Im Schatten von Nürnberg. Transnationale Ahndung von NS-Verbrechen

Im Schatten von Nürnberg. Transnationale Ahndung von NS-Verbrechen

Organisatoren
Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften; Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten / Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen
Ort
Oranienburg / Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2016 - 26.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Mix, Memorium Nürnberger Prozesse

Strafprozesse gegen NS-Täter sind noch keine Geschichte, aber bereits seit langem Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Während deutsche Gerichte die letzten Urteile gegen greise Männer fällen, die vor mehr als 70 Jahren in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern tätig waren, untersuchen Historikerinnen und Historiker längst die Strafverfolgung der NS-Verbrechen, ihre Grundlagen und Dimensionen.

Die vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten veranstaltete Konferenz beleuchtete die justizielle Ahndung der NS-Verbrechen aus transnationaler Perspektive. Deutlich wurde dabei, dass die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Strafverfolgung ebenso prägten wie juristischen. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg war Bezugs-, aber keineswegs Ausgangspunkt der justiziellen Aufarbeitung.

Nach der Begrüßung durch den Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten GÜNTER MORSCH (Oranienburg) eröffnete WOLFGANG BENZ (Berlin) die Konferenz mit einem Vortrag über die Pläne der Alliierten zur Ahndung der nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Benz hob dabei hervor, dass bis in das Frühjahr 1945 hinein alternative Lösungen zu einem internationalen Militärgerichtshof diskutiert wurden.

ANDREAS WIRSCHING (München) beschäftigte sich unter Bezug auf Karl Jaspers 1946 veröffentlichter Schrift „Die Schuldfrage“ mit dem Verhältnis zwischen justiziabler und moralischer Schuld. Die verschiedenen Kategorien von Schuld wurden in der deutschen Gesellschaft seit dem Ende NS-Regime immer wieder neu ausgehandelt, so Wirsching.

Auch wenn die Konferenz sich ausdrücklich der Strafverfolgung jenseits der Nürnberger Prozesse widmete, so kam sie doch nicht ohne Rekurs auf den Internationalen Militärstrafgerichtshof aus. PIOTR MADAJCZYK (Warschau) legte dar, wie der von Raphael Lemkin entwickelte Begriff des Genozids in den Strafprozessen gegen NS-Täter zur Anwendung kam. Anders als in den Nürnberger Prozessen, wo Lemkin nur selektiv rezipiert wurde, griff das Oberste Nationaltribunal in Polen den Genozidbegrif in den Prozessen gegen den Reichsstatthalter des Warthegaus, Arthur Greiser, oder gegen den Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów, Amon Göth, auf.

MAREK KORNAT (Warschau) betrachtete die Nürnberger Prozesse aus polnischer Perspektive. Als alliierte Siegermacht war Polen nicht am Internationalen Militärgerichtshof beteiligt, unterstützte jedoch die sowjetische Anklagevertretung mit einer kleinen Delegation. Die polnischen Vertreter steuerten Beweismaterial zu den Verbrechen in Osteuropa bei, unterstützten aber auch die sowjetische Anklage im Fall Katyń, der auf Drängen der Sowjets als Anklagepunkt in den Prozess eingebracht wurde.

Dass der Internationale Militärgerichtshof von Nürnberg weder aus historischer, noch aus juristischer Perspektive eine bruchlose Erfolgsgeschichte darstellte, betonte ANDREAS MIX (Nürnberg). Er verdeutlichte dies am Beispiel des Anklagepunkts der Verschwörung. Die amerikanische Anklagevertretung unter Robert H. Jackson scheiterte mit dem ambitionierten Versuch, die anglo-amerikanische Rechtskategorie der „conspiracy“ zum zentralen Punkt der Anklage gegen die Hauptkriegsverbrecher zu erheben.

