Nationalstaat und ethnische Homogenisierung. Ungarn und Rumänien im Vergleich (1950-2016)

Nationalstaat und ethnische Homogenisierung. Ungarn und Rumänien im Vergleich (1950-2016)

Organisatoren
Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa (KGKDS)
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Vom - Bis
06.10.2016 - 08.10.2016
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Von
Karl-Peter Krauss, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Vom 6. bis 8. Oktober 2016 fand in Innsbruck die diesjährige, international besetzte Jahrestagung der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa (KGKDS) statt. Kooperationspartner waren das Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen (IdGL), das Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, die Österreichische Akademie der Wissenschaften, Zweigstelle Innsbruck, die Südosteuropa Gesellschaft e. V., München sowie das Zentrum zur Erforschung deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Tagung bildete den Abschluss des dreiteiligen Tagungszyklus „Nationalstaat und ethnische Homogenisierung. Ungarn und Rumänien im Vergleich“. Auf Grundlage eines diachronen Vergleichs der beiden Nachbarstaaten über die Jahre 1867 bis 2016 hinweg war es das Ziel, die jeweiligen nationalstaatlichen Homogenisierungsansätze hinsichtlich ihres Umgangs mit multiethnischer Bevölkerung zu analysieren und auf interdisziplinärer Ebene zu diskutieren.

Der von NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) und KURT SCHARR (Innsbruck) konzipierten und organisierten Tagung ging wie bereits in den Jahren zuvor ein Nachwuchsseminar voraus. Es wurde von ZSOLT K. LENGYEL (Regensburg) geleitet. Kooperationspartner der KGKDS war hier das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Nachwuchsseminar ist integraler Bestandteil der Jahrestagungen der Kommission. Es richtet sich an Studierende und Doktoranden aus den Bereichen Geschichtswissenschaft, Geographie, Soziologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, Politik-, Literatur- und Medienwissenschaft und führt zur Thematik der jeweiligen Jahrestagung hin. Die diesjährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn.

Nach Budapest und Cluj-Napoca, wo 2014 und 2015 die Zeitfenster 1867-1914 und 1918-1950 thematisiert worden sind, bot der historische Claudiasaal der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck den Rahmen für die Tagung. Dabei stand der Zeitraum 1950-2016 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Anknüpfend an die zentralen Fragestellungen des Tagungszyklus wurde nach der Wirkmacht von Kontinuitäten und Diskontinuitäten vor dem Hintergrund tiefgreifender politischer, ökonomischer und soziokultureller Transformationsprozesse sozialistischer und anschließender demokratischer Prägung gefragt.

Die Eröffnung der Tagung und der herzliche Dank an die Kooperationspartner erfolgte durch den Vorsitzenden der KGKDS MATHIAS BEER (Tübingen). Es folgte ein Grußwort des Dekans der Fakultät für Geo- und Atmosphärenwissenschaften ERNST STEINICKE (Innsbruck). Beide hoben die aktuelle Brisanz des Themas hervor und verwiesen auf die in der Vergangenheit wie heute herrschende Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit staatlicher Minderheitenpolitik.

Die Tagungskonzeption stellte NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) vor, der auch in das Thema einführte. In den sozialistischen Gesellschaften Ungarns und Rumäniens war, so seine Ausführungen, Minderheitenpolitik trotz zahlreicher Reformen und „Tauwetter“-Ansätze von ideologischer Überfrachtung und pro forma-Gleichberechtigung bestimmt. Auch wenn im Sinne der „Automatisierungstheorie“ die sozialistische Gesellschaftsordnung die Minderheitenfrage als Konfliktpotential obsolet machen würde, achteten beide Staaten auf ihre Nationalstaatlichkeit und generierten weiterhin Spannungen mit ihren Nationalitäten. Entspannungen dagegen stellten sich meist mit Blick auf eine erhoffte positive Außenwirkung ein, politische Handlungsbereitschaft resultierte aus außenpolitischen und ökonomischen Zwängen. Mit Bedauern konstatierte er, dass infolge kurzfristiger Absagen im Tagungsprogramm eine „Asymmetrie“ zuungunsten Rumäniens entstanden sei.

