HT 2016: Jenseits der Erzählung. Über die Erkenntnispotentiale der Form

HT 2016: Jenseits der Erzählung. Über die Erkenntnispotentiale der Form

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Laura Busse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Konzise Darstellung. Noch zu literarisch.“ Diese fünf Worte der Bewertung, so erinnerte sich der Historiker und Journalist GUSTAV SEIBT (München), Teilnehmer des Panels „Jenseits der Erzählung“, fanden sich unter einer seiner Seminararbeiten zu Studienzeiten. Die Tinte ist längst getrocknet, doch sind die Fragen, die sich mit diesen fünf Worten seines Professors stellen, hoch aktuell. „Zu literarisch“? – Eine Bewertung mit nicht zu unterschätzender Durchschlagskraft. Denn die Aussage impliziert das grundsätzliche Verständnis einer Separation zweier Disziplinen, die – rein intuitiv – eigentlich einen symbiotischen Charakter haben. Denn: „Geschichte ist doch Text“, so konstatierte es auch DIRK VAN LAAK (Gießen) in seinem einführenden Vortrag des Panels. Doch offensichtlich besteht das Bedürfnis der (gegenseitigen) Abgrenzung von Geschichtswissenschaft und Erzählung. Liegt nicht schon im Wortsinn (Wissenschaft versus Erzählung) eine implizierte Wertung? Hier stellt sich sogleich die Frage, wie möglich oder gar sinnvoll eine trennscharfe Abgrenzung der Geschichtswissenschaft aus ihrer literarischen Umgebung und akademischen Nachbarschaft überhaupt ist. In welcher Beziehung stehen Form und Erkenntnis? Wie kann Evidenz sprachlich hergestellt werden? Welche rhetorischen Spielräume hat überdies die Geschichtswissenschaft? Und welchen Stellenwert kann und darf dabei Ästhetik im wissenschaftlichen Schreiben einnehmen? Gibt es eine, und wenn ja, wo ist die Grenze zur Prosa? So skizzierte van Laak in seinem Impulsvortag die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Literatur, die vor allem eine Frage eines Spannungs- und Wechselverhältnis der beiden Disziplinen sei. Ein kurzer Exkurs in die antike Geschichtsschreibung sollte dabei als historischer Kontext genügen, denn Ziel des Nachmittagspanels sei es nicht, wie van Laak betonte, 2.000 Jahre Rivalität von Geschichtswissenschaft und Literatur auszubreiten, sondern die Aktualität des Themas zu eruieren, Horizonte zu skizzieren und möglicherweise neue Perspektiven – auch für Studium und Lehre – zu eröffnen.

In der ersten Hälfte des Panels erlaubten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Podiumsdiskussion einen Blick in ihre Schreibwerkstatt und ihren – wie es MICHAEL WILDT (Berlin) umschrieb – literarischen Werkzeugkasten. Die Runde eröffnete SILVIA SERENA TSCHOPP (Augsburg), die sich als Professorin für Europäische Kulturgeschichte dafür aussprach, vermehrt rhetorische Stilmittel und literarische Kunstfiguren für eine Literarisierung des wissenschaftlichen Schreibens wirksam zu machen, um so in einem amalgamierenden Prozess eine „wissenschaftliche Prosa“ auszubilden. Auch GUSTAV SEIBT schloss mit seinem Beitrag thematisch an mögliche Darstellungsmodi an. Wenn er schreibe, so berichtete Seibt, versuche er, sich der Erkenntnis aus vielen verschiedenen Perspektiven über historische Details zu nähern. Eine solch prismatische Annäherung an einen Forschungsgegenstand sei stilistisch elegant und gleichzeitig wissenschaftlich wertvoll, da diese Details kontingent seien. Dadurch werde der Erzählprozess gestreckt und die Erzählzeit quasi künstlich verlangsamt. Diese „Mosaiktechnik“ ermögliche es so, eine maximale literarische Detailtreue auszuleuchten. HAZEL ROSENSTRAUCH (Berlin) hob in ihrem Beitrag hervor, wie wichtig die Entwicklung einer eigenen Sprache sei, die ohne „Fertigteile“ auskomme. Dies mache Texte glaubwürdig. Rosenstrauch, die sich mit dem Stellenwert historischer Quellen als literarisches Material auseinandersetzte, unterstrich, man müsse sich die Quelle, mit der man arbeitet, restlos aneignen. Das Material müsse dabei „verwandelt werden“, bis man eine geeignete Sprache für die daraus generierte Erkenntnis finde. Dabei sei vor allem wertvoll, den Prozess der Erkenntnisfindung offenzulegen. Auch PER LEO (Berlin) sprach sich dafür aus, den reflexiven Diskurs zum Bestandteil der Arbeit zu machen. Um die Sprache zum zentralen Konvergenzpunkt von Inhalt und Ästhetik zu machen, sei kein „Exzess des Stils“ nötig. In diesem Punkt stimmten Per Leo und Dirk van Laak in ihrer Argumentation überein. Der/die Historiker/in sei, so führte Leo weiter aus, qua Amt in einem bestimmten literarischen Rahmen konstituiert, innerhalb dessen sich ein breites Feld der Möglichkeiten biete.