Das Panel zur Rezeption der Nürnberger Prozesse eröffnete WINFRIED MEYER (Berlin) mit einem Beitrag zum Pankower Prozess. Das Strafverfahren gegen das Lagerpersonal von Sachsenhausen wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht 1947 bewusst als Gegenentwurf zum Nürnberger Prozess konzipiert. An dem historischen Prozessort, dem Rathaussaal von Pankow, definierte Meyer das Verfahren als einen Schauprozess nach stalinistischem Vorbild, was Widerspruch bei einigen Zuhörerinnen und Zuhörern provozierte.

KLAUS-DIETER MÜLLER (Dresden) präsentierte die quantitative Dimension der sowjetischen Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Deutlich wurde dabei, wie schwierig die eindeutige Klassifizierung der Verfahren nach Deliktengruppen und Tätern ist, weil die sowjetischen Tribunale immer auch ein Instrument der kommunistischen Herrschaftssicherung waren und sich nicht bloß gegen NS-Täter, sondern gegen sämtliche politischen Gegner richteten.

Am Beispiel der von den Briten aus Norwegen an die sowjetische Besatzungsmacht ausgelieferten und im Speziallager Sachsenhausen internierten Deutschen widmete sich ENRICO HEITZER (Oranienburg) einer Gruppe, zu der bislang kaum Erkenntnisse vorliegen. In seinem Werkstattbericht wies er nach, dass die sowjetischen Speziallager durchaus eine Funktion im Rahmen der Strafverfolgung von NS-Tätern besaßen.

Im zweiten Panel zur Rezeption der Nürnberger Prozesse stellte JULIA LANDAU (Weimar) vor, wie die Sowjetische Besatzungsmacht die Gewalt gegen Zwangsarbeiter ahndete. Von der Internierung in den Speziallagern waren dabei nicht nur Angehöriger der NSDAP oder Polizei betroffen, sondern ebenso Unternehmer und Betriebsleiter, die unmittelbar für den Einsatz von Zwangsarbeitern verantwortlich waren und auch aus ideologischer Sicht ins Visier der sowjetischen Sicherheitskräfte gerieten.

Mit dem Prozess gegen den Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz stellte JOANNA LUBECKA (Krakau) eines der Verfahren vor dem Obersten Nationaltribunal Polens vor. Von 1946 bis 1948 führte das zur Aburteilung von NS-Tätern geschaffene Gericht insgesamt sieben Prozesse gegen hochrangige Funktionäre der deutschen Besatzung. Lubecka skizzierte Höss‘ Haftstationen, den Prozess und die Argumente der Verteidigung, die darauf abhoben, dass der Kommandant von Auschwitz Birkenau kein Sadist gewesen sei und keine Häftlinge misshandelt habe.

KLAUS BÄSTLEIN (Berlin) verglich Prozesse gegen das Personal der Lager Husum-Schwesig und Ladelund vor britischen, deutschen, dänischen und niederländischen Gerichten. In der empirisch dichten Fallstudie wurde eindrucksvoll deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Rechtskulturen die Prozesse und Urteilssprüche prägten.

Auf die Besonderheiten der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen in Italien ging THOMAS SCHLEMMER (München) ein. Der Austritt Italiens aus dem „Achsenbündnis“ 1943 und der anschließende Bürgerkrieg führten dazu, dass eine systematische Strafverfolgung von italienischen Kriegsverbrechern unterblieb. Die Kehrseite dieser Vergangenheitspolitik, darauf wies Schlemmer hin, war eine weitgehende Straflosigkeit der deutschen Verbrechen in Italien.

Andere Perspektiven auf das Thema Strafverfolgung von NS-Verbrechen eröffneten die beiden Dokumentarfilme, die am Abend gezeigt wurden. „Berlinskij Prozess“ (Sowjetunion 1948) dokumentierte den Sachsenhausenprozess in propagandistischer Absicht. Die wenig bekannte Dokumentation „Niefachowy stryczek“ (Polen 1997) beschäftigt sich mit der öffentlichen Exekution des Reichsstatthalters vom Warthegau, Arthur Greiser, den das Oberste Nationaltribunal 1946 zum Tode verurteilt hatte.

