„… wie es eigentlich (gewesen) ist" – der dokumentarische Film und die Wissenschaften

„… wie es eigentlich (gewesen) ist" – der dokumentarische Film und die Wissenschaften

Organisatoren
Arthur Schlegelmilch, Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität in Hagen; Carsten Heinze, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg
Ort
Hagen
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.05.2016 - 21.05.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Dennis Möbus, Institut für Geschichte und Biographie, FernUniversität in Hagen E.Mail:

Am 20. und 21. Mai 2016 fand in Hagen die Tagung „‘… wie es eigentlich (gewesen) ist‘ – der dokumentarische Film und die Wissenschaften“ statt. Veranstaltet wurde der interdisziplinäre Austausch vom „Institut für Geschichte und Biographie“ unter Federführung ARTHUR SCHLEGELMILCHS (Hagen) in Zusammenarbeit mit dem Soziologen CARSTEN HEINZE (Hamburg).

Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem wissenschaftlichen Wert dokumentarischer Filme, gleichsam als Quelle oder Medium. Dabei ging es sowohl um methodologische Überlegungen, um erst einmal das richtige Handwerkszeug zusammen zu stellen, als auch die Präsentation von Fallbeispielen, um die wissenschaftliche Auswertung von Filmmaterial zu demonstrieren.

Als Einstieg entwickelte der Medienwissenschaftler THOMAS WEBER (Hamburg) Gedanken zu einer Theorie des Dokumentarfilms. Im Mittelpunkt stand das Konzept der Semio-Pragmatik, das unter anderem nach der Wirkung von Paratexten auf den Lektüremodus der Rezipienten fragt. Laut Weber ergebe sich die Bedeutung dokumentarischer Filme aus der Prozessualität der Bearbeitungsschritte ihrer jeweiligen medialen Milieus, da jedes dieser Milieus einen eigenen Referenzrahmen konstruiere. Dadurch könne man Dokumentarfilme auch als Medien der Selbstverständigung sozialer Bewegungen betrachten, was sie zu einer attraktiven Quelle für die Zeitgeschichtsschreibung mache.

In der anschließenden Diskussion wurde festgestellt, dass allerdings ein Mangel an Quellen zur Rezeptionssituation bestehe. Auch wurde deutlich, dass es keine lebensweltliche und weltanschauliche Homogenität zwischen den Produzenten, Distributoren und Rezipienten gebe, was sich immer auf den Film auswirke, da auch dokumentarische Filme ein hohes gestalterisches Potenzial hätten – man denke alleine schon an die von subjektiven Faktoren abhängige Selektion des Rohmaterials. Zuletzt wurde noch darauf hingewiesen, dass dokumentarische Filme in der Diskurshierarchie selten „oben mitgespielt“ hätten und der Spielfilm für das kollektive Gedächtnis prädominant sei.

Carsten Heinze fragte in seinem Vortrag nach dem Verhältnis von Dokumentarfilm und (audio-)visueller Soziologie. Heinze geht davon aus, dass ein dokumentarischer Film nicht „zeigt, wie es gewesen ist“, sondern dass auch dieses Genre auf dichterischem Arbeiten beruht. Dabei spiele insbesondere die Suche nach Selbstdefinitionen eine tragende Rolle, was zur Pluralität dokumentarischer Formen beiträgt. Die visuelle Soziologie biete hier aber noch nicht genügend Ansätze zur systematischen Erforschung, da sie sich vor allem auf stille Bilder fokussiert habe. Pioniere wie Emilie Kiep-Altenloh und Siegfried Kracauer vermochten keine nachhaltigen Impulse für die Filmsoziologie zu setzen. Vielmehr habe das Verdikt von Adorno und Horkheimer über die Minderwertigkeit von Dokumentarfilmen nachgewirkt. Überhaupt habe man immer wieder das Konkurrenzverhältnis zwischen Soziologie und dem dokumentarischen Film betont, den es endgültig aufzulösen gelte.

In der Diskussion wurde mit Nachdruck auf einige bestehende Ansätze der visuellen Soziologie zur Arbeit mit dokumentarischen Filmen verwiesen. Man war sich allerdings einig, dass dieser „bunte Blumenstrauß“ nun durchbuchstabiert und zu einer kohärenten Theorie zusammengefügt werden müsse.

