Sozialpolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Traditionen und europäischer Neuordnung. Autonomie und postnationale Territorialität

Sozialpolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Traditionen und europäischer Neuordnung. Autonomie und postnationale Territorialität

Organisatoren
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) / Fondation Maisondes Sciences de l’Homme (FMSH) / Villa Vigoni
Ort
Menaggio
Land
Italy
Vom - Bis
05.09.2016 - 08.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Nikola Tietze, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (WiKu)

Vom 5. Bis zum 8. September 2016 fand in der Villa Vigoni, Loveno die Menaggio (CO), die zweite Konferenz des italienisch-französisch-deutschen Forschungsnetzwerks „Sozialpolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Traditionen und europäischer Neuordnung“ statt. PAOLO ROBERTO GRAZIANO (Padua / Brüssel), SILKE BOTHFELD (Bremen) und INGO BODE (Kassel) bereicherten mit ihren Vorträgen die Reflexion und Diskussion der Mitglieder des Forschungsnetzwerks. Die zentralen Themen der Konferenz waren zum einen der activation turn und seine Folgen für die Konzeption sowie Umsetzung von Sozialpolitik auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene und zum anderen die postnationale Territorialität, die das sozialpolitische Handeln auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in der Europäischen Union (EU) und deren Mitgliedstaaten Italien, Frankreich und Deutschland ordnet und rahmt. Mit diesen thematischen Schwerpunkten griffen die Koordinatorinnen der Konferenz, STEFANIE BÖRNER (Magdeburg), MONIKA EIGMÜLLER (Flensburg), NIKOLA TIETZE (Hamburg) und HEIKE WIETERS (Berlin), Fragestellungen auf, die aus der Auseinandersetzung mit den Traditionen der nationalen Sozialpolitiken in Deutschland, Frankreich und Italien auf der ersten Konferenz im November 2015 hervorgegangen waren 1.

Die Implikationen des activation turn für die Konzeption und Umsetzung der Sozialpolitiken in Deutschland, Frankreich und Italien zu erfassen, verlangt, wie Stefanie Börner in der Einführung zum ersten Themenschwerpunkt hervorhob, eine Beschreibung der normativen Verschiebungen, die der aktivierungspolitische Diskurs in den erwerbszentrierten und beitragsbasierten Wohlfahrtsstaatsregimen wie Deutschland, Frankreich und Italien herbeiführt. Dreh- und Angelpunkt dieser normativen Verschiebungen sei der sozial- und beschäftigungspolitische Fokus auf die individuelle Selbstverantwortung, die den Zugang zum und die Teilnahme am Arbeitsmarkt dem aktivierungspolitischen Credo zufolge erleichtere. Die aktivierungspolitische Ausrichtung auf beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahmen führe nicht nur zu Änderungen der Arbeits- und Sozialgesetze (etwa in Frankreich und Deutschland), zu Reformen administrativer Zuständigkeiten (etwa in Italien) und zu Umgestaltungen von Ansprüchen und Zugangsbedingungen zu sozialpolitischen Leistungen (wie es in allen drei Ländern zu beobachten ist). Vor allem beinhaltet sie nach Börner eine spezifische ökonomisch sowie marktwirtschaftlich begründete Konzeption von Autonomie, die sowohl das Beziehungsverhältnis zwischen Bürgerinnen bzw. Bürgern und Institutionen transformiert als auch rescaling-Prozesse in der Finanzierung, Verteilung und Umsetzung sozialpolitischer Aufgaben generiert. Die EU und die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten stellen, so Börner weiter, zentrale Akteure für die Legitimation der mit dem activation turn verbundenen moralischen Ökonomie dar. Hierbei beruht die Durchsetzung der normativen Verschiebungen auf den Machtverhältnissen zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen diesen und den EU-Instanzen wie auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, wie im Laufe der Konferenz – u. a. im Rückgriff auf die Reflexionen während des ersten Treffens des Netzwerks im November 2015 (z. B. im Hinblick auf die Entwicklungen der middle class und bezüglich der Krise in der Eurozone) – immer wieder hervorgehoben wurde.

