HT 2016: Immerwährende Gesetze – ein Glaubensfrage?

HT 2016: Immerwährende Gesetze – ein Glaubensfrage?

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Jörg Schwarz, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die von Eva Schlotheuber (Düsseldorf) und Michail Boicov (Moskau) geleitete Sektion des Hamburger Historikertages hatte sich vorgenommen, jene auffällige Häufung großer Gesetzestexte in der europäischen Geschichte des Spätmittelalters, als deren berühmtester Repräsentant aus deutscher Blickrichtung sicherlich die „Goldene Bulle“ Kaiser Karls IV. von 1356 steht, in einen Zusammenhang zu bringen. Dezidiert sollten diese Texte dabei nicht – im Sinne eigener Propaganda oder schiefer Interpretation – als ‚Monumente‘, sondern in ihrer Prozesshaftigkeit gesehen werden. Die konkreten ‚Aushandlungen‘ sollten dabei ebenso berücksichtigt werden wie die umfassende Frage nach den Rezeptionen. Im Hintergrund der Sektion stand der Versuch, über die Qualität von „Dauerhaftigkeit“ nachzudenken – verbunden mit einem Nachdenken über die „Glaubwürdigkeit“, die eine solche Dauerhaftigkeit verspricht.

Im ersten Vortrag der Sektion, der mit dem Titel „Die Goldene Bulle 1356: ‚Für immer und ewig?‘“ überschrieben war, unterstrich PIERRE MONNET (Frankfurt am Main / Paris), dass es sich bei der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV., die lange Zeit hauptsächlich im Lichte ihrer Mängel und Widersprüche gesehen worden sei, um das Gesetz mit der größten Langlebigkeit in der europäischen Geschichte überhaupt gehandelt habe. Als die ‚drei Säulen‘ des Textes arbeitete Monnet erstens die darin zum Ausdruck kommende Bedeutung der Stadt (Hauptstadt) Prag heraus, zweitens das Streben nach Legitimation, drittens die Tatsache, dass es sich dabei überhaupt um ein schriftliches Werk gehandelt habe, das die Bedeutung theoretischer Schriften in der Reichspolitik regelrecht forciert habe. Das Bauprinzip des Textes sei reziprok gewesen, er habe erstens die Beziehungen des Kaisers zu den Kurfürsten regeln wollen, zweitens die Beziehungen der Kurfürsten zum Kaiser. Die „Goldene Bulle“, so Monnet weiter, habe auf ein grundlegendes Problem der damaligen Reichsverfassung reagieren wollen: auf die konkreten Funktionsweisen von Beziehungen der höchsten Repräsentanten des Reiches untereinander. Sie habe schließlich gleichsam ein Kontrollprinzip in die Reichsverfassung einführen und eine Dokumentation des Respekts dieser Repräsentanten untereinander darstellen wollen.

In ihrem eigenen Vortrag zur Sektion berichtete EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) von jenem vom Kardinal Aegidius Albornoz, dem Legaten und Generalvikar in temporalibus des avignonesischen Papstes Innocenz VI. 1357 in Fano promulgierten Corpus von Verordnungen für die verschiedenen Länder und Provinzen des Kirchenstaates, das unter dem Namen „Constitutiones Aegidianae“ bekannt geworden ist. Schlotheuber beleuchtete vor allem folgende drei Aspekte des Gesetzeswerkes: erstens die Ereignisse des Jahres 1354/55 als Voraussetzung für die päpstliche Neuordnung und in diesen vor allem die Verhandlungen um die Kaiserkrönung Karls IV., zweitens die theoretischen und praktischen Vorbereitungen der Constitutiones durch den Legaten sowie drittens den Zusammenhang von Goldener Bulle und den Constitutiones Aegidianae („Einigung durch Schweigen“). Vor allem in ihrem letzten Punkt unterstrich die Referentin, dass Karl primär durch sein ‚Schweigen‘ eine Neuordnung des Kirchenstaates geduldet habe. Die diplomatische Meisterleistung beider Dokumente habe in dem Verzicht auf Widerspruch gelegen.

Über das „Wiener Konkordat“, den Vertrag zwischen dem römisch-deutschen König Friedrich III. und Papst Nikolaus V. von 1448, sprach CLAUDIA MÄRTL (München). Das Konkordat, das auf ein älteres Konkordat aus Zeiten des Konstanzer Konzils zurückgriff, jetzt aber „dauerhaft“ verstanden werden sollte, wollte vor allem die Besetzungspraxis der geistlichen Stellen im römisch-deutschen Reich regeln. Eingeprägt habe sich dabei vor allem die Tatsache, dass dem Papst die Besetzung der Kanonikate bei Erledigung in den ungeraden (den sogenannten „päpstlichen“) Monaten (also Januar, März usw.) zustehen sollte. Märtl wies auf die – ähnlich wie bei der „Pragmatischen Sanktion“ des französischen Königs Karl VII. 1438 – auf die im Ganzen noch unaufgearbeitete Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Wiener Konkordats hin. Was sich indessen, so Märtl, jetzt schon erkenn lässt, ist dass es über ein Vierteljahrhundert gedauert habe, bis sich das Konkordat ins Bewusstsein der deutschen Nation etabliert habe. Und: je länger ein neues Konzil ausgeblieben sei, desto mehr habe sich das Konkordat als Mittel der Kirchenpolitik etabliert. In summa, so Märtl, könne man sagen: Nichts sei langlebiger als ein Provisorium.