Arthur Schlegelmilch befasste sich abschließend mit der Rezeption des Dokumentarfilms durch die deutsche Geschichtswissenschaft, die in der Bonner Republik deutlich zögerlicher und distanzierter erfolgte als in der DDR. Erst 1988 widmete sich ein Historikertag dem Thema des „Films als historischer Quelle“. Dem Einfluss der anglo-amerikanischen Visual-Culture-Studies auf die deutsche Geschichtswissenschaft in den neunziger Jahren sei es zu verdanken, dass die Eigenständigkeit der durch das Medium Film bzw. durch Medien geschaffenen Wirklichkeit und der damit verbundene Beitrag zur kulturellen Sinnproduktion einer Gesellschaft stärker in den Blick kam. Der Auftrag an die Historiker erschöpfte sich damit nicht mehr darin, eine Analyse der Entstehung, des Inhalts und der Rezeption von Bild- und Filmquellen zu leisten, sondern darüber hinaus und vor allem nach deren narrativem Gehalt und ihrer kommunikativen und sozialen Bedeutung zu fragen. Etwas zugespitzt formuliert sei die Geschichtswissenschaft damit zu Weichenstellungen zurückgekehrt, die von ihr in weiter zurück liegender Vergangenheit mit der Ablehnung der Kulturgeschichtskonzeption Karl Lamprechts sowie der Nichtbeachtung des film- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes Siegfried Kracauers verpasst worden waren.

Die den Präliminarien folgenden Fallbeispiele demonstrierten nun einerseits die Fülle der dokumentarischen Formate, um auf der anderen Seite die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten herauszustellen.

Die Medienwissenschaftlerin ROBIN CURTIS (Düsseldorf) stellte sich die Frage, was das „eigentlich“ im „… wie es eigentlich gewesen ist“ sei. Dazu stellte sie u.a. zwei biographische Filme zur innerfamiliären Aufarbeitung der NS-Zeit kontrastierend gegenüber. Das zentrale Erkenntnisinteresse Curtis‘ war die Vereinnahmung des Zuschauers durch Identifikation – die Immersion – da die Rezeption eines Films aus wissenschaftlicher Sicht ebenso wichtig sei wie der Inhalt. Die Rezeption würde neben den bereits erwähnten Paratexten auch durch die Positionierung des Filmemachers im Film beeinflusst. Malte Ludins „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß“ würde beispielsweise einen selbstherrlichen Autor in den Mittelpunkt stellen, wohingegen Jens Schanzes „Winterkinder“ sich durch die Unsichtbarkeit des Filmemachers auszeichne und damit eine immersive Selbstsituierung des Zuschauers evoziere.

In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass gerade die „Erfahrung der Wucht“ der bewegten Bilder den Unterschied zum Buch mache und den Effekt der Immersion signifikant verstärke.

Der Filmhistoriker KAY HOFFMAN (Stuttgart) betonte mit Hilfe ausgewählter Filmbeispiele, wie technische Entwicklungen erst bestimmte dokumentarische Methoden ermöglicht und zu medial vermittelten politischen Diskursen beigetragen hätten. Mit der Umsetzung längerer Aufnahmezeit seien so bahnbrechende Dokumentarfilme wie beispielsweise „Primary“ über die Vorwahl John F. Kennedys in Wisconsin 1960 erstmalig ermöglicht worden sein. In dieser Ära des „Direct Cinema“ sei dann auch die Bildästhetik in den Hintergrund gerückt und die Nähe des Geschehens zum zentralen Aspekt der Filmemacher geworden. Mit Sonys transportablem „Portapak“ sei dann Ende der 1960er ein regelrechter Boom losgetreten worden, der vor allem auch die „Videopioniere“ in der BRD der 1970er-Jahre beeinflusst habe. Eng mit den sozialen Bewegungen der 1980er-Jahre verknüpft sei anschließend die Entwicklung hin zum Do-It-Yourself Film geworden, was Hoffmann an der Anti-AKW-Bewegung in Freiburg und deren Medienwerkstatt verdeutlichte, die das Protestgeschehen deutschlandweit auf die Bildschirme brachte.