Paolo Roberto Graziano verwies in seinem Vortrag „Activation Turn im Mehrebenensystem der EU: Theoretische, empirische und normative Herausforderungen“ auf die klassischen Konfliktkonstellationen, die zwischen staatlichen Institutionen sowie politischen Parteien, Arbeitgeber- sowie Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften in konkreten Auseinandersetzungen über die normativen und aktivierungspolitisch begründeten Verschiebungen entstehen. In Italien zum Beispiel seien solche Verschiebungen durchgesetzt worden, weil die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände ihre grundsätzlichen und seit langem bestehenden Positionen auf der Basis des Aktivierungsdiskurses und seiner Topoi „mehr Flexibilität“ und „weniger unproduktive öffentliche Ausgaben“ gefestigt und gestärkt hätten. Gleichzeitig hätten die in den italienischen Regierungen vertretenen linken Parteien im Zeitraum zwischen dem Amsterdamer Vertrag und der italienischen Arbeitsmarktreform 2015 ihre Prioritäten geändert und hätten wiederum die Gewerkschaften den Aktivierungsdiskurs als einzig maßgeblichen Ansatz in den Verhandlungen akzeptiert. Nach Graziano stellt der Aktivierungsdiskurs, der letztendlich auf der empirischen Ebene heterogene und mitunter widersprüchliche Ausdrucksformen findet, eine normative Herausforderung dar, weil er die Perspektiven der Akteure für Lösungen der Beschäftigungskrise reduziert bzw. alternativen Perspektiven die Relevanz im Konfliktgeschehen nimmt. Insofern sind die sich durchsetzenden normativen Verschiebungen nicht das Ergebnis einer allmächtiger werdenden EU oder der Regierung eines allmächtigen Mitgliedstaats, sondern resultieren daraus, dass die Akteure in den verschiedenen Konflikten im Rahmen der Beschäftigungskrise keine anderen Lösungen als die des Aktivierungsdiskurses thematisieren.

Stefanie Börner und SEBASTIAN BÜTTNER (Nürnberg-Erlangen) führten in ihrem Vortrag „Kann man Regionen aktivieren? Versuch einer Anwendung“ vor Augen, dass der Aktivierungsdiskurs nicht nur Individuen, sondern auch territoriale administrative Einheiten – wie Regionen und Kommunen – adressiert. Diesbezüglich nahmen die beiden Soziologen die Reflexionen der ersten Konferenz des Netzwerks im November 2015 hinsichtlich der Veränderungen sozialpolitischer Traditionen in Italien wieder auf und stellten in einer verallgemeinernden Perspektive die sich wandelnden Verknüpfungen zwischen Sozialpolitik und territorialen Ordnungen dar. Ihnen zufolge stellt der Aktivierungsdiskurs ein zentrales Element in der Legitimation der Umgestaltung der territorialen wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen in den EU-Mitgliedsländern dar. Regionen oder auch Städte würden in diesem Zusammenhang als marktwirtschaftliche Räume verstanden, deren Ressourcen und Bevölkerung im Hinblick auf Wettbewerb und Beschäftigung „aktiviert“ werden sollen und müssen. Mit der Ökonomisierung der regionalen wie auch kommunalen Einheiten und deren historischen Selbstverständnissen geht, so Börner und Büttner, eine veränderte Konzeption wohlfahrtsstaatlichen Handelns einher. Die subnationalen territorialen Ebenen setzen die nationale Wohlfahrtsstaatlichkeit nicht mehr, wie im klassischen Nationalstaat, einfach um, sondern sind angehalten, die Wohlfahrtsstaatlichkeit über aktivierungspolitisch konzipierte Verträge und Anreize in ihr marktwirtschaftliches Handeln zu integrieren. In dieser Hinsicht bestehen, wie Börner und Büttner schlussfolgern, zwischen den mit dem Aktivierungsdiskurs begründeten normativen Verschiebungen und dem territorialen governance-Ansatz ein interdependentes Verhältnis und mitunter ein konstitutiver Zusammenhang. Die Politik auf der EU-Ebene, insbesondere im Rahmen der sogenannten Kohäsionspolitik der EU, wie auch die Institutionalisierung der europäischen Vertretung subnationaler Einheiten, etwa der Ausschuss der Regionen oder das von der Kommission unterstützte Netzwerk „Eurocities“, würden dieses Verhältnis und diesen Zusammenhang fördern und stabilisieren.