Nach der ersten Hälfte des Panels zog Dirk van Laak das Resümee, dass die Bemühung um die Lesbarkeit des Textes wieder stärker in den Fokus genommen werden sollte. Wie auch Rosenstrauch ausführte, tendieren wissenschaftliche Texte hin und wieder dazu, in Sphären der Verklausulierung abzudriften respektive sperrig formuliert zu sein, was oft dem Glauben geschuldet sei, durch den Einsatz von Fachtermini einen wissenschaftlichen Text aufzuwerten. Doch wie – so stellte Rosenstrauch die Frage in die Runde – kann ein Stoff vermittelt werden, ohne dass einerseits die Komplexität verloren geht, andererseits der Inhalt völlig abstrakt wird? Michael Wildt schlug in diesem Kontext vor, eine Art Collage-Technik, angelehnt an die Arbeiten der Künstlerin Hannah Höch für das wissenschaftliche Schreiben im übertragenden Sinne fruchtbar zu machen. Die Dada-Künstlerin nutze die komplexe Struktur der mehrdimensionalen Klebetechnik dazu, ein Gefüge von unter und über verlaufenden Motiven zu konstruieren, das von einer fundamentalen Konstruktion gestützt wird. Ähnlich könnte man die Technik auf das wissenschaftliche Schreiben anwenden. Mehrdimensionalität bezüglich der Genre, oder wie Per Leo formulierte, eine „pendelnde Bewegung“ erlaubten es, zwischen den Ebenen zu changieren und so zur Konstruktion eines gelungenen wissenschaftlichen Textes beizutragen. Denn nicht jeder Text lasse sich auf nur eine Gattung reduzieren, zumal die Quelle selbst die Form mitschreibt. Je ungezwungener sich daher eine Schreibtechnik in ihrer Disziplin bewegt, um so günstiger sei dies für das Gesamtwerk. Die wissenschaftliche Textproduktion könnte als eine Art synthetische Technik begriffen werden, die erst in ihrer Montage zur Königsdisziplin avanciert.

Der zweite Teil des Panels öffnete die Diskussion ins Plenum, wobei die Vielzahl der Wortbeiträge das eminente Interesse am Thema widerspiegelten. Allerdings kam das Ungleichgewicht zwischen den Lehrangeboten für klassische historische Hilfswissenschaften und der Einbindung wissenschaftlicher Schreibpraxis ins Grundstudium an den geschichtswissenschaftlichen Instituten in der Diskussion kaum noch zur Sprache. Vielmehr konzentrierte sich die Debatte auf Fragen nach dem Erkenntnisgewinn oder -verlust durch die „Form“. Kritik wurde vor allem daran geübt, dass vielfach über ein so genanntes „schönes Schreiben“ gesprochen werde, wobei „schön“ mit dem Hinzufügen rhetorischer Stilmittel gleichgesetzt werde. Letztlich waren sich Podiumsteilnehmer/innen und Plenum doch einig, dass „schön“ nicht auf eine reine Wahrnehmungsästhetik durch Stilmittel und Kunstfiguren zu reduzieren sei, sondern ein erkenntnistheoretischer Gewinn vielmehr auf eine symbolische Ordnung zurückzuführen ist, die durch literarische (Stil-)Mittel und sprachliche Verdichtungen herbeigeführt werden kann. Ebenfalls fanden Partizipient/innen und Plenum einen Konsens darin, dass es keiner Opposition zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben bedarf. Vor allem da – dies pointierte Michael Wildt – der Geschichtswissenschaft per se der Umstand zu Grunde liegt, sich aus oszillierenden Diskontinuitäten und Gleichzeitigkeiten zu begründen und sie so als „Genre“ nur schwerlich trennscharf von seiner Nachbarschaft abgegrenzt werden kann. Vielleicht müsse man bei dem Versuch einer Definition noch einen Schritt zurückgehen und vor dem Versuch zu Ab- und Begrenzungen zunächst definieren, wie sich Geschichtswissenschaft überhaupt konstituiert und wo identifizierbar fachspezifische Grenzen existieren. Für manche Themen ist bis heute kaum eine adäquate Form gefunden. Hinzu kommt, dass jeder (wissenschaftliche) Text über seinen Inhalt hinaus einen historischen Wert hat. Wie ein Wortbeitrag im Plenum völlig überzeugend dargelegte, ändern sich sowohl die Lesegewohnheiten der Rezipient/innen wie auch der Duktus der Autor/innen mit ihrer Zeit. Zum Schluss kann zusammenfasst werden, dass es kein allgemein gültiges „Rezept“ zum geschichtswissenschaftlichen Schreiben gibt. Jedoch: Jeder gute Text verlangt ein Zusammenspiel von Form und Inhalt. So könnte zum Beispiel eine Art Montage-Technik dienlich sein, wobei vielfältige Stil- und Methodenfragmente, manchmal mit fließenden Übergängen, manchmal mit akzentuiert hart gesetzten Schnittkanten einem Text Struktur und Signum verliehen. Anregungen bot das Panel allemal; nun liegt es bei den Autor/innen, mehr Mut zum stilistischen Experiment auch bzw. gerade bei geschichtswissenschaftlichen Texten zu entwickeln.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Dirk van Laak (Gießen) / Michael Wildt (Berlin) / Per Leo (Berlin)

Michael Wildt (Berlin)

Dirk van Laak (Gießen)

Per Leo (Berlin)

Hazel Rosenstrauch (Berlin)

Gustav Seibt (München)

Silvia Serena Tschopp (Augsburg)


Redaktion
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