Auch der Filmwissenschaftler CHRISTIAN HISSNAUER (Göttingen) erörterte abschließend sehr eindrücklich die Wechselwirkung zwischen politischen Diskursen und dokumentarischen Filmen. So sei Heinz Hubers Film „Die deutsche Bundeswehr“ von 1956 bereits über die reine Abbildung eines politischen Diskurses hinausgegangen und habe durch seine kritische Kommentierung dazu beigetragen, dass Filme zukünftig auch politische Diskurse setzen konnten – populär umgesetzt in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten von der „Stuttgarter Schule“. Auch der neue Tierfilm habe in den 1970er-Jahren zu einer Politisierung in einem bis dahin unpolitischen Genre beigetragen. Immerhin startete die CDU/CSU die „Rotfunk“-Kampagne gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der in ihren Augen zu weit links stand. Hißnauer beklagte abschließend die Rückläufigkeit politisch kommentierter Dokumentarfilme und investigativer Formate – einen großen Anteil an dieser Entwicklung habe auch das Internet.

Über die eben genannte „Stuttgarter Schule“ hielt KAY HOFFMANN im Rahmen der „Lüdenscheider Gespräche“ noch einen unterhaltsamen Abendvortrag und illustrierte seine historischen Ausführungen auch vor einer nicht wissenschaftlichen Öffentlichkeit erneut mit reichem Bildmaterial.

Zu Beginn des zweiten Tages lieferten die Studierenden ANJA-BRIGITTA LUCKE und ANDREAS VALLEY aufschlussreiche Analysen der Filme „Eine Stadt wird geboren wie ein Kind“ und „Berlin Auguststraße“. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, inwieweit es in der DDR eine zivilgesellschaftliche Sphäre gab und wie sich diese im Dokumentarfilm wiederfinden lässt. Die anschließende Diskussion gewann durch die Anwesenheit des Regisseurs und Filmemachers GÜNTER JORDAN (Kleinmachnow) ihren besonderen Reiz, zumal Jordan auf zahlreiche Details und Hintergründe verweisen konnte, die den zivilgesellschaftlichen Anspruch beider Filme deutlich hervortreten ließen.

Deutlich aufgelockert wurde die Atmosphäre durch den Beitrag FRANK HILLEBRANDS (Hagen). Anhand einer praxistheoretischen Perspektive auf verschiedene Aspekte des Dokumentarfilms „Woodstock“ entzauberte er einen Teil des Woodstock-Mythos. So sei der Schein der Spontaneität in Anbetracht des gigantischen Bühnenaufbaus kaum zu wahren, auch die Hubschrauber, die unmittelbar nach dem großen Unwetter trockene Kleidung und Blumen regnen ließen, zeugten von ungeheuren Vorbereitungen. Auch die Professionalität des Films müsse von Anfang an zum Konzept des Festivals gehört haben, der somit den Mythos effektiv füttern konnte. Dennoch sei gerade für die Symbolizität der E-Gitarre der Auftritt von Jimi Hendrix epochemachend gewesen, was Hillebrandt zum Anlass nahm, auch kurz auf die technischen Vorbedingungen eines solchen Spektakels einzugehen.

FRANKA SCHÄFER (Hagen) knüpfte dort mit einer Filmanalyse zu den Yippie-Krawallen in Chicago 1968 an. Vor der Folie von Foucaults Diskurstheorie und der praxistheoretischen Erweiterung durch Latour konstatierte Schäfer eine Verknüpfung von Diskurs und Praxis, da es zwar nicht-diskursive Praktiken, nicht aber eine nicht-diskursive Praxis gebe. Als empirische Untersuchungsebene nutzt sie die neuen Protestpraktiken der Yippie-Bewegung rund um den Parteitag der Demokraten in Chicago, 1968. Laut ihres Praxissoziologischen Ansatzes sei bei dem Blick auf das Ereignis das Was und nicht das Wo und Wie entscheidend. Auf diese „Vollzugswirklichkeit“, bei der die Straße als Theater genutzt und Unbeteiligte miteinbezogen wurden, spielte auch erstmals die Polizei als Akteur ein Rolle. Betrachte man nun den Film, so gebe es laut Schäfer deutliche Wahrnehmungsunterschiede zwischen dem Rohmaterial und dem Schnitt – es würde eben nicht bloß beobachtet, sondern durch Auswahl und Dramaturgie des Films dem Diskurs erneut eine Ebene hinzugefügt.