Silke Bothfeld ging in ihrem Vortrag „Autonomie – ein neues Gestaltungsprinzip moderner Sozialpolitik“ den Beziehungen zwischen institutionellem Wandel und normativen aktivierungspolitisch durchgesetzten Verschiebungen nach. Sie fragte auf der Basis eines drei-dimensionalen (a. individuellen, b. gesellschaftlichen und c. politischen) Autonomieverständnisses nach den Impulsen, die das aktivierungspolitische Konzept der Selbstverantwortung für die etablierten Regime der Sozialbürgerschaft (social citizenship) und für den Zugang zu sozialen Rechten setzt. Nach Bothfeld führt das aktivierungspolitische Konzept der Selbstverantwortung dort, wo es dank institutioneller Reformen durchgesetzt worden ist, (a.) bezüglich der sozialpolitischen Aufgabe, individuelle Autonomie mithilfe de-kommodifizierender Maßnahmen zu stützen und zu sichern, zu Kürzungen in der Laufzeit von Ansprüchen und zu Einschränkungen im Zugang zu Rechten; (b.) bezüglich der sozialpolitischen Aufgabe, die gesellschaftliche Autonomie der Individuen im Hinblick auf Fragen ihres sozialen Status und ihrer Teilhabe an den gesellschaftlichen Beziehungen sicherzustellen, zur Einführung neuer kaum zu überwindender Statusgrenzen oder zu deren Verfestigung; (c.) bezüglich der sozialpolitischen Aufgabe, die politische Autonomie und insofern staatsbürgerliches Engagement zu ermöglichen, zu einer unübersichtlichen Fragmentierung und zu entsprechender Erwartungsunsicherheit.

In seinem Vortrag „Aktivierungspolitik, Akteursautonomie und Klassenungleichheit“ verdeutlichte HADRIEN CLOUET (Paris) den Zusammenhang zwischen aktivierungspolitischem Diskurs, institutioneller Praxis und „Interaktionen am Schalter“ (interactions au guichet). Anhand einer vergleichenden Untersuchung, die Clouet über die Beratungspraxis in deutschen und französischen Arbeitsagenturen (Bundesagentur für Arbeit, Jobcenter, pôles d’emploi) durchgeführt hat, bestätigte er nicht nur Bothfelds Schlussfolgerungen im Hinblick auf das aktivierungspolitische Konzept der Selbstverantwortung, sondern vermittelte ebenfalls einen eindrucksvollen Einblick in die institutionalisierte aktivierungspolitische Praxis und deren Instrumente wie auch in die Interaktionen zwischen Vertretern dieser Praxis und Arbeitssuchenden. Zugleich hob er die länderspezifischen Begrifflichkeiten (demandeurs d’emploi, Bewerber, Kunden) und Kategorisierungen hervor, die in Deutschland und Frankreich zu unterschiedlichen Definitionen der Arbeitssuche und der damit verbundenen Zumutbarkeiten wie auch zu unterschiedlich ausgestalteten Ansprüchen sowie Verpflichtungen von Arbeitssuchenden führen. Der activation turn, mit dem die OCDE (Organisation for Economic Co-operation and Development) und die EU die Normen der ILO (International Labor Organization) ersetzen würden, nimmt, so Clouet weiter, jeweils eine spezifisch nationale Entwicklung. Die drei Säulen der deutschen und französischen Aktivierungspolitik (new public management, Profilierung, härtere Kontrollen) finden infolgedessen ihren Ausdruck in unterschiedlichen nationalen Kategorisierungspraktiken, die in „Interaktionen am Schalter“ produziert und reproduziert werden.

Im zweiten Teil der Konferenz ging das italienisch-deutsch-französische Forschungsnetzwerk auf der Basis einer Reflexion über postnationale Territorialität den Widersprüchen zwischen sozialpolitischen Europäisierungsprozessen und länderspezifischen Entwicklungen nach.

