Über den Horizont

Organisatoren
Bärbel Frischmann vom Seminar für Philosophie der Universität Erfurt und Christian Holtorf vom Wissenschafts- und Kulturzentrum der Hochschule Coburg
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.11.2016 - 12.11.2016
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Von
Stephan Herbst, Universität Erfurt

Der Begriff des Horizonts stand im Fokus der Tagung „Über den Horizont“. Diese fand unter der Leitung von Bärbel Frischmann vom Seminar für Philosophie der Universität Erfurt und Christian Holtorf vom Wissenschafts- und Kulturzentrum der Hochschule Coburg statt und war darüber hinaus in die Forschungsgruppe „Erfurter RaumZeit-Forschung“ eingebunden. Gefördert wurde die Tagung von der Andrea-von-Braun-Stiftung, zu deren Zielen die Unterstützung der interdisziplinären Zusammenarbeit gehört. Geladen wurde nicht nur in die Kleine Synagoge, sondern auch in die Galerie Rothamel zum Gespräch mit dem Fotografen Hans-Christian Schink sowie in den Festsaal des Erfurter Rathauses. Hier las die Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Rahmen der 20. Erfurter Herbstlese aus ihren Werken und stellte sich anschließend der Diskussion, wobei der Bezug zum Thema Horizont im Zentrum stand.

In seinem Grußwort hob Eckardt Buchholz-Schuster vier Fragen hervor, vor denen er die Tagung angesetzt sah: (1) Was macht einen Horizont aus? (2) Wie lassen sich wissenschaftliche, soziale, kulturelle, geschichtliche und gesellschaftliche Horizonte verbinden, ohne dass sie sich gegenseitig verdrängen und begrenzen? (3) Was begrenzt Horizonte und was sind das für Grenzen? (4) Lassen sich Horizonte überschreiten? Damit bezog er sich zugleich auf die de- und translineare Interpretationsmöglichkeit des Tagungstitels. Susanne Rau verwies darüber hinaus auf die Relevanz der Tagung und der zu diskutierenden Fragestellungen für die Erfurter RaumZeit-Forschung, insbesondere aber in Bezug auf die Kulturen der Räume in der Neuzeit.

CHRISTIAN HOLTORF (Coburg) ging von der These aus, dass ein Horizont abhängig von seinem Referenten sei. Er votierte dafür, dass ein Horizont zwar eine lineare Grenze suggeriere, dass diese aber keineswegs nur etwas Beendigendes sei. Sie bestehe vielmehr aus Zonen, Schwellen und anderen Kulturformen, die zum menschlichen Weltverstehen gehören. Zwar käme es an diesen Grenzen zu Konflikten, so etwa in den Sprachen und Kulturen, doch würden diese Grenzen und Konflikte durch ihr Aufeinanderbezogensein einen auf Geschichtlichkeit und Medialität, Ästhetik und Reflexion, Normativität und Bewirtschaftung des Horizonts bezogenen Diskurs hervorrufen.

Mit der Frage der Identitätsbildung und -veränderung beschäftigte sich HOLT MEYER (Erfurt) in seinen Anmerkungen zu „Die Brüder Karamasov“. Horizonterweiterung schaffe erst Orientierung nebst Identitätsfindung, bedeute jedoch einen Konflikt mit bisherigen Überzeugungen. Das lasse sich anhand des Wunsches Dmitrijs, Protagonist des Romans, nachzeichnen, aus Russland nach Amerika zu fliehen und als Amerikaner nach Russland zurückzukommen. Amerika fungiere hier als Grenz- und Wendebereich der maximal denkbaren Fremdheit. Dadurch fände, im Sinne einer Rückprojektion, zugleich eine Legitimation der Grenze des äußersten Westens in ihrer Distanz zum heimatlichen Russland statt. Die Grenzüberschreitung trete dann mit der Rückkehr Dmitrijs als ein Fremder in die eigene Heimat ein.