Für den Einführungsvortrag „Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im (sozialistischen) Nationalstaat: Ungarndeutsches Identitätsmanagement von 1950 bis heute“ konnte KLAUS JÜRGEN HERMANIK (Graz) gewonnen werden. Er erläuterte zunächst den Begriff des „Identitätsmanagements” als Ausdruck der Konstruiertheit von Ethnizität. Anschließend stellte er Etappen der Minderheitenpolitik Ungarns von 1950 bis ins 21. Jahrhundert gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung des Landes vor. Diese waren, so Hermanik, an die Liberalisierungspolitik im sozialistischen Ungarn gekoppelt. Höhepunkte der Entwicklung bildeten hierbei die Aufhebung der Kollektivschuld und das ungarische Minderheitengesetz von 1993. Hermanik gab zukunftweisend zu bedenken, dass die finanzielle Lage des Staates eine tatsächliche, subventionierte Erhaltung ungarndeutscher Kultur kaum zuließ. Zudem machte er deutlich, dass der Assimilationsprozess der ungarischen Regierungen der 1950- und 1960er Jahre bis in die jüngste Generation noch spürbar sei.

Den Auftakt zur ersten Sektion „Minderheitenpolitik im Kalten Krieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs”, moderiert von HARALD HEPPNER (Graz), bildete ein Vortrag von ÁGNES TÓTH (Budapest / Pécs ) mit dem Titel „Korrekturen der stalinistischen Nationalitätenpolitik in Ungarn (1950-1965)“. Sie ging der Frage nach, ob Ungarn in den Jahren 1950 bis 1965 den Prinzipien stalinistischer Nationalitätenpolitik im Kontext von Automatismusthese, Assimilierungsbemühungen und Diskriminierungstendenzen folgte oder Korrekturen vornahm. Die parteiinterne Aufwertung der Minderheitenfrage seit 1955 war ihrer Meinung nach Ausdruck taktischer Überlegungen. Nichtsdestotrotz habe insbesondere der Politbüro-Beschluss von 1958, der die prinzipielle Rechtsgleichheit aller Nationalitäten in Ungarn festschrieb, die Grundlage der ungarischen Nationalitätenpolitik für die folgenden Jahrzehnte gebildet. Die sich an den Vortrag anschließende Diskussion thematisierte den unmittelbaren sowjetischen Einfluss auf die ungarische Nationalitätenpolitik, fragte nach unterschiedlichen Positionen innerhalb der kommunistischen Parteien MDP (Magyar Dolgozók Pártja, Partei der Ungarischen Werktätigen) bzw. MSZMP (Magyar Szocialista Munkáspárt, Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) betonte aber die grundsätzlich nachrangige Priorität der Minderheitenpolitik für das gesamte sozialistisch-kommunistische Lager.

ANDREAS SCHMIDT-SCHWEIZER (Budapest) nahm anschließend mit dem Thema „Das Verhältnis zwischen der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn und dem kommunistischen Ungarn 1951-1989“ einen Perspektivwechsel vor, indem er sich dem wechselvollen Verhältnis zwischen der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn in der Bundesrepublik und dem sozialistischen Ungarn zuwandte. Dazu warf er zwei Fragenkomplexe auf, die sich zum einen auf die Positionen des ungarndeutschen Vertriebenenverbandes, zum andern auf die Reaktionen der ungarischen Führung konzentrierten. Die Beziehungen waren stets den bilateralen politischen Rahmenbedingungen zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland unterworfen. Aussöhnung, Verständigung, aber auch Entschädigung und Familiennachzug führten zu einer Solidarisierung Ungarns mit den sozialistischen Bruderstaaten Polen und ČSSR. Die engen Handelskontakte mit der BRD brachten seit Ende der 1960er Jahre allerdings einen Wandel mit sich, der der ehemals als „Fünfte Kolonne“ identifizierten Landsmannschaft der Deutschen zu Ungarn 1987 eine zwischenstaatliche Brückenfunktion zuwies. Dem vorausgegangen waren offizielle Besuche von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Ungarn 1986 und des ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz in der Bundesrepublik im darauffolgenden Jahr. Fragen nach Spannungen und Pluralität innerhalb des ungarndeutschen Vertriebenenverbandes sowie geheimdienstliche Überwachung und Beeinflussung der Landsmannschaft standen im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion.