Das Panel „Kommunikationsräume und Diplomatie“ eröffnete DAGI KNELLESSEN (Leipzig) mit einem Vortrag über jüdische Zeugen, die in verschiedenen frühen deutschen Prozessen gegen das Personal der Vernichtungsstätte Sobibór aussagten. Überzeugend rekonstruierte Knellessen dabei die transnationalen Kommunikationskanäle zwischen den Holocaustüberlebenden.

Welche Bedeutung die Polnische Exilregierung für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen besaß, zeigte DOMINKA UCZKIEWICZ (Breslau). Seit Kriegsbeginn 1939 dokumentierte die Exilregierung in London die deutschen Verbrechen in Polen. Als Gründungsmitglied der United War Crimes Comission hob sie das Thema auf politische Agenda der Anti-Hitler-Koalition. Die Polnische Exilregierung leistete damit, so Uczkiewicz, einen wichtigen Beitrag zur justiziellen Ahndung der Taten nach Kriegsende.

Die Auslieferung von Kriegsverbrechern an Polen und die Sowjetunion verglich JAN-HINNERK ANTONS (Hamburg). Dabei kam er zu dem Befund, dass nicht allein die ideologische Konfrontation des aufziehenden „Kalten Kriegs“ die Kooperationen der Siegermächte blockierten. Während die Westmächte bis 1948 weitgehend bereitwillig gemäß der Moskauer Deklaration Kriegsverbrecher zur Aburteilung nach Polen auslieferten, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion von Anfang an schwieriger. Antons begründete dies mit den sehr viel weiterreichenden politischen Motiven, die die Sowjetunion mit den Auslieferungsforderungen verfolgten.

Das letzte Panel der Konferenz befasste sich mit der politisch-medialen Repräsentation der NS-Prozesse. PIOTR MAŁOCHWIEJ (Breslau) beleuchtete weniger die Reaktionen der polnischen Presse auf die Strafprozesse gegen NS-Täter, sondern schilderte vielmehr die vergeblichen Bemühungen der polnischen Behörden um die Auslieferung von hochrangigen SS- und Polizeiführern wie Erich von dem Bach-Zelewski und Heinz Reinefarth.

ERIC LE BOURHIS (Cachan/Berlin) untersuchte verschiedene Prozesse gegen NS-Täter und Kollaborateure in der Sowjetunion. Dabei legte er den Fokus auf die öffentlichen Verfahren in Lettland in den 1960er- und 1970er-Jahren, über die auch die Presse berichtete. Le Bourhis unterstrich die propagandistische Dimension der Prozesse, die gegen lettische Exilanten in Nordamerika und Westeuropa gerichtet waren.

In dem abschließenden Vortrag präsentierte MAREN RICHTER (Berlin) Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt zur Geschichte der Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin. Anschaulich legte sie dar, wie sich der Oberbürgermeister Posens in der Zeit der deutschen Okkupation, Gerhard Scheffler, durch die Annahme einer falschen Identität vor der Auslieferung an Polen entzog. Nach der Gründung der Bundesrepublik und dem damit verbundenen Ende der alliierten Auslieferungen gelang es Scheffler dank eines breiten Netzwerkes an Unterstützern rasch in den Staatsdienst zurückzukehren. Als Leiter der Sozialabteilung im Bundesministerium des Innern gestaltete er maßgeblich das Bundessozialhilfegesetz, eine der zentralen sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesrepublik. Offen blieb, inwieweit Scheffler, der sich niemals für seine Tätigkeit in Posen vor Gericht verantworten musste, Elemente der nationalsozialistischen Sozialpolitik in die Bundesrepublik transformierte.

