Psychiatrie und Öffentlichkeit. 4. Psychiatriehistorisches Kolloquium

Psychiatrie und Öffentlichkeit. 4. Psychiatriehistorisches Kolloquium

Organisatoren
Gesellschaft für die Geschichte der Schweizer Psychiatrie und Psychotherapie (GGSP), Zuerich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
03.03.2005 -
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Von
Brigitta Bernet, Insititut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historisches Seminar Universität Zürich

Die öffentliche Thematisierung der Psychiatrie ist oft gleichbedeutend mit ihrer Kritik. Mit Blick auf die zwei grossen Reformphasen der Psychiatrie um 1900 und im Zeichen von 1968 fällt auf, dass die Thematisierungskonjunkturen der "Missstände" in der Psychiatrie ihre Resonanz oft im Zusammenhang mit den Diskussionen um die "Missstände" in der Gesellschaft entfaltet haben. Die psychiatrische Anstalt funktioniert offenbar als eine Art Stellvertreterinstanz, an deren Exempel grundsätzliche gesellschaftliche Probleme diskutiert werden. Seit ihrer Etablierung als medizinische Unterdisziplin im 19. Jahrhundert hat die Psychiatrie die Angriffe von Aussen aber immer auch als Motor zu Veränderungen im Innern genutzt. Sie integrierte die öffentliche Kritik, um sich selbst zu korrigieren und sich in dieser Flexibilität zu stabilisieren.

Dem ambivalente Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit widmete sich das 4. Psychiatriehistorische Kolloquium, das am 3. März in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (PUK) stattfand. Veranstaltet wurde das Kolloquium, das sich auf vier Nachmittagsreferate beschränkte, von der unlängst gegründeten "Gesellschaft für die Geschichte der Schweizer Psychiatrie und Psychotherapie" (GGSP), die vom Schweizer Psychiater und Leiter der PUK, Professor Daniel Hell, präsidiert wird. In seiner Einleitung skizzierte Hell, wie sich das widersprüchliche Verhältnis von Öffentlichkeit und Psychiatrie aus dem Blickwinkel eines Anstaltsdirektors darstellt: Auf der einen Seite werde die Psychiatrie von der Gesellschaft beauftragt, sich um deren geisteskranke Mitglieder zu kümmern. Die Öffentlichkeit erteile ihr also einen "Auftrag zur Ausgrenzung." Auf der anderen Seite sehe sich die Psychiatrie immer wieder mit öffentlichem Argwohn und wilden Spekulationen darüber konfrontiert, was sich wohl "hinter den Mauern" der Institution abspiele. Als ob die Gesellschaft vergessen habe, so resümierte Hell, dass sie es war, die der Psychiatrie ihren Auftrag erteilt hat, gelange die Anstalt als Vollzieherin dieses Auftrags immer wieder ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Das Verhältnis von "Psychiatrie und Öffentlichkeit" sei also paradox.
Das gleichnamige, von der Sozialhistorikerin Aline Steinbrecher und dem Psychiater Bernhard Küchenhoff gemeinsam organisierte Kolloquium, setzte denn auch genau bei diesem Spannungsverhältnis ein. Es legte - für die bisher stark psychiatrieimmanente Aufarbeitung der Geschichte der Schweizer Psychiatrie einmalig - das Schwergewicht auf die Beiträge von drei Fachhistorikerinnen. Ganz im Sinne des Tagungsthemas kann daher von einer Öffnung der Psychiatrie in Richtung des interdisziplinären Austauschs gesprochen werden. So fand sich denn auch ein sehr gemischtes Publikum auf dem Gelände des ehemals als "Burghölzli" bekannten Areals der PUK in Zürich ein.