Einen anderen Schwerpunkt setzte FERENC EILER (Budapest) in seinem Beitrag „Nach der Reform – weiterhin ohne Gewicht? Motivationen, Mittel und Folgen der Nationalitätenpolitik in Ungarn (1968-1989)“. Er betrachtete Motivationen, Mittel und Folgen der Nationalitätenpolitik in Ungarn in den Jahrzehnten von 1968 bis 1989. Charakteristika dieser Zeit waren nach Eiler die Aufgabe der Assimilationsbemühungen, die Anerkennung der Nationalitätenkultur und Aufwertung der Nationalitätenfrage. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung habe die Einrichtung des Ministeriums für Nationalitätenfragen 1988 dargestellt. Dennoch gab es nach Eiler Kontinuitäten über das Zäsurjahr 1968 hinaus, die von 1948 bis 1989 reichen. Nationalitäten wurden nicht als Subjekte, sondern als Objekte staatlicher Politik betrachtet. Die ohnehin unter Fernwirkungen der stalinistischen Periode stehende Nationalitätenpolitik war ideologischen Vorzeichen untergeordnet. Auch erfolgte keine Selbstorganisation der Nationalitäten, so dass die Assimilation voran schritt, Misstrauen und Apathie unter den Minderheiten zunahm. Das Unterrichtswesen als Kern jeder Nationalitätenpolitik wies einen eklatanten Mangel an geeigneten Pädagogen, Methoden und Lehrbüchern auf. Eine tatsächliche Neuorientierung in der ungarischen Minderheitenpolitik trat nach Eiler erst 1989 bzw. 1993 mit einer Minderheitengesetzgebung und Minderheitenselbstverwaltung ein. Die anschließende Diskussion griff insbesondere die vom Referenten ebenfalls gestreifte staatliche Roma-Politik auf und unterstrich, dass diese getrennt von der eigentlichen Minderheitenpolitik untersucht werden muss. Die Problemfelder seien anders gelagert, da sich die Integrationspolitik vorzugsweise auf Arbeit, Wohnung und Schule konzentrierte.

Die zweite Sektion „Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, zwischenstaatliche Politik” wurde unter der Leitung von DIETMAR NEUTATZ (Freiburg im Breisgau) von OLIVIA SPIRIDON (Tübingen) eröffnet, die sich mit dem Thema „Selbstwahrnehmung der deutschen Minderheit in der deutschsprachigen Literatur aus Rumänien“ aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der Fragestellung der Tagung annäherte. Zunächst stellte sie die Umgestaltung der deutschsprachigen Literaturlandschaft in Rumänien nach 1945 dar. Sie betonte die landesweite Kulturhomogenisierung und deren Auswirkung auf die Selbstwahrnehmung der deutschen Minderheiten in Rumänien innerhalb des institutionalisierten Kulturbetriebs. Dort habe der Schwerpunkt auf dem Wirken Anton Breitenhofers (1912-1989) und der Bedeutung der „Mihai-Eminescu-Schule” für den sozialistischen Literaturbetrieb gelegen. Dem entgegen stellte Spiridon die private, stark subjektiv-geprägte Literatur, die neben Vertreibung und kollektiver Schuld, ein Arrangement der rumäniendeutschen Autoren mit dem Sozialismus einforderte. Spiridon betonte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, in die Forschung Buchgestaltung und Titelwahl zur Verortung rumäniendeutscher Werke mit einzubeziehen. Im letzten Teil ihres Vortrages zeigte sie die Weiterentwicklung jener Texte auf und stellte die Bedeutung von „Grenzgänger- und Doppelidentitäten” für den Literaturbetrieb nach 1989 dar.

Ethnische Differenz wird durch volkstümliche Elemente ausgedrückt, die in der täglichen Lebenswelt der jeweiligen Minderheit keine oder nur geringe tatsächliche Präsenz und Relevanz besitzen. Diesem modernen Phänomen der Folklorisierung ging MICHAEL PROSSER-SCHELL (Freiburg) in seinem Vortrag „Folklorisierung der deutschen Minderheit in Ungarn? Das Beispiel des Weinkellerdorfes von Hajós/Hajosch in der Batschka“ nach. Dabei ging er auf die Darstellung des Dorfes in der Minderheitenzeitung „Neuer Kalender“ im Zeitraum von 1967 bis 2016 ein. Zur Erfassung des Subtextes folkloristischer Darstellung zog er häufig verwendete Standardmotive wie den „Schwaben-Ball“, die „Volkstracht“, das Laientheater und den Chorgesang heran. Ebenso verwies er auf die in den letzten Jahren in ungarischer Sprache vermittelte schwäbische Herkunft und Kultur unter Verwendung französischer Winzertrachten als Beispiel für Hermaniks These vom Identitätsmanagement. Dieser Aspekt wurde in der anschließenden Diskussion noch einmal herausgestellt.

