Die Stasi-Auflösung. Eine Tagung in Leipzig anlässlich des 15. Jahrestages der Besetzung von MfS-Dienststellen

Die Stasi-Auflösung. Eine Tagung in Leipzig anlässlich des 15. Jahrestages der Besetzung von MfS-Dienststellen

Organisatoren
Bürgerkomitee Leipzig; Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; die Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2004 - 05.12.2004
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Von
Johannes Beleites, Neuruppin

Solange die Geschichte noch jung ist, werden auch kleinere Jubiläen größer gefeiert. So ist das derzeit mit dem Ende der DDR, das sich in vielen Einzelschritten zum fünfzehnten Male jährt. Am 4. und 5. Dezember 1989 wurden in den meisten Bezirks- und vielen Kreisstädten der DDR die Stasi-Dienststellen besetzt. Auf den Tag fünfzehn Jahre danach luden das Bürgerkomitee Leipzig, die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu einer Konferenz nach Leipzig ein. Im ehemaligen Kinosaal der dortigen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit beschäftigten sich etwa 200 Historiker, Journalisten aber vor allem auch damalige Akteure mit der Auflösung des MfS von Dezember 1989 bis Oktober 1990.

Eingeleitet wurde die Tagung mit einem Vortrag von Prof. Eckhard Jesse, Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz, der sich mit der politischen Gesamtsituation im Herbst 1989 beschäftigte, deren Teil dann auch die Besetzungen der MfS-Dienststellen in den Kreis- und Bezirksstädten der DDR wurden. Jesse lehnte die Bezeichnung Wende für den ostdeutschen Herbst 1989 ab und plädierte vielmehr für die Bezeichnung als Revolution.

Am folgenden Tag beschäftigten sich vierzehn Vorträge mit der Besetzung der einzelnen Stasi-Bezirksverwaltungen sowie der Zentrale in Berlin, der fünfzehnte Vortrag musste krankheitsbedingt ausfallen. Um es vorweg zu nehmen: Wer hier eine vergleichende historische Analyse erwartet hatte, wurde leider enttäuscht. Zwei Drittel der Vortragenden waren selbst Beteiligte der jeweils dargestellten Besetzungen bzw. der sich anschließenden Phase der Stasi-Auflösung. Ihre Berichte waren gerade wegen ihrer Authentizität ausgesprochen eindrucksvoll, sie konnten aber naturgemäß eine systematische historische Betrachtung nicht ersetzen. Positiv hervorzuheben sind hier die Vorträge von Roland Geipel aus Gera sowie von Tobias Hollitzer aus Leipzig.

Roland Geipel, Pfarrer in Geras Neubaugebiet Lusan und 1990 Mitglied des Geraer Bürgerkomitees, stellte Probleme und Chancen dar, die sich aus den Möglichkeiten einer kleinen Bezirksstadt ergaben. Einerseits seien nicht Hunderttausende Demonstranten auf der Straße gewesen, der politische Druck auf die Stasi war weitaus kleiner als andernorts. Andererseits habe man sich besser gekannt, viele Entscheidungen seien auch später im Bürgerkomitee innerhalb einer kleinen, einander sehr vertrauten Runde gefallen. Eine wesentliche Unterstützung erhielten die Geraer durch einige prominente Dissidenten der Jenaer Oppositionsszene, die das letzte Jahrzehnt der DDR in Westberlin verbracht hatten: Roland Jahn habe die Geraer Haftanstalt mit einem Fernsehteam des SFB-Magazins Kontraste besucht und dadurch manche Tür, die dem Bürgerkomitee bisher vorschlossen geblieben sei, geöffnet. Jürgen Fuchs verdanke man Ermunterung zur konkreten Auseinandersetzung und öffentlichen Darstellung einzelner Fälle. Die Aktenherausgabe an Betroffene wurde in Gera daher auch noch vor bzw. trotz einer gesetzlichen Regelung ausgesprochen unbürokratisch und liberal gehandhabt. Rainer Kunze, Michael Beleites und andere konnten so ihre Stasi-Verfolgung aufarbeiten und deren Ergebnisse schon frühzeitig publizieren.