In der von GUNTER HOFMANN (Hamburg) moderierten Abschlussdiskussion wies PAWEŁ MACHEWICZ (Danzig) nochmals darauf hin, dass sich die politischen, rechtlichen und moralischen Perspektiven auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen seit dem Ende des "Kalten Kriegs" gewandelt hätten, besonders in den ehemaligen Ostblockstaaten, in denen die Ahndung dieser Taten zur kommunistischen Staatsräson gehörten.

Die von fast 100 Zuhörerinnen und Zuhörern besuchte zweisprachige Konferenz, deren Beiträge in einem Sammelband dokumentiert werden, bot ein breites Spektrum an Perspektiven zum Thema Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Dabei standen empirisch dicht gearbeitete Beiträge und Werkstattberichte neben Überblicksdarstellungen bereits erschlossener Forschungsbereiche. Deutlich wurde dabei die Vielfalt der Versuche, die nationalsozialistischen Verbrechen strafrechtlich zu ahnden. Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg blieb jedoch die Referenz. Aus dem Schatten von Nürnberg herauszutreten, fällt offenbar schwer.

Konferenzübersicht:

Wolfgang Benz (Berlin): Erschießen oder aburteilen? Interalliierte Beschlüsse zum Umgang mit den NS-Tätern

Andreas Wirsching (München): „Moralische Schuld" im NS-Regime zwischen Gewissen und Justiz

Panel 1: Nürnberg im Kontext

Piotr Madajczyk (Warschau): Raphael Lemkins Begriff des Genozids bei den justiziellen Verhandlungen

Andreas Mix (Nürnberg): International Military Tribunal Nürnberg und Nachfolgeprozesse

Marek Kornat (Warschau): Nürnberger Prozesse aus polnischer Sicht

Panel 2: Rezeption von Nürnberg? (I)

Winfried Meyer (Berlin): Der Pankower Prozess und seine Bedeutung

Klaus Dieter Müller (Dresden): Todesstrafen sowjetischer Tribunale gegen Deutsche im Kontext der Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen

Enrico Heitzer (Oranienburg): Die „Norweger“. Zur Rolle des sowjetischen Speziallagers Sachsenhausen bei der Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen

Panel 3: Rezeption von Nürnberg? (II)

Julia Landau (Weimar): Gewalt gegen Sowjetbürger. Ahndung von Gewalt gegen sowjetische Zivilbevölkerung und Zwangsarbeiter

Joanna Lubecka (Krakau): Der Rudolf Höß-Prozess und weitere polnische Prozesse

Klaus Bästlein (Berlin): Die Ahndung von NS-Verbrechen des KZ Außenlagers Husum-Schwesing

Thomas Schlemmer (München): Kein Nürnberg in Rom. Italien, die Alliierten und die Kriegsverbrecherfrage

Film „Berlinskij Prozess (1947)

Film „Unprofessioneller Strang“ (1997)

Diskussion mit dem Filmwissenschaftler Andrzej Gwóźdź (Kattowitz)

Panel 4: Kommunikationsräume und Diplomatie

Dagi Knellessen (Leipzig): Transnationale Zeugenschaft – Jüdische Zeugen in den ersten Sobibor Verfahren 1949/50 in Frankfurt/Main und Westberlin

Dominika Uczkiewicz (Breslau): Ahndung jenseits der Heimat. Die Polnische Exilregierung und die Frage der Bestrafung von NS-Kriegsverbrechern

Jan-Hinnerk Antons (Hamburg): Auslieferung von NS-Verbrechern und -Kollaborateuren: Forderungen und Reaktionen

Panel 5: Politisch-mediale Repräsentationen

Piotr Małochwiej (Breslau): Die NS-Prozesse in der polnischen Presse

Eric Le Bourhis (Nanterre): NS-Verbrechen vor Gericht. Sowjetische Kriegsverbrecherprozesse 1943–1991

Maren Richter (München): Unbestrafte Kontinuitäten. Der Fall Gerhard Scheffler

Abschlussdiskussion:
Paweł Machcewicz (Danzig), Werner Konitzer (Frankfurt am Main), Günter Morsch (Oranienburg), Robert Traba (Berlin)