Den Abschluss des zweiten Tagungsabschnitts steuerte HANNELORE BAIER (Sibiu) bei. Ihr Vortrag „Die deutsche Minderheit in Rumänien im Visier der Securitate“ wurde von einem Kommentar der Moderatorin GUNDA BARTH-SCALMANI (Innsbruck) eingeleitet. Baier wies zunächst auf die schwierige Aktenlage hin, die sich trotz umfangreicher Bestände weder chronologisch noch thematisch präsentiere. Mit der Gründung einer Abteilung für Staatssicherheit nach dem Muster des sowjetischen NKWD sei ein umfassender Überwachungs- und Repressionsapparat geschaffen worden, dessen Aktivitäten sich insbesondere gegen Volksgruppenvertreter gerichtet hätten. Rumäniendeutsche wurden als „faschistische“, „nationalistische“ und „chauvinistische Volksdeutsche” diffamiert und sahen sich seit 1953 systematischer Überwachung, Einschüchterung und Verfolgung ausgesetzt. Unter „Staatsführer“ Ceaușescu zeitweilig gelockert, sei dieses Vorgehen zu Beginn der 1970er-Jahre fortgesetzt und angesichts der prekären Versorgungslage im Land seit den 1980er-Jahren intensiviert worden. Rumäniendeutsche wurden nach Baier in dieser Zeit verstärkt als Informanten des Sicherheitsdienstes rekrutiert. Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion um den Nationalkommunismus des Ceaușescu-Regimes standen Fragen nach dem Verhältnis der Securitate zu Kirche und Staatsführung sowie nach Kooperationen mit Geheimdiensten „sozialistischer Bruderstaaten”.

Der dritte und letzte Tagungsabschnitt unter der Moderation von KURT SCHARR (Innsbruck) wandte sich der „Minderheitenpolitik nach 1989“ zu. Der Politologe RALF THOMAS GÖLLNER (Regensburg / München) erörterte das Thema „Minderheitenrecht und -politik in Rumänien und Ungarn von 1989 bis heute“ und fragte nach pathologischen Phänomenen innerhalb des demokratischen Systems. Das zeigte er vergleichend am Beispiel der ungarisch-rumänischen Minderheitenpolitik. Gegenwärtige Exklusionsmechanismen der Demokratie identifizierte er als Vermächtnis der Zeit des Sozialismus. Obgleich die ungarisch-rumänische Minderheitenpolitik damals wie heute asynchron verlaufe, führe sie momentan zu einer exzessiven Fragmentierung und Autonomisierung. Unterschiede zwischen der Minderheitenpolitik der beiden Staaten seien dennoch feststellbar. In Ungarn herrsche ein heterogenes, stufenloses Mischsystem vor, in dem Minderheiten Kollektivschutz genießen und mit umfassenden Gruppenrechten ausgestattet sind. Trotz des Grundsatzes der positiven Diskriminierung seien Minderheiten nur unzureichend im ungarischen Parlament repräsentiert. Rumänien kenne dagegen lediglich das Individualschutzrecht nach französisch-zentralistischem Modell. Heterogenität als kulturelles und nicht politisches Phänomen war ebenso Gegenstand der anschließenden lebhaften Diskussion wie die Frage nach Vorzügen und Nachteilen des Autonomie-Status, der Föderalisierung, Selbstverwaltung und Subsidiarität mit Blick auf Minderheiten.

In Vertretung von HANNS HEISS (Innsbruck) fragte KURT SCHARR (Innsbruck) im Vortrag „Minderheiten und Nationalstaat heute“ nach deren Verhältnis. Grundsätzlich seien konstituierende Kriterien für Minderheiten schwer bestimmbar, da ihre räumliche, zeitliche, ethnische, religiöse, kulturelle und nicht zuletzt sprachliche Existenz weiter ausgreife als der Staat, dem sie heute angehören. Es ließen sich allerdings vier wesentliche Prozesse ausmachen, die die komplexe Beziehung von Nationalitäten und Nation bestimmten. So trat die Minderheitenfrage in den Jahren der ersten Phase von 1945 bis 1965 hinter die Menschenrechtsfrage zurück. Zwischen 1966 und 1988 erhielten Minderheiten eine Aufwertung. Ab 1989 hätten sich Minderheitenkonzepte durchgesetzt, was eine neue Sichtbarkeit zur Folge gehabt habe. In der vierten und gegenwärtigen Etappe seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts, in Zeiten von EU-Krise, neuem Regionalismus und Renationalisierung, gestalte sich das Verhältnis zwischen Minderheiten und Nationalstaat neu – nicht immer zum Vorteil von ersteren.

