Der Sudetendeutsche Tag. Zur demonstrativen Festkultur von Heimatvertriebenen

Der Sudetendeutsche Tag. Zur demonstrativen Festkultur von Heimatvertriebenen

Organisatoren
Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE)
Ort
Freiburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.11.2016 - 02.12.2016
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Von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl v. Ossietzky-Universität Oldenburg

Die Erinnerungskultur der deutschen Vertriebenen und ihre Interaktionen mit der deutschen Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration infolge des Zweiten Weltkriegs generell sind seit einigen Jahren verstärkt Gegenstand des Forschungsinteresses verschiedener Disziplinen. Die Jahrestagung des Freiburger Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE) wandte sich nun einer besonderen Erinnerungspraxis zu, die in der Geschichte der Bundesrepublik sowohl für das Selbstverständnis der Eigengruppe als auch für ihre Wahrnehmung nach außen immer wieder von großer Bedeutung war. Von der Forschung bislang nur am Rande behandelt, widmete sie sich der Entwicklung, Funktion und Ästhetik von Großtreffen der Vertriebenen am Beispiel des Sudetendeutschen Tages, neben dem Schlesiertreffen wohl das prominenteste, seit 1950 regelmäßig am Pfingstwochenende stattfindende Heimattreffen in der Bundesrepublik.

Die Tagung einleitend ging WERNER MEZGER (Freiburg), Leiter des IVDE, anhand der drei Kulturdimensionen Zeit, Raum und Gesellschaft allgemein auf das Kernthema „Heimat“ und das Vermittlungsmedium „Fest“ sowie auf ihre je spezifischen Bedeutungen für den Sudetendeutschen Tag ein. Während die Heimat hier sowohl zeitlich als auch räumlich als ein nachträglich konstruiertes Verlustobjekt erscheine, werde sie auf der sozialen Ebene in der Praxis des Heimattreffens reinszeniert und als solche im Gruppenzusammenhang erlebt. Gerade die kulturelle Praxis des Festes, dessen religiöse Traditionen beim Sudetendeutschen Tag durch die Terminierung auf Pfingsten noch potenziert werde, sei zeitlich bewusst dem Alltag enthoben und vermittele durch seine repetitiven Strukturen und rituellen Abläufe Kontinuität und Verlässlichkeit. Die räumliche Identitätsbildung sei dabei allerdings im Unterschied zu anderen Festen auf den fernen Raum der alten Heimat bezogen. Der Veranstaltungsort könne daher jährlich wechseln, weil er nur einen Ersatzort darstelle, der die Bühne für die Beanspruchung des fernen Heimatraumes darstelle.

Nach diesen eher systematischen Bemerkungen unternahmen die nachfolgenden Beiträge eine stärkere Historisierung des Sudetendeutschen Tages. TOBIAS WEGER (Oldenburg) verwies auf die politisch-kulturellen Traditionslinien und Kontinuitäten zu Veranstaltungen des völkischen und deutschnationalen Milieus in Österreich-Ungarn und insbesondere der deutschen Minderheit in Böhmen seit dem 19. Jahrhundert. Inhaltliche und performative Bezüge gebe es etwa zum „Volkstag von Eger“ von 1897, der durch das Verbot durch die österreichisch-ungarischen Behörden nachfolgend als Akt deutschnationalen Widerstandes mythisiert worden sei. Auch Pfingsten sei hier schon früh zu einem spezifisch deutschen Fest aufgeladen worden, das bereits in der Zwischenkriegszeit für auslandsdeutsche Kulturtagungen genutzt wurde, an die nach 1945 bei der Einführung des Sudetendeutschen Tages wieder angeknüpft worden sei.

Über die Geschichte des Heimattreffens von 1950 bis in die Gegenwart gab ELISABETH FENDL (Freiburg), die Organisatorin der Tagung, einen konzisen Überblick. Im Hinblick auf die zentralen Akteure, Rituale und Narrative habe es sich schon früh gezielt zu einer ideologisch geschlossenen „Willenskundgebung der Volksgruppe“ formiert, die wenig Raum für kritische Töne zugelassen habe. Trotzdem oder gerade deswegen sei bis in die 1970er-Jahre der Mobilisierungsgrad innerhalb der Eigengruppe äußerst hoch gewesen (mit dem Höchststand von 400.000 Besuchern im Jahr 1962), ebenso wie die Unterstützung von Bund, Ländern und Kommunen, bevor die Neue Ostpolitik zu Entfremdungen geführt habe. Seit den 1990er-Jahren habe es auch intern Kritik an erstarrten Austragungsformen, die mit verantwortlich für zurückgehende Besucherzahlen gemacht wurden, gegeben. In den letzten Jahren sei eine Öffnung für Teilnehmer aus der Tschechischen Republik zu beobachten. Auch Fendl wies auf sakrale Elemente und Riten des Erinnerns hin (Hymnen, Fahnen-Prozession, Fackelzüge, Totengedenken, Festreden), die bei der Gleichzeitigkeit von Binnen- und Außenkommunikation zunehmend der internen Selbstversicherung dienten, während sie in der Außenwahrnehmung oft als anachronistisch wahrgenommen würden.

