Religiöse Erziehung, Bildung und Sozialisation im Wandel. Transnationale Grenzgänge und internationale Beziehungen

Religiöse Erziehung, Bildung und Sozialisation im Wandel. Transnationale Grenzgänge und internationale Beziehungen

Organisatoren
Fachbereich Evangelische Theologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main; Arbeitskreis für historische Religionspädagogik
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.04.2016 - 19.04.2016
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Von
David Käbisch, Fachbereich Evangelische Theologie, Goethe-Universität

Die religiöse Erziehung, Bildung und Sozialisation unterliegt einem Wandel, der auch die transnational und international orientierte Religionspädagogik herausfordert. Die auf dem Frankfurter Forschungskolloquium 2016 diskutierten Fallbeispiele dokumentieren dabei, dass insbesondere die raumbezogene Mobilität in den vergangenen 200 Jahren vielfältige Formen angenommen hat. Ausgehend von dem in der historischen Religions- und Bildungsforschung diskutierten transnationalen Ansatz konnten bereits auf den vorangehenden Jahrestagungen des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik1 2014 (in Neuendettelsau) und 2015 (in Frankfurt am Main) drei Fragestellungen identifizieren werden, die bei dem erneuten Treffen in Frankfurt 2016 vertieft wurden: Zum Ersten die Pfadabhängigkeit religiöser Bildung durch berufliche Mobilität und erzwungene Migration, zum Zweiten die Bedeutung der (Zivilisierungs-)Mission für den Transfer religiöser Bildungsmodelle, und zum Dritten das Übersetzungsproblem, wenn religiöse Akteure, Ideen und Praktiken die sprachlichen und kulturellen Grenzen einer Nation überschreiten.

KAROLIN WETJEN (Göttingen / Leipzig) legte in ihrem Eröffnungsvortrag „Christentum vermitteln. Religiöse Unterweisung als Christianity-Making in der Mission“ unter dieser Maßgabe dar, wie die Bildungsarbeit deutscher Missionare in Tansania auf die Religionspädagogik in Deutschland zurückwirkte. Anders als in komparativ-modernisierungstheoretischen Ansätzen üblich, werden in ihrer Studie nicht die Rechts-, Religions- und Bildungssysteme in der Kolonie und im Deutschen Reich miteinander verglichen, sondern im Zentrum stehen vielmehr die wechselseitigen Kommunikations-, Austausch- und Transferprozesse zwischen beiden Regionen und die dafür maßgeblichen Akteure, Netzwerke und Medien. Diese Forschungsperspektive nahm auch HEIN RETTER (Braunschweig) ein, der über die „Erziehung der Negroes in Tuskegee (Alabama, USA) durch Booker T. Washington“ sprach. Washingtons Konzept der Arbeitserziehung von Schwarzafrikanern im amerikanischen Tuskegee stieß u.a. bei der Norddeutschen Missionsgesellschaft auf Interesse, die es wiederum in Togo zu realisieren versuchte. In dieser an Austauschprozessen interessierten Perspektive wurde deutlich, dass Transfers stets in spezifischen Situationen (hier die Baumwollproduktion in Nordamerika und Afrika), durch spezifische Akteure (u.a. Washington) und Netzwerke (u.a. die beteiligten Missionsgesellschaften) stattfanden.

Eine weitere transatlantische Konstellation thematisierte ANDREAS OBERDORF (Münster) in seinem Vortrag über „Das Leben und Wirken des Demetrius Augustinus von Gallitzin (1770–1840)“. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dabei geistlichen Büchern, Katechismen, Bekehrungstexten, Erfahrungsberichten, pädagogischen Ratgebern und weiteren Medien des transatlantischen Wissenstransfers. Auch am Wirken dieses katholischen Theologen und Pädagogen wurde so deutlich, dass Kulturtransfers aus Einzeltransfers bestehen und niemals eine gesamte Religionskultur aus einem Kontext in einen anderen transferiert wird.

In der Komparatistik ist das Übersetzungsproblem, wie KERSTIN MÜLLER (Marburg) in ihrem Vortrag „Religiöse Bildung in den USA als Herausforderung einer komparativen Religionspädagogik“ darlegen konnte, ein nur unzureichend gelöstes Problem. Insbesondere an den Leitbegriffen der Nation, Religion und Konfession konnte Müller zeigen, dass diese Begriffe (wie auch die der Erziehung, Bildung und Erfahrung) einem bestimmten kulturellen Kontext verhaftet sind. Als tertium comparationis können sie daher für einen Vergleich nur schwerlich dienen. Diese Fragestellung vertiefte anschließend MORITZ EMMELMANN (Göttingen) ebenfalls an einer transatlantischen Konstellation, indem er über „Enzyklopädische, methodologische und studienleitende Innovationen der New Practical Theology unter Aufnahme von Friedrich Schleiermachers Kurzer Darstellung“ referierte. Mit David Tracy, Don S. Browning und Edward Farley wurden von Emmelmann drei leading figures daraufhin untersucht, wie sie unter Aufnahme Schleiermacherscher Gedanken auf Herausforderungen der Moderne in der theologischen Ausbildung reagiert haben. Damit steht zugleich die grenzüberschreitende Rezeption eines theologischen Klassikers im Zentrum des Forschungsinteresses, was Emmelmanns Studie anschlussfähig an das noch junge Forschungsfeld der translation studies macht.