BÄRBEL FRISCHMANN (Erfurt) legte ihren Ausführungen eine Differenzierung in drei Begriffsverwendungen von „Horizont“ zugrunde: den optisch-physikalischen Horizont, den epistemischen Begriff eines Wissenshorizonts und den phänomenologisch-hermeneutischen Begriff des Verstehenshorizonts. Sie hob hervor, dass der Verstehenshorizont konstitutiv für die Bestimmung personaler und auch kultureller Identität sei. Dabei sei zu unterscheiden zwischen jeweils dem Wunsch nach einem engen und stabilen bzw. einem weiten und offenen Horizont. Menschen mit einem engen Horizont würden sich in geschlossenen Gesellschaften geborgen, jedoch in offenen Gesellschaften schnell überfordert und desorientiert fühlen. Menschen mit dem Wunsch nach freier Entfaltung fänden hingegen in offenen und dynamischen Gesellschaften geeignetere Bedingungen als in unflexiblen Gesellschaften. Das Aufeinanderprallen dieser unterschiedlichen Horizonte und Identitäten könne zwar nicht vermieden, aber durch Kommunikation und Bereitschaft zur Toleranz zumindest in seinen Auswirkungen gemäßigt werden.

In Rückgriff auf Parmenides‘ Seinsbegriff und Wittgenstein, nach dem die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt bedeuten, führte ALEX BURRI (Erfurt) aus, dass die Grenze der Welt durch die Marksteine „wahr“ und „falsch“ gezogen werde. An ihr hinge zugleich die Grenze der Sprache sowie die Grenze des Sinns. Insofern das Wahre sage, was in der Welt der Fall sei, weise das Falsche als Negation der Position einen Bezug zum Wahren auf. So sei es zwar falsch, dass Einhörner existieren. Dass keine Einhörner existieren, sei indes eine Aussage, durch die die Welt sehr wohl beschrieben werden könne. Die Marksteine, zwischen denen die Welt sich gleichsam abspiele, seien als abschließende Marksteine zu betrachten, hinter denen nichts mehr käme und über die hinaus nichts gesagt werden könne (auch nicht in einer metaphorischen Sprache).

NIKO KOHLS (Coburg) ging es in seinem Beitrag um außergewöhnliche Erfahrungen als mögliche epistemische Grenzen in der Psychologie. Obschon die Psychologie sich als eine metaphysikfreie Seelen- und Bewusstseinslehre definiere, die sich strikt vom Spiritismus abgrenze, lasse sich anhand empirischer Nachweise etwa von Gehirnscans aufzeigen, dass es bei Meditationen oder Nahtoderfahrungen zu einer Überschreitung des Bewusstseinshorizonts inklusive der Raum-Zeit-Gestaltungen käme. Solche Phänomene würden die Grenzen des gegenwärtigen Wissenshorizonts erweitern und so den phänomenologischen Gehalt des gesellschaftlichen Konsensweltbildes bereichern.

GUIDO LÖHRER (Erfurt) sprach zunächst vom Horizont als einer Demarkationslinie, die den optischen bzw. physikalischen vom metaphorischen Bereich trenne, wie im Falle zweier inkompatibler Sprachsysteme. Er stellte dann die Frage, wie über die Grenze selbst gesprochen werden könne, die augenscheinlich weder zum empirischen noch zum metaphorischen Bereich gehöre. Diese Frage erörterte er einerseits mithilfe von Kants transzendentaler Dialektik und der These, dass der Standort und der Horizont der bewertenden Person fix seien, andererseits mit Carnaps liberalem Pluralismus von Existenzbereichen und der daran gekoppelten relativistischen Semantik. Löhrer positionierte sich auf der Seite Kants und bewertete mit Quine den Relativismus Carnaps als nicht haltbar. Es könne, so Löhrer, keinen Standpunkt außerhalb aller Sprachsysteme geben, von dem aus sich alle Sprachsysteme festlegen und begrenzen ließen.

ELKE SCHWINGER (Coburg) nahm, ausgehend von Ernst Blochs Philosophie eines realen Humanismus, das „Prinzip Hoffnung“ als eine anthropologische Grundkonstante menschlicher Existenz in den Blick. Hoffnung weise stets auf die Zukunft als den zeitlichen Horizont des Noch-Nicht und damit über aktuelle Erfahrungen hinaus, wünschenswerterweise auf eine bessere Welt. Doch Zukunftsforschung heute entwerfe ihre Zukunftsvisionen meist im Dienst ökonomischer Sorge um profitable Bestandssicherung. Dem stellte sie die Frage nach den Perspektiven politisch orientierter Selbstverantwortlichkeit gegenüber, das heißt der sozialen Identität des Einzelnen, aber nicht der Ich-Identität als rein innerlichem Selbstverhältnis.

