Transnationale soziale Praktiken und Raumproduktionen

Transnationale soziale Praktiken und Raumproduktionen

Organisatoren
Deutsch-Polnisches Forschungsinstituts am Collegium Polonicum Słubice / Geographisches Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel / Institut für Sozioökonomische Geographie und Raumwirtschaft der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań
Ort
Słubice
Land
Poland
Vom - Bis
09.12.2016 -
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Von
Alexander Tölle, Deutsch-Polnisches Forschungsinstitut, Collegium Polonicum Słubice

Zum Abschluss eines dreijährigen, im Rahmen der Hochschulpartnerschaft zwischen der Christian-Albrechts-Universität Kiel und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań unterstützten Kooperationsprojektes zu Dimensionen und Auswirkungen transnationaler Vernetzung von Städten und Regionen in West- und Mittelosteuropa des Deutsch-Polnischen Forschungsinstituts, des Geographischen Instituts der CAU und des Instituts für Sozioökonomische Geographie und Raumwirtschaft der AMU hatten sich am 9. Dezember 2016 beteiligte deutsche und polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einer Tagung zusammengefunden, um über unterschiedliche Perspektiven auf transnationale soziale Praktiken und Raumproduktionen zu diskutieren. Der Tagungssaal im Collegium Polonicum mit Blick auf die Oder-Grenzbrücke von Słubice nach Frankfurt bot dabei einen anregenden Ort, um über durch Migrationsprozesse über nationalstaatliche Grenzen hinweg entstehende transnationale Räume ebenso wie über die Herausbildung von Räumen, bei denen losgelöst von nationalstaatlichen Kontexten die Übereinstimmung der Grenzen von politisch-administrativ definierten Territorien mit denen durch kulturelle und soziale Verflechtungen gebildeter Gebiete nicht mehr gegeben ist, zu diskutieren.

Mit ihrem einführenden Beitrag zum deutsch-polnischen Grenzraum nach 1945 als Gebiet erzwungener Migrationen gelang BEATA HALICKA (Słubice) ein inhaltlicher Brückenschlag zwischen den mit Grenzräumen oder mit Migrationsprozessen befassten folgenden Tagungsbeiträgen zu schlagen. Die Autorin des Buches „Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948“, dessen polnische Übersetzung den renommierten Preis als bestes geschichtswissenschaftliches Buch 2016 der Identitas-Stiftung erhalten hat, legte mit ihrer Darstellung der Komplexität und fehlenden Linearität von Aneignungsprozessen der polnischen Neusiedler in ihrer neuen Heimat östlich der Oder, die wenig mit den in polnischen wie deutschen Köpfen vorherrschenden Bildern zu tun hat, die Grundlage für eine entsprechende Betrachtung auch anderer Migrationsphänomene.

Eine interessante Parallelität ergab sich so zur von ZINE-EDDINE HATHAT und RAINER WEHRHAHN (Kiel) vorgestellten Untersuchung zur Herausbildung von Transiträumen durch Transitmigration in der südalgerischen Stadt Tamanrasset, deren Einwohnerzahl durch diese Prozesse in den letzten 50 Jahren von 3.000 auf 93.000 gewachsen ist. Dabei wurde die Entstehung von temporären wie auch dauerhaften Stadtstrukturen durch Migranten, die ihre Heimat in Richtung Europa verlassen haben, deutlich, womit das Bild eines homogenen „Migrantenstroms“ eindrucksvoll konterkariert wurde.

Auch VERENA SANDNER LE GALL (Kiel) zeigte in ihrem Beitrag zu Aushandlungen um Zugehörigkeiten südosteuropäischer Roma in Frankreich, Deutschland und Rumänien das Bestehen historisch überlieferter und von aktueller Berichterstattung bestätigter Klischees, die zu Debatten um Zusammenhänge zwischen Migrationsbewegungen und Armut einer vermeintlich homogenen Gruppe geführt haben. Deren Wahrnehmung als schlicht aus EU-Bürgern bestehend, ist so als von Diskursen über Legitimität von Ansprüchen auf Aufnahme und Unterstützung, über Erwünschtheit und Nützlichkeit sowie über bedrohte Sicherheit auf der jeweiligen nationalen Betrachtungsebene überlagert anzusehen.