In ihrer Einführung zur postnationalen Territorialität fasste Monika Eigmüller anhand von vier Punkten die Dynamiken zusammen, die in soziologischer Perspektive zur Herausbildung einer EU-Sozialpolitik geführt und gleichzeitig das Territorialitätsprinzip sozialstaatlichen Handelns transformiert haben. Zunächst nannte sie die Bemühungen der Europäischen Kommission, ihre Kompetenzen im Feld der Sozialpolitik auszubauen und dadurch die Identifikation der (zunächst als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstandenen) Bürgerinnen und Bürger mit dem Binnenmarkt zu stärken. Die Bestrebungen, den europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen, Mobilitätshemmnisse abzubauen und Wettbewerbsverzerrungen auf dem gemeinsamen Markt zu verhindern, ließen zudem den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu einem Akteur werden, der vor allem durch seine arbeitsrechtlichen Urteile die Ausweitung europäischer sozialpolitischer Kompetenzen vorangetrieben hat 2. Drittens kam es im sozialpolitischen Feld – aufgrund befürchteter Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche nationale soziale Standards in den Ländern des Binnenmarkts –zu einer „negativen Integrationslogik“ (Scharpf), wie Eigmüller die sozialwissenschaftliche Literatur zu diesem Thema zusammenfasste. Die mit dem Vertrag von Maastricht 1993 eingeführte Unionsbürgerschaft führte viertens dazu, dass die sozialpolitischen Ordnungen der EU-Mitgliedsländer als soziale Anspruchsrechte der Bürgerinnen und Bürger in den Blick kamen. Losgelöst von ökonomischen Notwendigkeiten entstanden dadurch im supranationalen EU-Raum europäische sozialpolitische Problemstellungen und Forderungen, was zum Beispiel in der Gleichstellung und Antidiskriminierungspolitik, bei Bekämpfung von Armut und Exklusion oder auch bei Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz vor Augen tritt. Die vier Dynamiken haben, so Eigmüller, die für den klassischen Nationalstaat grundlegende Verkoppelung von nationalen Mitgliedschafts- und geographischen Nationalstaatsräumen (Ferrera) aufgelöst und insofern die für das Territorialitätsprinzip charakteristische Unterscheidung zwischen dem innenpolitischen nationalen Hier und dem auspolitischen nationalen Dort transformiert. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage nach dem Beziehungsverhältnis, das postnationale territoriale Regulierungen mit dem Aktivierungsdiskurs – mit den normativen Verschiebungen in sozialpolitischen Maßnahmen, Reformen des Arbeitsmarkts, Beschäftigungspolitik oder auch Aktivierung subnationaler territorialer Einheiten etc. – eingehen.

Ingo Bode nahm in seinem Vortrag mit dem Titel „Wohlfahrtsmärkte und ihr Schicksal im neuen Europa“ die von Eigmüller angedeutete Dynamik der „negativen Integration“ auf und beschrieb in diesem Sinn die zu beobachtende „Vermarktlichung“ nationaler wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (z.B. private Anbieter übernehmen als „Dienstleister“ beschäftigungspolitische Aufgaben; Wettbewerb zwischen Anbietern der Sozialarbeit; Konkurrenz in der Gesundheitsversorgung und im care-Bereich). Er verortete diese Dynamik jedoch weniger in der EU als in internationalen Entwicklungen. Nach Bode hat die ökonomische Machtverteilung auf der globalen Ebene zur wachsenden Bedeutung von wohlfahrtsstaatlichen Industrien geführt. Für die Durchsetzungsmacht der „Vermarktlichung“ sei darüber hinaus die neuartige Verbindung zwischen Kapital und Sozialdemokratie entscheidend, die in der Phase der New Labour Regierungen in Großbritannien von Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre ihren Ausdruck gefunden habe. Doch verläuft der Vermarktlichungsprozess weder gradlinig noch eindimensional in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten, wie Bode hervorhob. Je nach wohlfahrtsstaatlichem Sektor und je nach nationalen Traditionen der Wohlfahrtsstaatlichkeit würde die Rationalität der „Vermarktlichung“ in anderer Weise private Akteure gegenüber staatlichen sozialpolitischen Institutionen in Stellung bringen. Die Kehrseite davon ist, wie in der Diskussion von Bodes Vortrag unterstrichen wurde, dass die Vermarktlichungsprozesse in Frankreich, Italien und Deutschland in einem Zusammenhang mit historisch zu untersuchenden Pfadabhängigkeiten ständen und nicht zuletzt durch die Widerstandsfähigkeit nationaler sozialpolitischer Institutionen bestimmt würden.