Auf diese Wirkung des Sudetendeutschen Tages nach außen konzentrierte sich LIONEL PICARD (Dijon), der die Berichterstattung in den wichtigsten deutschen Printmedien untersucht hat. Das jährlich stattfindende Heimattreffen biete bis heute für die Medien wegen seiner periodischen Wiederkehr einen regelmäßigen Anlass nicht nur zur Berichterstattung über die Veranstaltung selbst, bei der das Immer-Gleiche ebenso hervorgehoben werde wie skandalisierbare Auftritte von Politikern und Funktionären; es sei auch Anlass zur Beschäftigung mit der Vertriebenen-Thematik generell, die dadurch verlässlich ihren Weg in die Medien finde. Während die Politik das Treffen als Bühne zur Profilierung gegenüber einer bestimmten Wählerklientel nutze, stelle es für die Sudetendeutsche Landsmannschaft ein effektives Instrument zur Aufmerksamkeitsgenerierung dar, deren Lenkung aber nur bedingt gelinge.

Dass dabei gerade auch die visuelle Ebene eine wichtige Rolle spielt, wurde in verschiedenen Beiträgen immer wieder deutlich. So wies etwa MATHIAS HEIDER (München) in seinem Vortrag zur Rolle von Kleidung für die Identitätspolitik darauf hin, dass die heutige Dominanz von bunten Trachten keine historische Konstante sei, sondern sich erst mit dem Aufkommen des Farbfernsehens eingestellt habe. Auf die visuelle Wirkung und identitätsstiftende Rolle von Abzeichen, Programmheften, Plakaten und Souvenirs verwies auch KLAUS MOHR (München), der die Sammlung solcher Objekte im Sudetendeutschen Archiv vorstellte.

Während Fotografien vom Sudetendeutschen Tag SARAH SCHOLL-SCHNEIDER und JOHANNE LEFELDT (Mainz) als Ausgangspunkte und Anreize für individuelle Erinnerungen und Erzählungen in Oral-History-Projekten dienten, ging K. ERIK FRANZEN (München) näher auf die Bildwelten des Sudetendeutschen Tages als komplexe Inszenierungen ein. Franzen näherte sich der Frage nach Bildstrategien und -politiken, der Verknüpfung von Bildern und Diskursen sowie den Akteuren der Bildproduktion mit Blick auf zentrale, immer wiederkehrende Bildmotive der Menschenmasse, der Jugend und der alten Heimat. Die dabei verfolgten Bildstrategien interpretierte er nicht nur als Versuche der Identitätsbildung nach innen, sondern auch als visuelle „Ausweitung der (diskursiven) Kampfzone“ nach außen, in der es um Anerkennung, Herrschaftslegitimierung und politische Forderungen ginge.

Auf die beabsichtigte Außenwirkung des Sudetendeutschen Tages ging auch PETER GENGLER (Chapel Hill) näher ein, indem er das Heimattreffen im Kontext der außerordentlich aktiven internationalen Lobbyarbeit der Vertriebenenverbände bis 1960 betrachtete. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges hätten sie vor allem versucht, die amerikanische Politik und Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Rege Verbindungen hätten insbesondere zu Vertretern der konservativ-antikommunistischen Liberation Policy bestanden, die allerdings nur bedingt erfolgreich gewesen seien. Der zunehmenden Anerkennung des Leidens der deutschen Vertriebenen habe immer die realpolitische Überzeugung von der Unumkehrbarkeit ihrer Aussiedlung gegenüber gestanden.