Mit dem „Privilegium Maius“ Herzog Rudolfs IV. von Österreich von 1358/59, jener gefälschten Urkundenserie, die eine Reihe von (angeblich) uralten Vorrechten des Hauses Österreich betonen, beschäftigte sich MICHAEL BOICOV (Moskau). Der Referent, der auf die Kontroverse zwischen Alexander Sauter und Peter Moraw in der Deutung des Privilegs ausführlich einging, stellte seine Ausführungen unter die Leitfrage: War das Privilegium Maius – wie so oft gedeutet – primär eine Reaktion auf die Goldene Bulle Karls IV.? Dezidiert begriff Boicov das Privileg, das er in seiner Geltung bis zum Ende des Alten Reiches wirksam sah, als eine Reaktion auf das, was über den feierlichen Rahmen der Goldenen Bulle berichtet wurde, einem Rahmen, aus dem die Habsburger sich ausgeschlossen sehen mussten. Ausführlich ging der Referent ferner auf die starke Rolle der Bedeutung Kaiser Friedrichs III. für die Rezeption des Privilegium Maius ein (Bestätigung der Maius-Privilegien 1452 usw.). Doch sei, so Boicov, Friedrich III. in seiner Politik weniger der Rolle Rudolfs IV., sondern mehr derjenigen Karls IV. gefolgt.

Über spätmittelalterliche Gesetzestätigkeiten aus den Bereichen der westeuropäischen Königreiche berichteten JEAN MARIE MOEGLIN (Paris) und JESÚS VALLEJO FERNANDES DE LA REGUERA (Sevilla). Währen Moeglin ein breites Panorama von Ordonnanzen des spätmittelalterlichen französischen Königtums in Augenschein nahm – von Gesetzen, die Johann II. dem Guten von den Ständen aufgedrängt worden sind, über eine Konstitution Karls V. des Weisen, die die Regelungen einer Erbmonarchie betroffen haben, bis zur „Pragmatique“ von 1438 –, erfasste de la Reguera vor allem die kastilischen „Siete Partidas“, ein aus der Zeit Alfons‘ X., des Weisen, von Kastilien stammendes bzw. dort initiiertes Gesetzesbuch, dessen Charakter sich vor allem durch seine Rezeption erschließt.

Die in der Fundiertheit der einzelnen Beiträge überzeugende Sektion darf – von ihrer Intention her betrachtet – als gelungen gelten. Vor allem ist es geglückt, den (zumindest aus deutscher Perspektive) nach wie vor oftmals recht dominanten Blick auf die „Goldene Bulle“ zu relativieren – und auch diese selbst mit immer differenzierteren Wertungen einzuordnen und in ihrer Pragmatik verstehbar werden zu lassen. Konstruktiv und weiterführend scheint vor allem der Hinweis auf die Verbindungen zwischen den Constitutiones Aegidinae und der kaiserlichen Politik in Italien im Umfeld der Vorbereitung der Kaiserkrönung Karls IV., und in gleicher Weise auch die Einbettung der Ordonannzen Karls V. in die dynastisch-verwandtschaftliche Verschlungenheit der Valois-Luxemburger.

Wie unerquicklich es ist, Gesetzestexte, gleich ob groß oder klein, ob immerwährend oder vor allem für den Moment gedacht, als ‚Statuen‘ oder Monumente zu sehen und nicht zugleich auch nach Entstehungsbedingungen, nach den praktischen Anwendungen und der Geschichte ihrer Rezeption zu fragen, versteht sich immer noch nicht von selbst – die Sektion hat von daher, was eine angemessene Bewertung dieser Texte anbelangt, genau das Richtige getan. Eine der weiteren Leitfragen der Sektion, unter welchen Bedingungen Gesetze entstehen können, die das Versprechen leisten ‚immerwährend‘ zu sein, ist sicherlich ebenso berechtigt wie weiterführend – gerade auch in ihren möglichen Verknüpfungen mit aktuellen Fragen der Politik bzw. Fragestellungen der Politik- und Sozialwissenschaft. Sicherlich ist sie von der Sektion – aus Zeitgründen hat eine abschließenden Diskussion leider nicht mehr stattfinden können – noch nicht abschließend beantwortet worden; es wurden hingegen gute Voraussetzungen für weitere Antworten (oder auch überhaupt erst noch Fragen) geschaffen. Möglicherweise böte es sich an, die Auswahl - auch zeitlich gesehen - künftig zu schärfen und das Frageraster einzuengen. Die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen dem einen oder dem anderen dieser großen Gesetzestexte scheinen evident und wurden so bislang kaum schon irgendwo beleuchtet. Gerade hier gälte es weiter zu bohren – auch wenn es in einem gesamt- oder auch nur mittel- oder westeuropäischen Rahmen zu einem überzeugenden Abschluss zu gelangen, ohne die Individualität der Gesetze und das Umfeld, in das sie gehören, über Gebühr einzuebnen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Eva Schlotheuber (Düsseldorf) / Michail Boytcov (Moskau)

Pierre Monnet (Frankfurt am Main / Paris): Die Goldene Bulle 1356: »Für immer und ewig?« (Röm.-dt. Reich)

Eva Schlotheuber (Düsseldorf): Constitutiones Aegidianae 1357 – »Ein diplomatisches Kunststück« (Kirchenstaat, Italien)

Michail Boytcov (Moskau): Privilegium Maius 1359 – (Röm.-dt. Reich / Habsburger)

Jean Marie Moeglin (Paris): Ordonnanzen Charles le Sage 1374 (Frankreich)

Claudia Märtl (München): Das Wiener Konkordat von 1448 (Habsburger / Kurie)

Jesús Vallejo Fernandez de la Reguera (Sevilla): Siete Partidas (Kastilien)


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