In dieser Hinsicht erläuterte Heike Wieters in ihrem geschichtswissenschaftlichen Vortrag „Private Akteure im Wohlfahrtsstaat. Deutsche Lebensversicherer und die Europäisierung der Alterssicherung nach dem 2. Weltkrieg“, dass private Akteure für das Alterssicherungssystem in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit den 1950er-Jahren eine stetig wachsende Rolle gespielt haben. Das Zusammenspiel zwischen Lebensversicherern, ihren Interessenverbänden sowie Staat und Bürgern hat sich seit jener Zeit kontinuierlich verändert. Sowohl die Anzahl an privaten Lebensversicherungspolicen als auch die Versicherungssummen erhöhten sich spätestens seit den 1960er Jahren deutlich (also lange vor Einführung der privaten Riesterrente 2000), da zunehmend auch gehobene Angestellte und abhängig Beschäftigte aus der Mittelschicht Lebensversicherungen als zusätzliche Form der Altersvorsorge und als Mittel des generationenübergreifenden Wohlstandstransfers nutzten. Zudem mischten sich private Lebensversicherer sehr bewusst in sozialpolitische Debatten in der Bundesrepublik ein und ergänzten institutionelle Altersvorsorgearrangements, so dass der nationale Gesetzgeber steuerliche Anreize für private Vorsorge gewährte. Der diskursive Topos der Selbstverantwortung und des Sparens, der auf der Seite der Unternehmer von Beginn an propagiert wurde und der vordergründig erst in den 2000er Jahren im Rahmen des Aktivierungsdiskurses zu normativen Verschiebungen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik geführt hat, lässt sich folglich in Deutschland im Zusammenhang mit der Altersvorsorge schon sehr viel früher beobachten und anhand von Privatisierungs- und Vermarktlichungsprozessen beschreiben. Dies betrifft nicht nur die Bundesrepublik selbst, sondern auch den europäischen Markt, auf dem Versicherungsleistungen zunehmend wie Waren oder Kapital grenzüberschreitend angeboten werden. Gegenwärtig stellen private Versicherungen, z.B. Allianz oder Victoria, intermediäre Organisationen dar, die eine Vermittlerrolle zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen einnehmen können. Wieters geschichtswissenschaftlicher Blick auf die private Altersversicherungen verdeutlichte (neben den vier von Eigmüller genannten Dynamiken) eine weitere postnationale Territorialität verstärkende Dynamik und deren Akteure: Multinationale Unternehmen des Dienstleistungssektors, die den gemeinsamen europäischen Markt nicht nur als Wirtschaftsraum für den eigenen Profit, sondern auch als normativen Gestaltungsraum für sozialpolitische Arrangements wie etwa für das europaweit als Leitbild propagierte „Drei Säulen Modell“ der Altersvorsorge zu nutzen wussten.

OLIVIER GIRAUD (Paris) ging auf der Grundlage der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung über long-term-care Maßnahmen und Einrichtungen in Edinburgh und Hamburg in politikwissenschaftlicher Perspektive auf das Verhältnis von Territorialität und privaten Akteuren in der Sozialpolitik ein. In seinen Beobachtungen der Privatisierung im long-term-care Bereich (Übergang der Einrichtungen in Privateigentum, öffentliche Finanzierungen von privaten Dienstleistungen, deregulierender Eintritt von privaten Anbietern in vormals von öffentlichen Einrichtungen beherrschte Wohlfahrtsmärkte) differenzierte er zwischen deutschen und schottischen sozialpolitischen Traditionen des long-term-care (z. B. starke private Wohlfahrtsverbände in Deutschland und zentrale Stadtverwaltungen mit wenig privaten Anbietern in Schottland). Vor dem Hintergrund dieser nationalen Traditionen beschrieb er die Reformen im long-term-care Bereich in Hamburg als nachfragebestimmte Privatisierung, die u. a. aufgrund der Forderungen nach Mitspracherechten bei der Regulierung zu einer Politisierung des Bereichs der Langzeitpflege geführt habe, in Edinburgh hingegen als angebotsbestimmte Privatisierung, die den Langzeitpflege-Bereich durch verstärkte Marktregulation entpolitisiert habe. Girauds Vortrag verwies – jenseits der Ergebnisse seiner empirischen Untersuchung – auf die Fähigkeit subnationaler Ebenen, gesellschaftspolitische Probleme (public problems) zu definieren und mit europäischen Dynamiken zu verschränken.