Als erste Referentin der chronologisch aufgebauten Veranstaltung widmete sich die Zürcher Sozialhistorikerin und Mitorganisatorin der Tagung Aline Steinbrecher einem Aspekt aus ihrer soeben abgeschlossenen Dissertation. "Wahnsinn und öffentliche Ordnung. Stigmatisierung psychisch Kranker im frühneuzeitlichen Zürich" - unter diesem Titel ging Steinbrecher der Frage nach, wie die Öffentlichkeit des 17. Jahrhunderts den Wahnsinn wahrnahm und mit ihm umging. In Vorwegnahme der Resultate ihre Dissertation führte die Referentin aus, dass sich das Problem des Irrsinns im frühneuzeitlichen Zürich vor allem in Bezug auf die "öffentliche Ordnung" gestellt habe. Somit unterstand der Wahnsinn - in einer Zeit, da es noch keine Psychiatrie gab - dem Definitions- und Zuständigkeitsbereich der Obrigkeiten. Im Gremium der sog. "Gschauen" hatten in Zürich jeweils 2 Ratsherren, 2 Pfarrer und nur 1 Mediziner darüber zu entscheiden, ob die betreffende Person wahnsinnig oder "normal deviant" sei. Im ersten Fall standen Spital und Aderlass, im zweiten die körperliche Züchtigung in Aussicht. Zur Urteilsfindung orientierte sich die "Gschau" am geltenden Normenkatalog, der an den Werten Leben, Besitz und Religion orientiert war. In dieser Aufstellung zeige sich - so die Referentin - die offensichtliche Nähe von Irrsinn und "normaler Devianz," wie z.B. Arbeitslosigkeit oder Kriminalität. Dass jedoch auch die Frühe Neuzeit Grenzen zum Irrsinn zog, zeigte Steinbrecher auf, indem sie vier "ordnungsstörende Motive" vorstellte, die regelmässig in ihren Quellen auftauchten und durch die sich der Wahnsinn aus Sicht der Obrigkeit auszeichnet habe: Dies war erstens die Zügellosigkeit im Umgang mit Geld, dem Wohnort (Vagabundieren) und der eigenen Sprache (Fluchen); zweitens die körperliche Anrüchigkeit (Barfussgehen, Entblössung der Scham); drittens Desinteresse am gemeinschaftlichen und religiösen Leben; und schliesslich die (drohende) Brandstiftung. In der frühen Neuzeit sei der psychisch kranke Mensch - so Steinbrechers Fazit - in erster Linie als Ordnungsbrecher und Grenzüberschreitender wahrgenommen und erst in einem zweiten Schritt als "Irrer" bezeichnet worden.
Die anschliessende Diskussion war lebhaft. Positiv herausgehoben wurde, dass es Steinbrecher gelungen sei, ein Wechselverhältnis von öffentlicher Ordnung und der Konstitution des Irrsinns zu beleuchten, das vielleicht auch heute noch im Spiel sei. Jedoch habe ihre Analyse das Kriterium, nach dem kriminelles von irrsinnigem Verhalten geschieden wurde, etwas gar im Dunkeln gelassen.

Ein ganz anderer Aspekt - sowohl zeitlich als auch inhaltlich - kam in der Präsentation von Cornelia Brink, Historikerin aus Freiburg i.Br. zur Sprache. Unter dem Titel "Keine Angst vor dem Psychiater. Psychiatrie, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik (1960-1980)" präsentierte Brink einen Teil aus ihrem laufenden Habilitationsprojekt, in dem sie sich nicht so sehr mit dem Blick beschäftigte, der "von Aussen" auf die Psychiatrie geworfen wurde, sondern mit den Vorstellungen, welche es "im Innern" der Psychiatrie über die Öffentlichkeit gab. Wie fruchtbar diese Umkehrung des traditionellen Fokus' sein kann, veranschaulichte Brink durch einen Vergleich verschiedener Kampagnen der psychiatrischen Öffentlichkeitsarbeit. Am Beispiel von Kampagnen der Reformpsychiatrie in den 1960er Jahren, die für die angestrebte "Gemeindenahe Psychiatrie" auf eine Kooperation mit Laien angewiesen war, zeigte Brink, wie sehr diese dem Topos der "Aufklärung der Öffentlichkeit" verhaftet waren. Damit ist gemeint, dass die Aufklärungsarbeit sich auf ein sehr einfaches Modell der Wissensvermittlung abstützte: Ansatzpunkt der Kampagnen bildete ein stereotypes Bild des "Laien", der durch Wissensvermittlung von seinen "primitiven" Vorstellungen befreit und zu Akzeptanz für die Institution und die Betroffenen gebracht werden sollte. Diese Projekte der Laienaufklärung scheiterten jedoch regelmässig. Als in den 1970er Jahren zwei unautorisierte Laien an Öffentlichkeit und Presse traten und von den peniblen Zuständen in den Anstalten berichteten (so geschehen in der Reportage des Lehrers Frank Fischer von 1969 [Neuauflage 1972] und 1977 in einer Radiosendung von Ernst Klee und einer Gruppe von Patientinnen und Patienten), musste die zuvor aufgelockerte Grenzziehung zwischen Experten und Laien neu gezogen werden. Die Psychiatrie erklärte das Experiment der Öffentlichkeitsarbeit - wie sie anführte in Anbetracht der hartnäckigen Vorurteile der Laien - für gescheitert.
Eventuell, so gab Brink am Schluss ihres erhellenden Vortrags zu bedenken, lag der Hauptgrund des Scheiterns aber nicht so sehr im Verhalten von Öffentlichkeit und Presse. Denn offenbar hatten die Psychiater von der "Öffentlichkeit," die sie aufklären wollten, ein mindestens ebenso stereotypes und verzerrtes Bild, wie diese umgekehrt von der Psychiatrie. Somit wäre auch das Bild zu reflektieren und eventuell zu revidieren, das die Psychiatrie von der Öffentlichkeit hat - und nicht nur umgekehrt.
Der Vortrag fand nicht nur aufgrund der "Dejà-Vu-Effekte" in gelebter Geschichte, der bei vielen Diskussionsvoten spürbar war, grossen Anklang. Neben den vielen zusprechenden Voten wurde kritisch herausgestrichen, dass für ein Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie und Öffentlichkeit der Einbezug der Medien und deren Eigenlogik eine weitere, zentrale Variable darstellen könnte.

