtischen Zuwanderungsgeschichte fehlt bislang. An dieser Stelle setzt das Dortmunder Stadtarchiv mit verschiedenen Projekten und der Sammlung von amtlichem und nichtamtlichem Schriftgut an, um die Prozesse und Auswirkungen von Zuwanderung besser zu dokumentieren und die Stadtgesellschaft an ihrer Migrationsgeschichte teilhaben zu lassen.

Der folgende Beitrag widmete sich einem Indikator für Integration und Assimilation, den binationalen Ehen. CHRISTOPH LORKE (Münster) untersuchte die Geschichte dieser Ehen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In den Nachkriegsjahren hatte zunächst insbesondere der Männermangel dazu geführt, dass Frauen Ehen mit Ausländern, vor allem mit Besatzern schlossen. Später führten die Anwerbung südeuropäischer Arbeitskräfte und dann der Zusammenbruch des Ostblocks zu einem erneuten Zuwachs an binationalen Ehen. Insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren waren die Reaktionen darauf zum Teil abwehrend und auch abwertend. Despektierlich wurden binationale Ehen als soziale Probleme bezeichnet, den Frauen Kindlichkeit und mangelnde Urteilsfähigkeit unterstellt und den Kindern aus diesen Beziehungen mit Skepsis begegnet. Auch völkische Argumente fanden Eingang in die öffentliche und behördliche Sprechweise. Organisationen wie der Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf e.V.) boten und bieten betroffenen Paaren und Familien Hilfe.

Für die Nachmittagssektion übernahm ERIKA MÜNSTER-SCHRÖER (Ratingen) die Moderation. CHRISTINA KAKRIDI (Göttingen) gestaltete ihren Vortrag als einen Bericht aus der Praxis des Geschichtsunterrichts an Gymnasien. Dieser steht vor der schwierigen Aufgabe, sich auf die starke Differenzierung der Schülerschaft einzulassen und auch die Geschichte der Herkunftsländer der Schüler mit zu berücksichtigen, ohne in eine multikulturelle „Egal-Haltung“ abzudriften. Der Lehrplan gibt hierzu nur wenige Anregungen, sodass es den Lehrern obliegt, die Lebenswelten der Schüler in den Unterricht einzubinden. Offen blieben die Fragen, welche Themen sich für einen kulturell sensiblen Unterricht eignen und ob die Lehrer die neue Aufarbeitung der Unterrichtsthemen alleine leisten können und sollen.

Das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven als außerschulischer Lernort thematisiert in seiner Ausstellung eine rund 300jährige Geschichte der Auswanderung nach Deutschland sowie die Geschichte der deutschen Auswanderer in die „Neue Welt“. CHRISTOPH BONGERT (Bremerhaven) erläuterte begleitet durch Bildmaterial die didaktische Idee des Museums, den Besucher anhand eines persönlichen Fallbeispiels die Reise eines Auswanderers oder Einwanderers nachempfinden zu lassen. Das Museum verfolgt dabei einen xenografisch-biografischen Ansatz, bei dem das Moment des Erlebens in den Vordergrund gerückt wird und nicht so sehr das einzelne museale Objekt. Auf diese Weise soll im „Anderen“ das „Eigene“ wiedererkannt werden, die Allgegenwärtigkeit von Ein- und Auswanderung sichtbar und Migration in ihrer Normalität erlebbar gemacht werden.

ARND KOLB (Köln) berichtete über die Arbeit des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD). Der Verein wurde 1990 gegründet mit dem Ziel, einen Beitrag zur Erforschung, zum Verstehen und bei der Dokumentation von Migration zu leisten. Die Normalität von Migration als Teil der Menschheitsgeschichte soll vermittelt werden ebenso wie ein multiperspektivisches Geschichtsbild. Zu diesem Zweck richtet DOMiD ein Migrationsarchiv ein, entwickelt Sonderprojekte zu verschiedenen Schwerpunkten der Migrationsgeschichte wie z.B. „Migration und Fußball“ und arbeitet mit Archiven und Schulen zusammen, um eine breite Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. Im Aufbau befindet sich derzeit ein virtuelles Migrationsmuseum, in dem der Besucher sich in einer fiktiven Stadt an verschiedenen Orten über Aspekte der Migration informieren kann.