Abschließend präsentierte die Filmemacherin ANDREA FIGL (Frankfurt) faszinierende Eindrücke sogenannter „Webdokus“. Dieses Format zukunftsweisender dokumentarischer Filme wird im Internet veröffentlicht und weist starke interaktive Elemente auf. So lässt sich beispielsweise spielerisch die Flucht von Mexiko in die USA nachvollziehen („The Migrant Trail“), indem man mit wenig Geld in der Tasche geschickt versuchen muss, den langen Marsch und den illegalen Grenzüberschritt zu überstehen. „Clouds over Sidra“ erzählt aus der Perspektive einer zwölfjährigen vom Leben in einem jordanischen Flüchtlingslager. Dabei hat man die Möglichkeit, den Bildausschnitt dank 360 Grad Aufnahmen selbst zu wählen und sich somit im Lager umzuschauen. In der Diskussion wird aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive angemerkt, dass vor allem Computerspiele mit historischen Hintergründen immer beliebter werden und dass man über die Auswertung von Forenbeiträgen möglicherweise Erkenntnisse über das Geschichtsverständnis der in erster Linie jugendlichen Nutzer lernen könne.

Nach zwei Tagen intensiven Austauschs konnte festgehalten werden, dass eine interdisziplinäre Verdichtung der vielen disparaten Ansätze zur wissenschaftlichen Behandlung von dokumentarischen Filmen wünschenswert wäre. Es handelte sich freilich auch um eine der allzu seltenen Gelegenheiten, die unterschiedlichen Fächer mit Vertretern der Medienpraxis an einen Tisch zu bekommen und über Kooperationsmöglichkeiten nachzudenken. Von einer solchen Entwicklung würden alle Disziplinen profitieren, sei es der theoretische Austausch zwischen Medienwissenschaftlern und Soziologen, sei es der methodologische Diskurs, der gerade von Historikern stark unterstützt werden könnte.

Konferenzübersicht:

Einführung

Thomas Weber (Institut für Medien und Kommunikation Hamburg): Der Dokumentarfilm aus der Perspektive der Medientheorie/-praxis

Carsten Heinze (Universität Hamburg): Der Dokumentarfilm und die audio/visuelle Soziologie

Arthur Schlegelmilch (FernUniversität Hagen): Der Dokumentarfilm und die Geschichtswissenschaft

Genres

Robin Curtis (Freie Universität Berlin): Auto-/Biografische dokumentarische Filme

Kay Hoffmann (Haus des Dokumentarfilms Stuttgart): Politischer Aktivismus (Direct Cinema)/Videoaktivismus (‚1968‘)

Christian Hißnauer (Universität Göttingen): Fernsehdokumentation und politischer Diskurs

Öffentlicher Vortrag
Kay Hoffmann (Haus des Dokumentarfilms Stuttgart): „Die Stuttgarter Schule“. Lüdenscheider Gespräch (Kulturhaus Lüdenscheid)

Fallbeispiele

Dokumentarfilm und Zivilgesellschaft. Dokumentarfilme als Akteure und Zeugnisse zivilgesellschaftlicher Entwicklungen in der DDR

Moderation: Arthur Schlegelmilch (FernUniversität Hagen); Günter Jordan (Kleinmachnow); Thomas Heise (Karlsruhe); Martin Schmidt (Hoyerswerda)

Jugend- und Popkultur

Frank Hillebrandt (FernUniversität Hagen): "Woodstock" - Schein und Wirklichkeit.

Franka Schäfer (FernUniversität Hagen): „Yippie Yippie Yeah, Krawall und Remmi Demmi“ - Protestpraktiken im Diskursgewimmel des Chicago Festival of Life und deren Analyse am Beispiel des Dokudramas „The Chicago 8“

Perspektiven

Andrea Figl (Wien): Aktuelle Entwicklungen und Zukunft des dokumentarischen Films in Kino, Fernsehen und Internet