Ergänzt wurde dieser Beitrag zur Geschichte der Praktischen Theologie um eine Studie zur „Geschichte der Kirchengeschichtsdidaktik“ von HARMJAN DAM (Frankfurt am Main). Am Beispiel Alberts Schweitzers konnte er u.a. wichtige Akzentverschiebungen in der religionsdidaktischen Großwetterlage nachzeichnen: In dem 1926 erschienenen Lehrbuch „Helden und Werke der Kirche“ steht mit Schweitzer die christliche Pflicht zur Mission, in den 1950er-Jahren das humanitär-zivilisatorische Handeln im Zentrum. In Schulbüchern der 1970er-Jahre finden sich demgegenüber kritische Töne zur „Spendenhilfe“ Schweitzers. Wie in dem Eingangsbeitrag von Wetjen konnte auf dieser Quellenbasis diskutiert werden, wie die von Deutschland ausgehende (Zivilisierungs-)Mission vielfältig auf die Bildungsarbeit in Deutschland zurückwirkte und mit dieser – bis heute – verflochten blieb.

Das Forschungskolloquium verstand sich als Autorentagung, bei der die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Projekte vorstellen und diskutieren konnten. Nachdem sich der Arbeitskreis für historische Religionspädagogik auf drei Jahrestagung (2014, 2015 und 2016) vertieft der transnationalen Religions- und Bildungsgeschichte gewidmet hat, wird sich die Tagung 2017 mit der ‚Wirkung‘ und der ‚Rezeption‘ antiker Bildungsvorstellungen in der Geschichte der Religionspädagogik beschäftigen. Die Tagung findet am 28./29. März 2017 in Verbindung mit dem SFB 1136 „Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum Klassischen Islam“ (TP C 05) an der Universität Göttingen statt. Die Tagungsleitung übernehmen Bernd Schröder (SFB 1136) und Johannes Wischmeyer (AKhistRP).

Konferenzübersicht:

DAVID KÄBISCH (Frankfurt am Main): Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema

I. Mission und Bildungstransfer

KAROLIN WETJEN (Göttingen): Christentum vermitteln. Religiöse Unterweisung als Christianity-Making in der Mission

HEIN RETTER (Braunschweig): Die Erziehung von »Negroes« zur Arbeit in Tuskegee (Alabama, USA) durch Booker T. Washington - Vorbild deutscher Missionstheologen für die Arbeitserziehung bekehrter »Neger« nach 1900

HARMJAN DAM (Frankfurt am Main): Mission und Ökumene als Thema in Schulbüchern. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchengeschichtsdidaktik

II. Transatlantische Konstellationen

ANDREAS OBERDORF (Münster): Von Münster nach Amerika. Das Leben und Wirken des Demetrius Augustinus von Gallitzin (1770-1840). Überlegungen zu einem transatlantischen »Bildungsraum« der Katholischen Aufklärung

MORITZ EMMELMANN (Göttingen): Praktische Theologie in den USA und Friedrich Schleiermacher: Eine Fallstudie zur Rezeption seiner Kurzen Darstellung durch die »Neue Praktische Theologie«

KERSTIN MÜLLER (Marburg): Religiöse Bildung in den USA als Herausforderung einer komparativen Religionspädagogik

III. Transnationale Aspekte in Lokal- und Regionalstudien

KATARZYNA PIEPER-BRANDSTÄDTER (Bremen): Adelserziehung an den katholisch geprägten Schulen als Fundament der polnischen Mentalität an der Schwelle der Aufklärung

JONAS FLÖTER (Leipzig): „Oesterreichs Einheit ruht auf dem gemeinsamen Bildungsgang…“ Die Bedeutung des Neuhumanismus für die Entwicklung des K.K. Staats-Gymnasiums Czernowitz im 19. Jahrhundert

MONIKA JAKOBS (Luzern): Staat, Bildung und Religion in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Transnationale Einflüsse im Zeitalter der Nationalisierung von Erziehung

GREGOR REIMANN (Jena): Das Volksbildungsinteresse der »Religionsgeschichtlichen Schule«. Transnationale Aspekte der religionsgeschichtlichen Erwachsenenbildung von 1890 bis 1920

SYLVIA KLEEBERG-HÖRNLEIN (Jena): »Heimat und Modernisierung«. Ein Forschungsprojekt zu lokalen Bewältigungsstrategien gesellschaftlicher Modernisierungskrisen am Beispiel evangelischer Gemeinde- und Sonntagsblätter aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

IV. Personen- und werkbezogene Zugänge

HEIN RETTER (Braunschweig): Europa, katholische Selbstbehauptung in Krisenzeiten und die eugenische Reinhaltung der Familie. Zeithistorisches zum deutschen Erziehungswissenschaftler Friedrich Schneider

ANTJE ROGGENKAMP (Münster): Literarische Erzählungen als Quellen der transnationalen Religions- und Bildungsforschung. Eine religionspädagogische Annäherung

V. Transnationale Diskurse heute

ALMA MIRA DEMSZKY (München): Religiöse Übersetzungskonflikte in historischer und soziologischer Perspektive. Eine Untersuchung zur religiös motivierten Knabenbeschneidung

JULIA BLANC (Belfort): Ökokatholizismus als Bildungsarbeit. Ein europaweiter Überblick auf Basis der CCEE-Umfrage aus dem Jahr 2007

Anmerkung:
1 Der Sprecherrat des Arbeitskreises für historische Religionspädagogik besteht gegenwärtig aus Johannes Wischmeyer (Mainz), Antje Roggenkamp (Münster), Werner Simon (Mainz), Michael Wermke (Jena) und David Käbisch (Frankfurt am Main). Weitere Informationen zum SFB und dem Arbeitskreis finden Sie unter http://www.uni-goettingen.de/de/517150.html und http://www.theologie.uni-jena.de/AK_hist_RP.html (13.03.2017).


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