Im letzten Tagungsbeitrag ging RALF SPRINGER (Münster) auf den filmischen Umgang mit dem Thema Flucht, Vertreibung und Integration der Ostdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In einem Überblick streifte er den Einsatz des Stoffes in frühen und jüngeren Spielfilmen sowie in dokumentarischen Filmen. Eine besondere Stellung nahm der Film „Asylrecht“ von Rudolf Kipp von 1948/49 ein, der in schonungsloser Nähe Flüchtlinge beim Überqueren der Zonengrenze, ihre Unterbringung in Notunterkünften und Überprüfung in den zentralen Durchgangslagern zeigt. Im Mittelpunkt des Vortrags stand der 13-minütige Werbefilm „Denn wo ein Wille ist…“ aus dem Jahr 1954 von Alexander Treleani. Der Film bewirbt einen Ausnahmefall, nämlich die Gründung einer Siedlung nur für Neubürger, Espelkamp im heutigen Kreis Minden-Lübbecke. In der Hauptrolle ist der junge Horst Tappert zu sehen – lange vor seiner Karriere als Kommissar Derrick.

Die Beiträge der Tagung hinterfragten die verkürzte Sicht auf Migration als Ausnahmesituation und lieferten mit vielfach lokalhistorischem Bezug Denkanstöße, um neue Deutungsmuster zu entwickeln für eine interkulturelle Migrationsgeschichte. Gleichzeitig offenbarten die mehrheitlich beschreibenden Vorträge die Schwierigkeiten, die der Tatsache entspringen, dass die Konzepte zum Verständnis von Migration, Integration und interkulturellen Beziehungen erst in den Kinderschuhen stecken. Lange hat auch die Geschichtsforschung Migration allein aus deutscher Sicht betrachtet, überkommene Topoi weitertransportiert und somit auch soziale Realitäten ausgeblendet. Eine historische Aufarbeitung des Phänomens Migration, die alte Denkmuster durchbricht, kann jedoch einen Beitrag zum Verständnis Deutschlands als Einwanderungsland leisten und gesellschaftliche Spaltungen verhindern helfen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Herrn Dr. Frank Bischoff (Präsident des Landesarchivs NRW), Frau Prof. Dr. Sabine Mecking (Vorsitzende des Brauweiler Kreises e.V.) und Frau Dr. Martina Wiech (Leiterin des Landesarchivs NRW, Abteilung Rheinland)

Christoph Rass (Osnabrück): Migration wird gemacht. Politik, Erfahrung, Wissenschaft in historischer Perspektive (Öffentlicher Abendvortrag)

Margrit Schulte Beerbühl (Düsseldorf): Eiskrem, Jukebox & Rock’n‘Roll. Wie das italienische Eis nach Deutschland kam

Stefan Goch (Gelsenkirchen): Schmelztiegel Ruhrgebiet oder fragmentierte Stadtgesellschaft? Das Beispiel der in Gelsenkirchen lebenden Menschen

Stefan Mühlhofer (Dortmund): Migration in Dortmund. Ein historisch-politisches Forschungsprojekt des Stadtarchivs Dortmund

Christoph Lorke (Münster): Liebe grenzüberschreitend. Binationale Ehen in Nordrhein-Westfalen

Christina Kakridi (Göttingen): Meine – deine – unsere Geschichten. Beispiele aus der historischen Bildungsarbeit mit Migrantinnen und Migranten

Christoph Bongert (Bremerhaven): Erleben und Verstehen. Zur Musealisierung von Migrationgeschichte(n) am Deutschen Auswandererhaus

Arnd Kolb (Köln): DOMiD – Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft

Ralf Springer (Münster): Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs in zwei Filmquellen