Statt mit aktuellen Migrationsprozessen waren der Beitrag von VOJIN ŠERBEDŽIJA (Berlin), der jedoch seine Tagungsteilnahme kurzfristig absagen musste, zur Mehrsprachigkeit polnischer Migrantinnen in Berlin-Pankow und von TIMOR-MORITZ SZYMANSKI mit RAINER WEHRHAHN (Kiel) zu Orten, Netzwerken und Praktiken von in Berlin lebenden Polen mit der Translokalität von längst in ihrer neuen Heimat „angekommenen“ Migranten befasst. Das Konzept der Translokalität wird dabei bewusst für staatenübergreifende Verankerung und Interaktion „immobiler“ und gut integrierter Migranten gesehen, die jedoch nicht in einem vermeintlich zwischen Nationalstaaten gelegenen transnationalen Raum stattfindet, sondern auf face-to-face-Begegnungen von Akteuren in zwei Ländern beruht.

Von Berlin nach London führte danach der Vortrag von KONRAD MICIUKIEWICZ (London), der für einen „inklusiven Multikulturalismus“ in der Stadt, verstanden als gesellschaftliche Praxis, welche politisch diverse Repräsentationen verschiedener Minderheitengruppen mit der Schaffung von Perspektiven für deren wirtschaftliche Integration verbindet, plädierte. Ausgehend vom gezeigten historischen Gegensatz zwischen dem „französischen Assimilationismus“ und dem „britischen Multikulturalismus“ als dessen Antithese, der wiederum jüngst einem „muskulösen Liberalismus“ weichen sollte, wurden anhand konkreter Projekte zur Einbeziehung von Jugendlichen der Schwarzen, Asiaten und ethnischen Minderheiten in East London Wege zum Erreichen einer pluralistischen Vertretung von lang ansässigen Minderheiten aufgezeigt.

Den abschließenden drei Beiträgen war gemein, dass sie den besonderen Fall der deutsch-polnischen Doppelstädte als Forschungsobjekt thematisiert hatten. Hier wurde der Frage nachgegangen, inwieweit diese auch als „Zwei-Nationen-Städte“ bezeichneten Orte einen homogenen, im Sinne der Herauslösung aus dem Kontext nationalstaatlicher Verankerung transnationalen Stadtraum bilden.

Dazu stellten ROMAN MATYKOWSKI, KATARZYNA KULCZYŃSKA und ANNA TOBOLSKA (Poznań) das außerhalb des polnischen Wissenschaftsdiskurs wenig bekannte Konzept des „Informationsgewands” vor, welches in den untersuchten zwei deutsch-polnischen und einem polnisch-tschechischen Fall gewissermaßen als Materialisierung der grenzüberschreitenden, translokalen Prozesse dient, die mit Beteiligung und auf Initiative der Einwohner und Nutzer dieser Städte entstehen. Es zeigte sich, dass dieses zweisprachige Informationsgewand den typischen Charakter grenzübergreifender Beziehungen – Handel, Dienstleistungen, Touristik und offizielle Kontakte – gut widerspiegelte.

BARBARA ALICJA JAŃCZAK (Słubice) lenkte den wissenschaftlichen Fokus hingegen auf die gesprochene Sprache, indem sie die Theorie der Grenzschaft (Borderscape) auf die Untersuchung des Sprachkontaktes in Grenzräumen angewendet hat. Analysiert wurde das Sprachverhalten von Händlern in den polnischen Grenzmärkten entlang der Grenze zu Deutschland. Deutlich wurde in dieser soziolinguistischen Untersuchung, dass sich linguistische Grenzschaft durch die Hybridisierung des Sprachgebrauchs charakterisiert und die Märkte somit einen Zwischenraum bilden.