Den Horizont in der Modernisierungstheorie diskutierte PHILIPP H. LEPENIES (Berlin). Im Ausgang von Condorcet folgte er der These, dass die Modernisierungstheorie die Welt als ein perspektivisches Gemälde beschreibe. Es ging ihm zunächst darum zu klären, wie die Rolle des Horizonts im europäischen Fortschritts- und Modernisierungsnarrativ zu verstehen sei. Er rückte dann die Frage in den Vordergrund, warum der Glaube an Fortschritt und Modernisierung noch immer wirkungsmächtig sei. Bei seiner Bewertung konzentrierte er sich nicht nur auf einen ideen- und kunstgeschichtlichen Diskurs, sondern thematisierte ebenso die gegenwärtige Zentralisierung des Horizontbildes, das letztendlich im Modernisierungsversprechen münde.

ANTJE SCHLOTTMANN (Frankfurt am Main) nahm eine Metaperspektive ein und fragte nach dem Sprachgebrauch, das heißt der Bedeutung des Begriffs bzw. der Metapher des Horizonts in der Alltagssprache. Der Frage ging sie anhand des metaphorischen Orientierungskonzepts von Nähe und Ferne nach. Durch den Sprachgebrauch von „nah“ und „fern“ beschrieben wir verschiedenste Beziehungen unseres Verhältnisses zur Welt. Signifikant für die in diesem raumsprachlichen Kontext platzierte Metapher des Horizonts sei seine Offenheit, Relationalität und Ambivalenz. Der Horizont markiere ein stetiges Ziel und sei doch unerreichbar: Er sei nah und fern zugleich. Verbunden mit dem Horizontbegriff seien dabei auch das moderne Wachstumsparadigma und der Bildungsdiskurs, der Bildung als Horizonterweiterung verstehe.

MICHAEL MAKROPOULOS (Berlin) ging davon aus, dass Gesellschaften in den Begriffen Grenze und Horizont ihre Reichweite bestimmten. Er unterschied strikt zwischen Grenzen, die Wirklichkeitsbereiche abschlössen, und Horizonten, die Möglichkeitsbereiche aufschlössen. Auf dieser Differenz gründe eine politisch-soziale Konstellation, die als fortschreitende Inkongruenz für moderne Gesellschaften entscheidend werden sollte. Das historische Auseinandertreten von Grenze und Horizont kennzeichne ein Weltverhältnis, das die unendliche Progression fordere: als technischen Fortschritt, als ökonomisches Wachstum, als sozialen Aufstieg. Grenzüberschreitung trete als Grundfigur sozialen Wandels hinter die Horizontverschiebung zurück. Horizontverschiebung werde damit zur Chiffre einer gesellschaftlichen Dynamik, die die Optimierung an die Stelle der Überschreitung gesetzt habe. Diese Entwicklung münde in eine globale Welt ohne Außen und provoziere im Gegenzug neue Grenzziehungen, die im Kern Versuche der Re-Differenzierung des Sozialen und Individuellen seien.

Am Beispiel eines Bergunfalls beleuchtete HELGA PESKOLLER (Innsbruck), wie sich im Blickfeld verankerte Orientierungs- und Bezugspunkte verkehren und irreversibel verschieben können. Den Horizont verstand sie als körperliche Erfahrung von Grenzen. Diese Grenzerfahrung sei zunächst auf Stimmungen zurückzuführen, die Peskoller als Auskunft über die Befindlichkeit in Relation zur Umgebung definierte. Dafür zeichne eine emotionale Horizontverschiebung verantwortlich. Aus diesen Stimmungen könne ein Abenteuer werden, das nicht nur von der Vorbereitung, sondern auch von Zufällen bestimmt werde. Der Horizont wäre daran anknüpfend Ausdruck einer Optimierung und Lust an der Selbstverschwendung mit Auswirkungen, die gegen das dem Menschen innewohnende Prinzip des Überlebens verstoßen, allerdings eine Wissenserweiterung nach sich ziehen. So könne Übermut an Grenzen führen, die nicht zu überwinden seien, den Betreffenden hingegen dazu veranlassen, den Übermut in Gleichmut zu verwandeln.