Auch weitere Vorträge zogen transnationale Bezüge, vornehmlich in vergleichender Perspektive, die geeignet waren, vermeintliche Selbstverständlichkeiten des Sudetendeutschen Tages zu hinterfragen. HEINKE KALINKE (Oldenburg) stellte die Treffen von deutschen Sozialdemokraten vor, die bereits vor dem Einmarsch der Deutschen 1938/39 aus der Tschechoslowakei nach Kanada geflüchtet waren. Ihre Zusammenkünfte, die seit Ende der 1950er-Jahre im zweijährigen Turnus stattfinden, unterschieden sich in der verwendeten Symbolik und in den Narrativen deutlich vom Sudetendeutschen Tag. Die alte Heimat, die nur einen weitgehend entidyllisierten Randaspekt bilde, diene weniger als identitätsstiftendes Bezugsobjekt als das sozialdemokratische Selbstverständnis und die politische Fluchterfahrung vor dem NS.

Eine weitere Vergleichsgruppe stellte JANA NOSKOVÁ (Brno/Brün) mit den in der Tschechischen Republik verbliebenen Deutschen vor. Hier fungierte der Sudetendeutsche Tag als direktes Vorbild für die seit 1997 jährlich durchgeführte Großveranstaltung der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen und Mähren. Die Veranstaltung diene auch hier dem Nachweis der Existenz und Vitalität der Eigengruppe nach innen und außen. Ein wichtiger Adressat sei dabei nicht nur die tschechische Politik und Öffentlichkeit, sondern auch die deutsche Regierung, die sie als deutsche Minderheit finanziell unterstütze. Den Erwartungen der Geldgeber gemäß werde die Gruppe auf dem Treffen deutsch ethnisiert, obwohl die meisten Beteiligten untereinander tschechisch sprächen und die direkten familiären Bezüge durch Heiratsverhalten und Generationenfolge abnähmen. Ähnliches gilt für die Teilnehmer des Sudetendeutschen Tages, so dass sich in beiden Fällen die Frage nach der Zukunft dieser Heimattreffen stellt. Beim Sudetendeutschen Tag 2016 gingen bereits Gerüchte um, dass dies wohl der letzte sein werde.

Unabhängig vom weiteren Fortbestand solcher Heimattreffen hat die Tagung gezeigt, dass sie bereits heute ein lohnendes Untersuchungsfeld nicht mehr nur ethnologischer und soziologischer, sondern auch historischer Forschung sind. Als kulturelle Praktiken dienten sie sowohl der Konstituierung und Festigung der Eigengruppe als auch der Bestimmung ihres Verhältnisses zur Gesamtgesellschaft. Immer wieder wurden auf ihnen und in der Auseinandersetzung mit ihnen Konzepte nationaler Identität verhandelt, deutschlandpolitische Positionierungen bestimmt, Fragen sozialer Integration und geschichtspolitischer Erinnerung diskutiert. Die Tagung hat einige wichtige Schneisen für weitere Untersuchungen geschlagen. Es ist daher erfreulich, dass ein Tagungsband angekündigt wurde, der zudem noch einige zusätzliche Beiträge enthalten soll.

Konferenzübersicht:

Werner Mezger (Freiburg): Festkultur zwischen nicht mehr und noch nicht. Heimatinszenierungen auf dem Sudetendeutschen Tag

Elisabeth Fendl (Freiburg): Kempten 1950 – Nürnberg 2016. Eine Geschichte des Sudetendeutschen Tags

Tobias Weger (Oldenburg): Der Sudetendeutsche Tag und seine politisch-kulturellen Wurzeln vor 1945

Peter Gengler (Chapel Hill): „Mahnruf an das Gewissen der Welt“: Heimattreffen als Instrument der internationalen Aufklärungsarbeit der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, 1948–1960

K. Erik Franzen (München): Die Ausweitung der Kampfzone. Bildwelten der Sudetendeutschen Tage als komplexe (Selbst-)Inszenierungen

Mathias Heider (München): „Erscheint daher in Tracht!“ Identitätspolitik und Kleidung beim Sudetendeutschen Tag

Heinke Kalinke (Oldenburg): Heimattreffen in Übersee: Die Sudetendeutschen in Kanada in den 1950er- und 1960er-Jahren

Lionel Picard (Dijon): Der Sudetendeutsche Tag – eine medienwirksame Veranstaltung?

Sarah Scholl-Schneider / Johanne Lefeldt (Mainz): „Pfingsten ist für mich Sudetendeutscher Tag.“ Erzählen über eine Konstante

Klaus Mohr (München): „Der Heimat die Treue!“ Der Sudetendeutsche Tag im Spiegel der Sammlung des Sudetendeutschen Museums

Jana Nosková (Brno/Brünn): Die Großveranstaltung der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik – Identitätsstütze oder entleertes Ritual?


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