30. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

30. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Organisatoren
Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung; Florian Bock, Tübingen / Eichstätt; Daniel Gerster, Münster
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2016 - 20.11.2016
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Von
Daniel Gerster, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Florian Bock, Lehrstuhl für Mittlere und Neue Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Universität Eichstätt-Ingolstadt

Vom 18. bis zum 20. November 2016 trafen sich circa 45 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen wie Theologie, Geschichtswissenschaft und Soziologie zur 30. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK). Die Jubiläumstagung, die von den beiden Sprechern Florian Bock (Tübingen/Eichstätt) und Daniel Gerster (Münster) geleitet wurde, fand in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn statt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen wie gewohnt die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung. Die Generaldebatte am Sonntag widmete sich in diesem Jahr dem Thema „Katholizismus und Moderne“. Sie griff damit ein Thema auf, das den SAK seit seiner Gründung 1987 begleitet hat, wie auch in einer Podiumsdiskussion mit den ehemaligen Sprecherinnen und Sprechern am Samstagabend zur Sprache kam.

Die Tagung begann am Freitagabend mit einem Vortrag von JÖRG SEILER (Erfurt). Er stellte mit dem Projekt „Kopfwandel. West-östliche Kirchenerfahrungen“ ein Kooperationsprojekt der Institute für Katholische Theologie in Halle und Dresden mit der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt vor. In nicht-repräsentativen, halb-standardisierten Interviews wurden Katholiken, die aus der alten Bundesrepublik in die neuen Bundesländer gezogen waren, nach divergierenden Kirchen- und Gemeindeerfahrungen befragt. Im Ergebnis zeigte sich, dass Unterschiede unter anderem im Priesterbild und in den Vergemeinschaftungsformen thematisiert wurden. So wird die Kirche in Mittel- und Ostdeutschland eher mit einem starken Familienbezug identifiziert, während in den westdeutschen Bundesländern eher die kirchlichen Institutionen in den Vordergrund treten. Markant wurden die Unterschiede von einer befragten Person in den Metaphern von einem (ostdeutschen) „Wikingerboot“ und einem (westdeutschen) „Kreuzfahrtschiff“ zum Ausdruck gebracht. Seilers Ergebnisse sowie sein methodischer Zugang wurden im Anschluss an die Präsentation von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern kontrovers diskutiert.

Den Samstag eröffnete ANTONIA SCHILLING (Universität Freiburg) mit einem Vortrag über die CDU-Politikerin und ‚doppelte Verfassungsmutter‘ Helene Weber (1881–1962), dem Thema ihres Promotionsprojekts. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage, wie das Spannungsverhältnis von Emanzipation als Frau einerseits und dem Festhalten an konservativ-katholischen Wertvorstellungen andererseits in der politischen Arbeit von Helene Weber zum Tragen kam. Sie soll durch eine intersektionale Perspektive erschlossen werden, durch die das wechselseitige Verhältnis von Geschlecht, Konfession und Generation aufgeschlüsselt wird.

Schillings Präsentation bildete zugleich den Auftakt für die Vorstellung einer ganzen Reihe von aktuellen Projekten, die sich im Bereich der Katholizismusforschung mit der historischen Biografieforschung beschäftigen. So stellte KATHARINA KRIPS (München) in ihrem Beitrag den Moral- und Pastoraltheologen Johann B. Hirschmann SJ (1908–1981) vor – und damit eine in der katholischen Forschungslandschaft bislang kaum beachtete Persönlichkeit. Dabei war Hirschmann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vielfältiger Weise am Wiederaufbau der katholischen Kirche und Gemeinschaft in (West-)Deutschland beteiligt gewesen. Zugleich trat er als unermüdlicher Vermittler und Netzwerker auf, der bis zu seinem Lebensende vor allem darum bemüht war, die Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) in einer sich rasch wandelnden Welt umzusetzen.

Das Biografie-Panel beschloss GABRIEL ROLFES (Bonn) mit einem Vortrag über sein Dissertationsprojekt zur zweiten Lebenshälfte des katholischen Intellektuellen Walter Dirks (1901–1991). In der Zusammenführung von Ideengeschichte und Katholizismusforschung will Rolfes erstmals quellengestützt Dirks’ Sicht auf Kirche, Gesellschaft und Politik in der Zeit der Bundesrepublik zusammenfassend untersuchen. Erkenntnisse fehlten, so Rolfes, insbesondere über Dirks’ Religiosität und seine Kirchenbindung, aber auch über seine genauere Vorstellung des Verhältnisses von Christentum und Sozialismus. In der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass sich eine Betrachtung zwischen den ‚Chiffren‘ 1933 und 1968 als besonders gewinnbringend erweisen könnte.