Eine Zusammenfassung der Tagungsergebnisse mit weiterführenden und forschungsleitenden Fragestellungen gab NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) am Ende der Tagung. Zunächst wurde konstatiert, dass der Forschungsbedarf für die Zeit nach 1945 sich vielleicht noch größer zeigte als für die früheren Epochen. Der komparative Ansatz müsse noch verstärkt werden. Die Diskussion habe gezeigt, dass in den jeweiligen Ländern unterschiedliche Forschungsschwerpunkte gesetzt wurden und werden. Nach 1989 habe die Minderheitenpolitik mit der freien Identitätswahl eine neue Dimension erfahren, habe nun jedoch einen neuralgischen Punkt aufgewiesen: den der Migration. Während es in Ungarn infolge der forcierten Industrialisierung und Urbanisierung bereits in den 1960er Jahren zu einer Entwurzelung der Nationalitätendörfer kam, wobei diese Binnenmigration eine zusätzliche Dynamisierung nach 1989 verzeichnete, setzten sich in Rumänien in den 1980er Jahren und nach 1989 gewaltige Auswanderungswellen ein, die insgesamt zum dramatischen Rückgang der Nationalitäten führten. Die Auswirkungen sind, so Spannenberger, in beiden Ländern verheerend, ohne dass sie in der Forschung noch gebührend berücksichtigt werden.

Die von MATHIAS BEER (Tübingen) geleitete Abschlussdiskussion stellte die Tagungsergebnisse in den Kontext der vorangegangenen Tagungen und zog ein erstes Resümee des dreiteiligen Tagungszyklus. Beer wies darauf hin, dass man mit dem Tagungszyklus einen „Versuch“ gestartet habe, der einmalig in der Geschichte der Kommission sei. Als besonders fruchtbar habe sich der interdisziplinäre Zugriff auf historischer, kulturgeschichtlicher, ethnologischer und literarturwissenschaftlicher Grundlage erwiesen. Überzeugt habe auch der innovative Ansatz der Kommission, eine gut 150 Jahre umfassende Längsschnittuntersuchung durchzuführen. Schließlich habe sich der dezidiert vergleichbare Absatz als äußerst fruchtbar erwiesen. Diese Einschätzungen seien vor dem Hintergrund zu sehen, dass ein Vergleich der beiden Nachbarstaaten Ungarn und Rumänien in Bezug auf die von ihnen als Nationalstaaten betriebene Minderheitenpolitik nach wie vor ein Desiderat der Forschung bleibe.

Die Tagung wurde durch die Lesung „Der Scheiterhaufen“ des aus Siebenbürgen stammenden Schriftstellers György Dragomán ergänzt. Diese äußerst gelungene und gut besuchte Veranstaltung bildete zugleich den Auftakt der Rumänischen Literaturtage in Innsbruck.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Tagung und Grußwort
Mathias Beer (Tübingen) / Ernst Steinicke (Innsbruck)

Einführungsvortrag
Klaus-Jürgen Hermanik (Graz): Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im (sozialistischen) Nationalstaat: Ungarndeutsches Identitätsmanagement von 1950 bis heute

I. Minderheitenpolitik im Kalten Krieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs
Kommentar und Moderation: Harald Heppner (Graz)

Norbert Spannenberger (Leipzig): Einführung in die Tagungskonzeption

Ágnes Tóth (Budapest / Pécs): Korrekturen der stalinistischen Nationalitätenpolitik in Ungarn (1950-1965)

Andreas Schmidt-Schweizer (Budapest): Das Verhältnis zwischen der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn und dem kommunistischen Ungarn 1951-1989

Ferenc Eiler (Budapest): Nach der Reform – weiterhin ohne Gewicht? Motivationen, Mittel und Folgen der Nationalitätenpolitik in Ungarn (1968-1989)

II. Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, zwischenstaatliche Politik
Kommentar und Moderation: Dietmar Neutatz (Freiburg) / Gunda Barth-Scalmani (Innsbruck)

Olivia Spiridon (Tübingen): Selbstwahrnehmung der deutschen Minderheit in der deutschsprachigen Literatur aus Rumänien

Michael Prosser-Schell (Freiburg): Folklorisierung der deutschen Minderheit in Ungarn? Das Beispiel des Weinkellerdorfes von Hajós/Hajosch in der Batschka 1967-2016

Hannelore Baier (Sibiu): Die deutsche Minderheit in Rumänien im Visier der Securitate

III. Minderheitenpolitik nach 1989
Kommentar und Moderation: Kurt Scharr (Innsbruck)

Ralf Th. Göllner (Regensburg, München): Minderheitenrecht und -politik in Rumänien und Ungarn von 1989 bis heute

Hanns Heiss (Innsbruck), vorgetragen von Kurt Scharr (Innsbruck): Minderheiten und Nationalstaat heute

IV. Abschlussdiskussion
Kommentar und Moderation: Mathias Beer (Tübingen)

Christine Gierschick / Golo Ley (Leipzig)