Im letzten, religionsgeographisch ausgerichteten Tagungsbeitrag ging ALEXANDER TÖLLE (Słubice) der Frage nach, inwieweit der Prozess der De-Territorisierung von Pfarrgemeinden im Falle zweier deutsch-polnischer Doppelstädte dazu geführt hat, dass nichtparochiale, auf sozialen Beziehungen gegründete religiöse Strukturen auch Staatsgrenzen-übergreifend entstanden sind. Deutlich wurde jedoch eine Beharrlichkeit der deutsch-polnischen wie der konfessionellen Grenzen, die vor allem in der nationalstaatlichen Verfasstheit von Kirchen und in der unverändert hohen Sprachbarriere begründet liegt. Somit sind es – wie auch in anderen Themenbereichen der Grenzlandforschung häufig festgestellt – kaum die Alltagskontakte, die zur Konstruktion eines transnationalen Raumes beitragen, sondern die von bestimmten Akteuren, welche die Grenzlandsituation als Potential begreifen und sich bewusst aus nationalstaatlichen Bindungen lösen.

In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass der Begriff des transnationalen Raums in Polen noch seinen Platz im wissenschaftlichen Diskurs sucht. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Migrationsproblematiken im heutigen Polen kaum bestehen bzw. auch von wissenschaftlicher Seite überwiegend als Randerscheinungen betrachtet werden. Die geschichtliche Perspektive kann jedoch gerade hier einen Schlüssel zu einem Wandel des Verständnisses darstellen, ebenso wie die Behandlung von Grenzregionen als liminale bzw. hybride Räume. Auf deutscher Seite wurden eher die Schwachpunkte bestehender Transnationalismus-Konzepte für empirische Forschungen thematisiert und daher notwendige Ausdifferenzierungen – translokale Räume, Transiträume, Grenzschaft – diskutiert. Die Tagungsbeiträge werden 2017 als Tagungsband in der Thematicon-Reihe des Collegium Polonicum im Berliner Logos-Verlag veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung, Einführung in die Thematik durch Alexander Tölle (Collegium Polonicum Słubice), Rainer Wehrhahn (Christian-Albrechts-Universität Kiel), Tomasz Kaczmarek (Adam-Mickiewicz-Universität Poznań)

Beata Halicka (Collegium Polonicum Słubice), Grenzräume nach erzwungenen Migrationen. Das Fallbeispiel der deutsch-polnischen Grenze nach 1945

Zine-Eddine Hathat, Rainer Wehrhahn (Christian-Albrechts-Universität Kiel), Migration zwischen Subsahara-Afrika und Europa: Neue Perspektiven auf Transitmigration und Transiträume

Verena Sandner Le Gall (Christian-Albrechts-Universität Kiel), Die Problematisierung transnationaler Migration innerhalb der EU: Aushandlungen um Zugehörigkeiten südosteuropäischer Roma

Vojin Šerbedžija (Humboldt-Universität Berlin), Lokale Transkulturalität aus der sozialen Feldperspektive. Migrantische (Macht)Einflüsse und Mehrsprachigkeit in Berlin-Pankow

Timor-Moritz Szymanski, Rainer Wehrhahn (Christian-Albrechts-Universität Kiel), Translokalität von Polen in Berlin – Orte, Netzwerke, soziale Praxis

Konrad Miciukiewicz (University College London), Auf dem Weg zu einem inklusiven Multikulturalismus in der Stadt: Diversifizierung der Kreativwirtschaft in East London

Roman Matykowski, Katarzyna Kulczyńska, Anna Tobolska (Adam-Mickiewicz-Universität Poznań), Informationsgewand als Ausdruck der Herausbildung transnationaler Räume in benachbarten Grenzstädten

Barbara Alicja Jańczak (Collegium Polonicum Słubice), Deutsch-polnische Grenzschaft: Sprachgebrauch im transnationalen Raum der Grenzmärkte im deutsch-polnischen Grenzland

Alexander Tölle (Collegium Polonicum Słubice), Auflösung und Beständigkeit von Grenzen im religiösen Raum deutsch-polnischer Doppelstädte

Abschlussdiskussion