Am Nachmittag wurde das Thema der Biografieforschung in gewisser Weise noch einmal durch CHRISTOPH VALENTIN (Münster) aufgegriffen. Er setzte sich in seinem Beitrag mit der Frage auseinander, ob die Apostolischen Nuntien im 19. Jahrhundert Promotoren der Ultramontanisierung waren. Dazu nahm er die Person von Michele Viale Prelàs in den Blick, der von 1838 bis 1845 Nuntius in München war. Anhand von Viale Prelàs Handlungen und Texten prüfte Valentin, welche Dimensionen der Ultramontanisierung durch diesen beeinflusst werden konnten, inwieweit er intentional vorgegangen zu sein schien und auf welcher Wahrnehmungsgrundlage sein Handeln beruhte. Zentral war hierbei die Frage, ob Viale Prelà eher als Priester oder als Diplomat handelte und ob er sich vor allem auf dem Feld der Religion oder dem der Politik bewegte. Dem anregenden Vortrag folgte eine kontroverse Diskussion über die Begrifflichkeiten und Fragestellung des vorgestellten Dissertationsprojekts.

Im Anschluss stellte MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) ihr bereits weit vorangeschrittenes Habilitationsprojekt zu den ‚Sorgen um die Seele‘ vor, in dem sie das komplexe Beziehungsverhältnis zwischen Psychiatrie und Religion für den Raum Tirol im Vormärz auszuloten versucht. In ihrem minutiös ausgearbeiteten Vortrag zeigte Heidegger den Quellenwert historischer psychiatrischer Krankenakten auch für die Katholizismusforschung auf und thematisierte am Beispiel des therapeutischen Umgangs mit dem Teufel im historischen Irrenhaus in patientenorientiertem Zugriff Überlagerungen zwischen den Wissensfeldern Seelsorge und Seelenheilkunde sowie geteilte und differente Deutungsmuster religiöser Pathologien.

Zum Abschluss der Vorstellungsrunde aktueller Forschungsprojekte stellte MARIA NEUMANN (Berlin) ihr Promotionsprojekt „Religion in der geteilten Stadt. Religiöse Vergesellschaftung und Kalter Krieg in Berlin“ vor. Basierend auf dem von Christoph Kleßmann stark gemachten Ansatz einer Verflechtungsgeschichte plädierte sie dafür, christliche Gemeinschaften in der DDR und in der Bundesrepublik nicht einfach bloß als ‚Selbige‘ oder ‚die Anderen‘ zu fassen. Stattdessen solle auf der Grundlage ihres gemeinsamen Erfahrungshorizontes versucht werden, Verflechtungen herauszuarbeiten, die nicht nur auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hindeuten, sondern den Wandel von Praktiken, Einstellungen und Werten als mögliche Wechselwirkungen beschreiben.

Der Samstagabend stand ganz im Zeichen der Selbstreflexion und -vergewisserung des Arbeitskreises anlässlich der 30. Jahrestagung. Hierzu waren die ehemaligen Sprecherinnen und Sprecher AUGUST LEUGERS-SCHERZBERG (Saarbrücken), GISELA FLECKENSTEIN (Köln), JOACHIM SCHMIEDL (Vallendar), NICOLE PRIESCHING (Paderborn) und ANDREAS HENKELMANN (Bochum) eingeladen, sich in einem Podiumsgespräch in Aus- und Rückblicken über die Ursprünge, Arbeit und Zukunft des Schwerter Arbeitskreises sowie der Katholizismusforschung auszutauschen. Ein wichtiger Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten war hierbei sicherlich die Einlassung von Leugers-Scherzberg, dass die Gründung des SAK nicht nur auf das Bedürfnis zurückging, die Katholizismusforschung der 1980er-Jahre für sozial- und strukturhistorische Methoden zu öffnen, sondern auch als ein bewusster (kirchen-)politischer (Protest-)Akt junger, alternativer Katholikinnen und Katholiken gegen die ihrer Ansicht nach verknöcherte Kirchengeschichtsforschung ihrer Zeit. Auch wenn sich diese Frontstellungen inzwischen in weiten Teilen aufgelöst haben, waren sich alle Beteiligten einig darin, dass der Arbeitskreis auch in den kommenden Jahren gute Dienste leisten könne, wenn er es schaffe, verschiedene Disziplinen und Forschungsansätze in der Katholizismusforschung zusammenzuführen. Die Katholische Akademie Schwerte ihrerseits wird weiterhin organisatorische Kontinuität garantieren, indem sie als Forum für künftige Jahrestreffen dient.