MARTIN NUGEL (Bamberg) machte auf die Bedeutung einer doppelten Verwendungsweise des Horizontbegriffs für den erziehungs- und bildungstheoretischen Diskurs aufmerksam. Er beziehe sich einerseits auf den menschlichen Wahrnehmungsradius und beschreibe dessen Grenze. Zivilisatorisch könne die Grenze als Triebfeder technologischer Innovationen betrachtet werden, bei denen das Individuum Mensch den Horizont seiner Wahrnehmung ins Unbekannte verschiebe. Andererseits werde der Begriff des Horizonts als Ordnungsmetapher verwendet. Hierbei sei vor allem in der Pädagogik die Rede von sozialen bzw. kulturell definierten Horizonten. Ihre krisenhafte Erfahrung und Überschreitung könne sowohl als Teil des individuellen Bildungsprozesses als auch eines kollektiven Fortschritts beschrieben werden.

Im Anschluss an die Vorträge fragten BIRGIT STUBNER (Coburg) und NORA HELD (Erfurt) nach Anwendungsmöglichkeiten der Tagungsthematik auf Bildung, Erziehung und Didaktik.

In der Abschlussdiskussion wurde die während der Vorträge und Diskussionen deutlich gewordene Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Horizontbegriffs noch einmal explizit thematisiert. Jede Disziplin arbeite innerhalb ihres jeweiligen Spektrums mit eigenen Begriffen. Dazu gehöre auch der Begriff des Horizonts, der nicht ohne weiteres von einer Fachdisziplin auf die andere übertragen werden könne. Es gebe zwar Überschneidungen, zumeist aber seien die Begriffsverwendungen disparat, wie sich insbesondere nach den Beiträgen von Christian Holtorf und Michael Makropoulos auf der einen Seite – beide verstanden den Horizont nicht als klare Trennlinie – sowie Alex Burri und Guido Löhrer auf der anderen Seite – beide definierten den Horizont als Grenze – konstatieren ließ. Zudem sei in Rechnung zu stellen, dass in den einzelnen Disziplinen von „Horizont“ auch in einem metaphorischen Sinn gesprochen werde, wobei die Grenze zwischen Metapher und Begriff oftmals nicht klar zu ziehen sei. Obschon das Ergebnis der Tagung nicht darin bestehen konnte, den einen und für alle gleichermaßen anwendbaren Begriff von „Horizont“ zu finden, wurde deutlich, dass jedes Fach die Aufgabe methodologischer Selbstreflexion habe, zu der auch die systematische Rekonstruktion der eigenen wissenschaftsprägenden Begriffe gehöre.

Konferenzübersicht:

Eckardt Buchholz-Schuster (Coburg) / Susanne Rau (Erfurt): Begrüßung

Christian Holtorf (Coburg): Neue Horizonte? Ein Panorama.

Holt Meyer (Erfurt): „Rothäute irgendwo am Rand des Horizonts.“ Anmerkungen zu „Die Brüder Karamasov“

Hans-Christian Schink (Berlin): Fotografie – Perspektive – Horizont (Galeriegespräch)

Bärbel Frischmann (Erfurt): Horizont und Identität

Alex Burri (Erfurt): Sinngrenze, Sprachgrenze, Weltgrenze

Niko Kohls (Coburg): Außergewöhnliche Erfahrungen – epistemische Grenzen in der Psychologie?

Guido Löhrer (Erfurt): Kant und Carnap über Grenzbegriffe

Elke Schwinger (Coburg): Von widerstreitenden Perspektiven: Zukunftsforschung und das „Prinzip Hoffnung“

Philipp H. Lepenies (Berlin): Der Horizont in der Modernisierungstheorie

Antje Schlottmann (Frankfurt am Main): So nah und doch so fern – der Horizont der RaumSprache

Michael Makropoulos (Berlin): Grenze und Horizont. Zwei soziale Abschlussparadigmen

Felicitas Hoppe (Berlin): Über den Horizont (Schriftstellerlesung)

Helga Peskoller (Innsbruck): Der Sturz. Zur Verkehrung des Horizonts als konkrete Erfahrung von Grenzen

Martin Nugel (Bamberg): Jenseits der Horizonte. Grenzen und Grenzüberschreitung aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive

Birgit Stubner (Coburg) / Nora Held (Erfurt): Überlegungen zur Anwendung


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