Tobias Hollitzer, 1989/90 ebenfalls Aktivist der Leipziger Stasi-Auflösung, heute Mitarbeiter der Leipziger Außenstelle der Gauck-Behörde und für das Bürgerkomitee Leipzig maßgeblicher Organisator der Tagung, beschäftigte sich in den letzten Jahren wohl am tiefgehendsten mit dem Prozess der Stasi-Auflösung. Er versuchte daher auch eine Einordnung der Arbeit des Leipziger Bürgerkomitees in die Gesamtschau der damaligen Bürgerkomitees und stellte seinen Vortrag unter den Titel "Die verhandelte Besetzung". Die Verhandlungen des Bürgerkomitees mit Stasi-Offizieren im Vorfeld und während des Auflösungsprozesses hätten die Leipziger Stasi-Auflösung von der anderer Bezirke unterschieden. Ursache dafür sei die besondere Situation Leipzigs gewesen, wo seit dem 2. Oktober 1989 an jedem Montag Zehntausende Demonstranten direkt an der vollbesetzten, aber verdunkelten Stasi-Bezirksverwaltung vorbeizogen. Auch in den Augen der Stasi-Offiziere stellten die Bürger-Vertreter daher eine Macht dar, mit der Verhandlungen sinnvoll erschienen.

Bei den Vorträgen unbeteiligter Historiker fiel zunächst der nur marginale Unterschied zu den Zeitzeugenvorträgen auf: Auch die Historiker blieben meist lediglich bei einer chronologischen Darstellung der Ereignisse in den von ihnen behandelten Bezirken. Einzig Rahel Frank, die sich mit der Stasi-Auflösung im Bezirk Rostock befasste, ging sehr systematisch und mit einem deutlich vergleichenden Ansatz vor. Auch in Rostock sei es eine verhandelte Besetzung gewesen. Zeitgleich mit den ersten Besetzungen hätten sich auch in Rostock und in zehn Kreisstädten Demonstranten vor den Stasi-Dienststellen versammelt, um für deren Auflösung sowie gegen Aktenvernichtung zu demonstrieren. Rahel Frank verglich die Untersuchungsausschüsse (so hießen hier die Bürgerkomitees) in Rostock und in Greifswald. Beide seien sehr unterschiedlich organisiert gewesen, aber in kurzer Zeit zu hervorragenden Ergebnissen gekommen. Während in Rostock etwa 30 Aktivisten mittleren Alters, überwiegend Akademiker aus dem Bereich der Universität und ohne Verankerung in einer alten oder neuen Partei schnell und exakt recherchieren und möglichst viele Informationen der Öffentlichkeit zugänglich machen wollten, seien es in der weitaus kleineren Stadt Greifswald 85 Personen gewesen, die überwiegend vom Neuen Forum, aber auch aus der SED und der NDPD kamen. Spontan hätten sich vier Arbeitsgruppen gebildet, die sich bis Ende Februar 1990 mit der MfS-Kreisdienststelle, der Kreisleitung der SED, dem Rat des Kreises sowie dem Kernkraftwerk Nord beschäftigten. Durch diese übergreifende Arbeit mit lokalem Schwerpunkt konnte hier beispielsweise erstmals dargestellt werden, wie die Wahlfälschungen 1989 organisiert worden waren. Im Unterschied zu den anderen Referenten plädierte Rahel Frank für eine differenzierte Betrachtung der Ursachen für die gewaltlose, konfliktarme und zügige Stasi-Auflösung: Weder allein die Untersuchungsausschüsse seien "die Helden der Geschichte" noch habe sich die Stasi aus eigenem Antrieb aufgelöst. Vielmehr hätten die Bürgerkomitees und Untersuchungsausschüsse nur so erfolgreich arbeiten können, weil ihnen ein Teil der Stasi-Offiziere entgegengekommen sei. Innerhalb des MfS sei das Ende der DDR viel früher als im SED-Apparat wahrgenommen worden. Auch habe es einen Generationenkonflikt innerhalb des MfS gegeben: Ein Teil der jüngeren Mitarbeiter habe den Forderungen der Demonstranten vorbehaltlos zugestimmt. Leider reichte gerade bei ihrem Vortrag die Zeit nicht mehr zu einer ausführlichen Diskussion und so darf man darauf gespannt sein, ob die Referentin in der zugesagten schriftlichen Fassung des Vortrages ihre These stärker untermauert, als es in dem kurzen Vortrag möglich war.