Der Sozialpsychiater und Vizedirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik Asmus Finzen aus Basel stellte sein Referatsthema unter den Titel "Angst vor psychisch Kranken. Misstrauen gegenüber der Psychiatrie. Antistigma-Bemühungen und Psychiatriereform im angelsächsischen Raum (1945-1970)." Finzen referierte aus der Doppelposition des engagierten Zeitzeugen und des nicht minder engagierten nachträglichen Kommentators, der das Tagungspublikum mit Geschichten aus seinem reichen Erfahrungsfundus zu fesseln vermochte. Seit den 1960er Jahren befasst sich Finzen mit den soziologischen Hintergründen und den praktischen Folgen der Ausgrenzung und Diskriminierung psychisch Kranker und ihrer Angehörigen. Zu Beginn der 1970er Jahre als massgeblicher Reformpsychiater aktiv, wurde Finzen 1975 selber Vizedirektor einer Anstalt, die jedoch - so leitete er seine Überlegungen ein - zuvor jahrzehntelang nicht auf dem Stadtplan eingetragen war und nur über ausgewählte Sektoren, z.B. der Warenanlieferung, im Austausch mit der sozialen Aussenwelt stand. Für diese Zeit müsse man, so Finzen mit Bezug auf den Soziologen Fritz Sack, von einer "Öffentlichkeitsverhinderungsstrategie" der deutschen Psychiatrie sprechen. Im angelsächsischen Raum habe es dagegen schon früh Studien gegeben, die sich den Stigmatisierungseffekten durch die Psychiatrie widmeten. Die frühe Antistigma-Bewegung kritisierte vor allem die totalisierenden psychiatrischen Diagnosen, die in der Öffentlichkeit den falschen Eindruck erweckten, die Betroffenen würden durch ihre Krankheit gänzlich determiniert und kontrolliert. Die Lösungsansätze hätten sich dann genau in dem von Cornelia Brink beschriebenen "Topos von der Aufklärung der Öffentlichkeit" bewegt: Versuche, den Laien ein differenzierteres Bild psychischer Krankheit zu vermitteln, seien oft naiv und sogar kontraproduktiv ausgefallen, wie Finzen an einigen Beispielen anschaulich illustrieren konnte. Es müssten daher Bilder und Ziele der Öffentlichkeitsarbeit kritisch überdacht und neu problematisiert werden. Im Schlusswort plädierte Finzen für einen erweiterten soziologischen Blickwinkel auf das Spannungsverhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit, der die Existenz von Stigmata nicht naiv perhorresziere. Da jede Gesellschaft nur ein bestimmtes Mass an Abweichung tolerieren könne, werde es immer Stigmatisierungen geben. Es komme darauf an, den gesellschaftlichen Umgang mit Stigmatisierten kritisch zu befragen, weniger aber den Akt des Stigmatisierens selbst.
In der regen Diskussion, die nach Finzens Schlussfolgerungen einsetze, tauchten die Fragen auf, welche Rolle den Angehörigen und den Psychiatrieerfahrenen in dieser Sicht zukomme und welches denn nach Finzens Meinung der Massstab wäre, nach dem man den besseren oder schlechteren Umgang mit Stigmatisierten bemessen solle.