In der Generaldebatte am Sonntag wurde mit dem Verhältnis von Katholizismus und Moderne eine Forschungsfrage aufgegriffen, die den SAK seit seinen Anfängen begleitet hat. Im Zentrum der diesjährigen Debatte stand die Frage, wie die Katholizismusforschung mit neuen Erkenntnissen umzugehen hat, die die Religionsforschung in den vergangenen Jahren über den Zusammenhang von Religion, Säkularisierung und Modernisierung gewonnen hat. ANDREAS HENKELMANN würdigte in seinem Beitrag zunächst die Anfangsphase des Schwerter Arbeitskreises als genuinen Ort der Diskussionen um das katholische Milieu, ohne allerdings, wie häufiger zu lesen ist, eine einheitliche Position auszubilden. Anschließend skizzierte er diese Diskussionen anhand der Fragen nach der Geschlossenheit, nach Anfang und Ende sowie nach der Modernität des katholischen Milieus und nahm auch den methodischen Zugriff in den Blick. Dabei wurde deutlich, dass die ursprünglichen Milieukonzepte stark sozialgeschichtlich geprägt waren, während nach der Jahrtausendwende auch kulturgeschichtliche Perspektiven aufkamen. KARL GABRIEL (Münster) schloss in seinem Referat an diese Überlegungen an, indem er sich mit den Hauptmerkmalen moderner Gesellschaften unter besonderer Berücksichtigung von funktionaler Differenzierung und Entdifferenzierung beschäftigte. Dabei interpretierte er die katholische Milieubildung des 19. und 20. Jahrhunderts als Entdifferenzierung, wobei er zugleich auf den Beitrag der Milieuakteure zur funktionalen Differenzierung gegenüber den entdifferenzierenden Ansprüchen des Staates verwies. GEORG ESSEN (Bochum) rekonstruierte in seinem Vortrag schließlich theologische Debatten zum Verhältnis von Natur und Gnade, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert geführt wurden, als innerkatholische Modernitätsdiskurse. Anhand einer Analyse der beteiligten Positionen lassen sich die Ambivalenzen der katholischen Selbstverortung in Modernisierungserfahrungen beschreiben und deuten. Semantische Analysen zu den hier einschlägigen Begriffsfeldern ‚Gnade‘, ‚Glaube‘ und ‚Offenbarung‘ erlauben wiederum Einblicke in Mechanismen, auf welche Weise Glaubensdoktrinen kirchliche Autoritätskulturen entweder legitimieren oder infrage stellen können, wie Essen aufzeigte.

In der anschließenden Debatte setzten sich die Teilnehmer angeregt mit den Ausführungen und Thesen aller drei Vorträge auseinander. Diskutiert wurde dabei besonders, ob die zeithistorische Forschung nach dem „Abschied vom Milieu“ ein funktionales Äquivalent für die Erfassung des Katholizismus der letzten fünf Jahrzehnte braucht. Denn mittlerweile seien die Katholikinnen und Katholiken in den „multiple modernities“ angekommen. Daher weise die Frage nach einem Ersatzkonzept, so die Meinung einiger Teilnehmender, bereits auf die Funktion der Vergangenheitsbewältigung hin, die einem festen soziologischen Analysekriterium wie dem Milieukonzept innerhalb des katholischen Raumes zukomme.

Der Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung wird sich auch im kommenden Jahr wieder zu seiner Jahrestagung zusammenfinden. Diese wird vom 24. bis 26. November 2017 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfinden

Konferenzübersicht:

Jörg Seiler (Erfurt): Kopfwandel. West-östliche Kirchenerfahrungen

Antonia Schilling (Freiburg): Helene Weber (1881–1962). Eine Karriere zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

Katharina Krips (München): Johann B. Hirschmann (1908–1981). Bausteine einer Biografie

Gabriel Rolfes (Bonn): „Und dennoch katholisch?“ Zwischen Treue und Kritik. Walter Dirks als katholischer Intellektueller 1945–1991

Christoph Valentin (Münster): Die päpstliche Diplomatie und der Aufstieg des Ultramontanismus. Der Apostolische Nuntius Michele Viale Prelà in München (1838–1845)

Maria Heidegger (Innsbruck): Sorgen um die Seele. Psychiatrie und Religion in Tirol 1830–1850

Maria Neumann (Berlin): Religion in der geteilten Stadt. Christliche Vergesellschaftung und Kalter Krieg in Berlin

Andreas Henkelmann (Bochum): Gegen die „Desiderate der Katholizismusforschung“. Das Forschungsprogramm des frühen Schwerter Arbeitskreises

Karl Gabriel (Münster): Zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung. Zum spannungsreichen Verhältnis von katholischem Milieu und Moderne

Georg Essen (Bochum): Katholizismus und Moderne. Theologische Überlegungen zu einem schwierigen Verhältnis


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