Am Abend folgte außerdem noch eine Podiumsdiskussion über die Rolle der Massenmedien im Zuge der Stasi-Auflösung, an der einige damals in dieser Sache sehr aktive Journalisten beteiligt waren. Leider war auch hier die Zeit viel zu knapp kalkuliert worden, so dass die Widersprüche zwischen Unterstützung und Beeinflussung der Stasi-Auflösung durch die Berichterstattung allenfalls angerissen werden konnten.

Am folgenden Tag sollte am Vormittag ein anderer Focus die Diskussionen bestimmen: Während am Sonnabend die Vorträge Bezirk für Bezirk in den Mittelpunkt stellten, sollte am Sonntagvormittag in Arbeitsgruppen vier übergreifenden Fragestellungen nachgegangen werden.

Die erste Arbeitsgruppe befasste sich unter dem Thema "eigenständig oder abhängig?" mit dem Verhältnis der Bürgerkomitees zur DDR-Opposition bzw. deren Anbindung an die neuen demokratischen Strukturen. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fragestellung seien hier jedoch vor allem Akzeptanz und Legitimität entscheidend gewesen. Hinsichtlich der Legitimität habe es regional deutliche Unterschiede gegeben. Im Verhältnis zu alten und neuen Parteien und Bewegungen war vermutlich das gesamte Spektrum vorhanden: Während in Rostock beispielsweise eine bewusste Unabhängigkeit von unterschiedslos allen Parteien und Bewegungen gesucht wurde, hatte man in Gera anfangs auf eine paritätische Verteilung alter und neuer Parteien und Bewegungen geachtet. In anderen Bürgerkomitees wurde diese Frage kaum thematisiert. Insgesamt habe es eine starke personelle Kontinuität gegeben. Mit ihrem großen Bedarf an Unterstützung eröffneten die Bürgerkomitees jedoch auch bislang politisch wenig aktiven Personen ein Betätigungsfeld. Die Bürgerkomitees boten den Oppositionsgruppen daher auch ein erhebliches Rekrutierungspotenzial. Die These, die Bürgerkomitees seien von der SED oder gar vom MfS gesteuert worden, war - nicht überraschend - heftig umstritten.

Unter der Fragestellung "vernichten oder offenlegen?" befasste sich die zweite Arbeitsgruppe mit der Position zur Aktenvernichtung bzw. zur persönlichen Akteneinsicht. Vernichtung der Stasi-Akten einerseits und deren Offenlegung andererseits seien immer nur die Extrempunkte einer Diskussion zum Umgang mit den Unterlagen gewesen. Sehr schnell habe nicht nur das Postulat vieler Demonstranten "Ich will meine Akte sehen!", sondern auch die Unentbehrlichkeit der Akten bei der Rehabilitierung ehemaliger politischer Häftlinge sowie bei eventueller Strafverfolgung der DDR-Funktionsträger gegen eine komplette Vernichtung gesprochen. Dass die meisten Bürgerkomitees jedoch einer partiellen Vernichtung nicht abgeneigt gewesen seien, zeige das Schreddern der elektronischen Datenträger des MfS sowie die Tatsache, dass Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS jetzt nur noch in Leipzig vorhanden sind. Allerdings bedeutete die Ablehnung der Vernichtung noch kein Plädoyer für eine Offenlegung. Wer sich mit den Stasi-Akten in den Bürgerkomitees beschäftigte, habe sehr schnell gemerkt, dass die Forderung "Jedem seine Akte!" wegen der Rechte Dritter nicht realisierbar war.