Nach diesen Diskussionen erlaubte das abschliessende Referat der Historikerin Catherine Fussinger aus Lausanne eine differenzierte und selbstreflexive Betrachtung des Tagungsthemas aus historischer Sicht. Fussinger präsentierte einen in methodischer Hinsicht erhellenden Gedankengang aus ihrem Forschungsprojekt zur Professionalisierung der Schweizer Psychotherapie im 20. Jahrhundert. Das Referat zu "Opinion publique, exercice de la psychothérapie et luttes entre groupes professionelles: le virage des années 1980" war in zwei Teile gegliedert. Im ersten stellte Fussinger vier Lesarten vor, wie das Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit seit den 1960er Jahren problematisiert worden ist. Während der traditionelle psychiatrische Ansatz das "Problem" in der uninformierten Öffentlichkeit lokalisierte, situierte die Antipsychiatrie das Problem gerade umgekehrt in der Psychiatrie selbst, die sie als Herzstück der bourgeoisen Gesellschaft verstand. Da sie eine radikale Lösung in der sozialen Mobilisierung gegen die Anstalten vermutete, interpretierte die antipsychiatrische Lesart die öffentlichen Vorurteile gegen die Psychiatrie als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems. Eine dritte Lesart kritisierte wiederum die Annahmen der Antipsychiatrie, der sie vorwarf, die alten Vorurteile unter umgekehrten Vorzeichen weiter zu führen und nur eine intellektuelle Minderheit zu vertreten, die gegen Geisteskranke tiefe Vorurteile habe. Dagegen nahm diese Perspektive für sich in Anspruch für die "breite," vorurteilsfreie Öffentlichkeit zu sprechen. Als vierten Blickwinkel, dem Fussinger in der eigenen Arbeit verpflichtet ist, präsentierte sie die "sozio-historische Analyse," die nicht von bestehenden und fixierten Problemkomplexen ausgeht, sondern untersucht, wie, in welchen historischen Konstellationen und über welche soziale Gruppen das Problem, das Geisteskrankheit wohl für jede Gesellschaft darstellt, je verschieden formuliert und moduliert wird.
In einem zweiten Teil gelang es Fussinger an Beispielen ihres Forschungsprojekts zu zeigen, dass die Professionalisierungsgeschichte der Psychotherapie sich wesentlich anders schreibt, wenn man auf die diskursiven Selbstdarstellungsstrategien der Akteure im Spannungsfeld von Psychiatrie und Öffentlichkeit achtet, statt deren Positionen - z.B. als Vertreterinnen der Psychiatrie oder der Öffentlichkeit - schon im Voraus zu setzen. Erst eine differenzierte Sicht, die - so Fussingers Schlusswort - bereit sei, die eignen Grundannahmen am historischen Quellenmaterial kritisch zu überprüfen, erlaube neue Einsichten in das komplizierte Verhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit. Dies sei dringend nötig, da sonst auch die Psychiatriegeschichte nur die alten Stereotype reproduziere.
Hatte der Beitrag von Asmus Finzen vor allem Wortmeldungen ehemaliger und praktizierender Psychiater und Psychologinnen provoziert, so fand Fussinger umgekehrt vor allem in der "historischen Ecke" positive, aber auch kritische Resonanz. So wurde gefragt, ob man die verschiedenen Problematisierungen nicht stärker mit den jeweils vorgeschlagenen Lösungen konfrontieren müsste und inwiefern sich die Sicht der Patientinnen und Patienten - und nicht nur derjenigen, die jeweils in ihrem Namen sprächen - in Fussingers Ansatz unterbringen liesse.

Insgesamt kann von einer gelungenen interdisziplinären Tagung gesprochen werden. Das skizzierte Spannungsverhältnis von Psychiatrie und Öffentlichkeit wurde von den verschiedenen Referaten je unterschiedlich und gewinnbringend aufgegriffen und beleuchtet. Es stellt gleichzeitig einen fruchtbaren Rahmen dar, an dem sich auch zukünftige Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der Psychiatrie mit Vorteil orientieren werden.
Der Entscheid, das Schwergewicht der Referate auf jüngere Historikerinnen zu legen, hat sich bewährt, ist doch die Schweizer Psychiatriegeschichte nach wie vor in der Hand praktizierender und ehemaliger Psychiater. Das handliche und überschaubare Format des Kolloquiums hat zudem zur guten Diskussionsatmosphäre beigetragen. Auf Thema und Zusammensetzung der 5. Psychiatriehistorischen Kolloquium im nächsten Jahr darf man also gespannt sein.


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