Nachdem die erste Konferenz des Forschungsnetzwerks im November 2015 die Sozialpolitiken in Italien, Frankreich und Deutschland die Pluralität der Prozesse im national-europäischen Spannungsfeld der Sozialpolitik vor Augen geführt hatte, eröffnete die zweite Konferenz den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit, die Widersprüche, Ambivalenzen und Brüche in den Prozessen in den Blick zu nehmen. Deutlich wurde, dass die Aneignungs- und Umsetzungsformen europäischer sozialpolitischer Impulse wie des Aktivierungsdiskurses zeitlich und räumlich situierten Rationalitäten folgen – und zwar sowohl trotz als auch wegen der etablierten postnational-territorialen Ordnungsstrukturen. In dieser Hinsicht stellt sich – jenseits der konvergierenden normativen Verschiebungen in den deutschen, italienischen und französischen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken – die Frage nach den Akteuren, die diese Rationalitäten in Anschlag bringen oder in bestimmten historischen Kontexten davon absehen, sie in Anschlag zu bringen. Die Abschlusskonferenz des Forschungsnetzwerkes im Mai 2017 hat daher zum Thema, wie sich (gegebenenfalls transnationale) Akteursnetzwerke in Bezug auf die Definition sozialpolitischer Problemfelder in der EU herausbilden oder wandeln und welche Interessen und Ideen sie hinsichtlich der Problemfelder aufgreifen.

Konferenzübersicht:

Ingo Bode (Universität Kassel): Wohlfahrtsmärkte und ihr Schicksal im neuen Europa

Stefanie Börner (Otto von Guericke Universität Magdeburg): Die neue Moralökonomie des aktivierenden Wohlfahrtsstaates: territoriale und europäische Dimensionen

Silke Bothfeld (Hochschule Bremen): Autonomie – ein neues Gestaltungsprinzip moderner Sozialpolitik?

Sebastian Büttner (Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen) mit Stefanie Börner: Kann man Regionen aktivieren? Versuch einer Anwendung

Hadrien Clouet (Sciences Po Paris): Aktivierungspolitik, Akteursautonomie und Klassenungleichheit: der Fall von französischen und deutschen Agenturen für Arbeit

Monika Eigmüller (Europa-Universität Flensburg): Postnationale Territorialität und Wandel der Sozialpolitik. Gesellschaftliche Dynamiken offener Raumkonstellationen in Europa

Olivier Giraud (CNRS, Lise, Cnam-Paris): Das Verhältnis von Territorialität und privaten Akteuren in der Sozialpolitik. Empirische Ergebnisse einer Untersuchung

Paolo Roberto Graziano (Università degli Studio di Padua / Social European Observatory, Brüssel): Der activation turn im Mehrebenensystem der EU: Theoretische, empirische und normative Herausforderungen

Heike Wieters (Humboldt-Universität zu Berlin): Private Akteure im Wohlfahrtsstaat. Deutsche Lebensversicherer und die Europäisierung der Alterssicherung nach dem 2. Weltkrieg

Diskutanten: David Benassi (Università degli Studi Milano-Bicocca) / Karim Fertikh (Centre-Georg-Simmel, EHESS Paris) / Yuri Kazepov (Universität Wien) / Jay Rowell (CNRS, Sage-Université de Strasbourg)

Konzeption der Ausstellung: Stefanie Börner / Monika Eigmüller / Nikola Tietze (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) / Heike Wieters

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: Sozialpolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Traditionen und europäischer Neuordnung, 23.11.2015 – 26.11.2015 Loveno di Menaggio, in: H-Soz-Kult, 04.05.2016, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6500>.
2 Zu diesem Thema war ein Vortrag von NIKOLA TIETZE mit dem Titel „Territoriale Ebenen in sozialrechtlichen Urteilen des EuGH seit dem Vertrag von Maastricht“ vorgesehen. Der Vortrag musste leider ausfallen.