In der dritten Arbeitsgruppe sollte insbesondere der Einfluss des MfS bzw. anderer staatlicher Stellen auf die Stasi-Auflösung bearbeitet werden. Hier wurden vor allem die Rolle der in die Bezirke entsandten Regierungsbeauftragten, die nahezu alle Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) des MfS gewesen seien, sowie die Möglichkeit der Unterwanderung der Bürgerkomitees mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) diskutiert. Zwar seien Versuche der Einflussnahme überall und in unterschiedlichem Ausmaß feststellbar, jedoch wurde der Erfolg letztlich eher angezweifelt. Nach wie vor ungeklärt sei auch die Rolle der Staatsanwaltschaften sowie die Beeinflussung der Bürgerkomitees durch sogenannte Sicherheitspartnerschaften mit der Volkspolizei. Hier wurde ebenfalls die Frage aufgeworfen, ob die Stasi-Auflösung seitens der SED möglicherweise ein willkommenes Ablenkungsmanöver gewesen sei. Jedenfalls sei in dieser Phase der friedlichen Revolution die SED als zentraler Angriffspunkt verdrängt worden. Auch in dieser Arbeitsgruppe stand die Zustimmung des Runden Tisches sowie der meisten Bürgerkomitees zur Vernichtung der elektronischen Datenträger des MfS zur Debatte.

Schließlich wurde in einer vierten Arbeitsgruppe unter dem Motto "historisch oder gegenwärtig?" die spätere Rolle der Protagonisten der Stasi-Auflösung im Aufarbeitungsprozess diskutiert. Die meisten von ihnen seien schon im Frühjahr 1990, spätestens aber im Herbst 1990 in ihre alten Berufe zurückgekehrt. Insgesamt traten verhältnismäßig wenige von ihnen den Dienst in der Gauck-Behörde an; diesen jedoch sei der Weg in den ersten Jahren dort auch sehr schwer gemacht worden. Einige Bürgerkomitees arbeiteten heute noch immer auf dem Feld der Aufarbeitung, jedoch nur mit einem sehr kleinen Teil der ursprünglichen Aktivisten. Auch hier wurde nochmals verdeutlicht, dass die Bürgerkomitees trotz ihrer verhältnismäßig dünnen Personaldecke vor allem wegen ihrer engen Anbindung an die Runden Tische recht erfolgreich sein konnten.

Für die Protagonisten der Stasi-Auflösung war die Tagung ein willkommenes "Klassentreffen". Für Historiker gab es wohl nur wenig wirklich neue Erkenntnisse. Die wichtigste könnte vielleicht darin zu sehen sein, dass hier ein bedeutsames Forschungsfeld noch nahezu unbearbeitet liegt. Allerdings - und auch das wurde in etlichen Vorträgen deutlich - haben die Retter der Stasi-Akten selbst vergleichsweise wenig Schriftgut hinterlassen. Wirklich neue Erkenntnisse lassen sich hier voraussichtlich nur durch eine breit angelegte Zeitzeugen-Befragung gewinnen. Lohnend ist das allemal: Schließlich sind Erhalt und Öffnung der Stasi-Akten ohne historisches Vorbild und stellen auch eines der wenigen Revolutionsziele dar, die trotz inneren und äußeren Widerstandes weitgehend umgesetzt werden konnten. Die Besetzung der Stasi-Dienststellen war dafür ein ebenso mutiger wie spontaner Schritt, dem noch viele weitere bis zur Konsolidierung des offenen Umgangs mit den Stasi-Unterlagen folgen mussten - ein Prozess, der bis heute nicht beendet ist.


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