Bevölkerung und Land im Wandel. Migration in Mitteldeutschland

Bevölkerung und Land im Wandel. Migration in Mitteldeutschland

Organisatoren
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Historische Kommission für Sachsen-Anhalt; Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
David Schmiedel, Forschungsstelle für Landesgeschichte, Religionsgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Seit jeher war die Region „Mitteldeutschland“ ebenso das Ziel wie der Ursprung von Migrationsbewegungen. Die Gründe für die Zu- und Abwanderungen waren dabei so verschieden wie die Lebensumstände der Menschen, die eine neue Heimat suchten.

Die interdisziplinäre Tagung „Bevölkerung und Land im Wandel“ unternahm es erstmals, die Formen und Faktoren von Migration in Mitteldeutschland im 20. und 21. Jahrhundert vergleichend zu beobachten und zu diskutieren. Sie wurde vom Lehrstuhl für die Geschichte der Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert) der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt und der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt ins Werk gesetzt. Sie fand in den Franckeschen Stiftungen zu Halle statt und machte deutlich, dass die Geschichte der Wanderungsbewegungen von und nach Mitteldeutschland eine Herausforderung für die historiographischen und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen darstellt – nicht nur aufgrund der zahlreichen Zuwanderungen wie zuletzt im Jahr 2015.

Die einleitenden Grußworte des Vorsitzenden der Historischen Kommission Sachsen-Anhalt, THOMAS MÜLLER-BAHLKE (Halle), und der stellvertretenden Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung, CORNELIA HABISCH (Magdeburg), bekräftigten den dringenden Bedarf an historischem Wissen gerade zur Migration in Mitteldeutschland. SILKE SATJUKOW, die die Tagung gemeinsam mit YVONNE KALINNA (beide Magdeburg) ins Leben gerufen und durchgeführt hat, führte sodann in die Tagung ein, indem sie darauf hinwies, dass die Bevölkerung der Region gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 vielfältige Begegnungen und Erfahrungen mit „dem Fremden“ und „dem Anderen“ machen konnte respektive machen musste. Insofern habe die Bevölkerung der Deutsche Demokratischen Republik (DDR) keineswegs in einem abgeschlossenen Raum gelebt.

Als erster Referent sprach HANS-JOACHIM MAAZ (Halle) über „Die narzisstische Gesellschaft – Migrationsproblematik und Gesellschaftskrise“. Der Psychiater und Psychoanalytiker diagnostizierte, die deutsche Gesellschaft leide unter einer krankhaften „Spaltung“: Aktuelle Phänomene wie die fremden- und islamfeindliche Bewegung „PEGIDA“ einerseits und die „Willkommenskultur“ im Jahr 2015 andererseits deuteten seiner Meinung nach auf eine narzisstische Disposition der gesamten Gesellschaft hin. Durch diese sei unser Gemeinwesen, wenn sich seine einzelnen Mitglieder nicht grundlegend änderten, ebenso dem Untergang geweiht wie die Gesellschaften des nationalsozialistischen „Dritte Reich“ und die DDR. Die provokanten Darlegungen von Hans-Joachim Maaz belebten alle weiteren Debatten; gerade aus historischer Perspektive wurden zahlreiche Ausführungen in der Diskussion höchst kritisch in Frage gestellt.

Der Leiter des Industrie- und Filmmuseums Bitterfeld-Wolfen UWE HOLZ erinnerte in seinem Beitrag an den Zu- und Wegzug von polnischen Bergbauarbeitern im 19. und 20. Jahrhundert. Anhand seiner Ausführungen wurde deutlich, dass Migration und die Entwicklung von Migrantengemeinden oft langwierige Prozesse sind, die sich über die Grenzen von Jahrhunderten hinweg erstrecken. Denn die Problematik der polnischen Einwanderer, die wahrscheinlich über „Mundpropaganda“ Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Raum Breslau in den Süden des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt kamen, um von dem Arbeitskräftemangel im dort entstehenden Industrierevier zu profitieren, verschärfte sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg: Zwar hatte zwischen der einheimischen Bevölkerung, die vorrangig dem protestantischen Glauben angehörte, und den zugezogenen katholischen Polen nie Eintracht geherrscht, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen „die Polen“, die zumeist die schwersten und schlechtbezahltesten Arbeiten im Braunkohlebergbau verrichten mussten, im Kaiserreich „angekommen“ zu sein. Polnische Vereine, zum Beispiel zur Freizeitgestaltung, wurden gegründet und vom preußischen Staat mehr oder minder geduldet Es entstanden eigene katholische Gemeinden und Kirchen (1895 Bitterfeld, 1905 Sandersdorf). Mit Kriegsbeginn 1914 zogen zahlreiche aus Polen stammende Soldaten für ihr „Vaterland“ in den Krieg. Trotzdem verließ ein Großteil der inzwischen in zweiter und dritter Generation dort lebenden Menschen nach dem Ende des Krieges Mitteldeutschland wieder und kehrte nach Polen zurück. Mangelnde Möglichkeiten, ökonomisch und sozial zu partizipieren, gelten als Gründe für diese Re-Migration.

Eine Art Gegenentwurf zeichnete im Anschluss der Landeshistoriker MATTHIAS TULLNER (Magdeburg): Auch er beschäftigte sich mit der Arbeitsmigration in das mitteldeutsche Industrierevier, jedoch stand im Zentrum seiner Betrachtungen die Binnenzuwanderung von Deutschen aus den westlichen Teilen des Kaiserreiches. Es waren vor allem gut ausgebildete Fachkräfte wie Ingenieure, die von den neu entstehenden Industriebetrieben angezogen wurden. Anders als die polnischen Bergarbeiter kamen diese Menschen, um zu bleiben. Moderne Werkssiedlungen mit eigenen Kirchgemeinden und häufig eigenen Kulturangeboten sowie die sicheren Arbeitsplätze boten während des gesamten ersten Drittels des 20. Jahrhunderts ausreichend Anreiz zum Verlassen der alten Heimat.

Dass der umfassende politische Wechsel durch die Einrichtung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945 und der Gründung der DDR 1949 nur bedingt zu einer Veränderung der Migrationsdynamiken führte, machte der nächste Teil der Tagung deutlich, der thematisch unmittelbar mit der Situation zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 einsetzte. Der Soziologe und Kulturhistoriker RENÉ BIENERT (Weimar) und die Historikerin JULIA WENKE (Erfurt) widmeten sich den „Displaced Persons in Mitteldeutschland 1945“, wobei sie die Wanderungsbewegungen verschiedenster ethnischer und nationaler Gruppen nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und in Folge der veränderten Grenzen in Mitteleuropa betrachteten. Die beiden Referenten zeigten auf, dass die Repatriierung stark von externen Faktoren wie dem ursprünglichen Herkunftsland der ins Deutsche Reich verschleppten Menschen abhing: Westeuropäer konnten zumeist noch im Verlauf des Jahres 1945 remigrieren, während Osteuropäer teilweise noch über Jahre in der SBZ verblieben oder einer neuen Zwangsmigration in die Sowjetunion ausgesetzt waren. Wie die polnischen Bergbauarbeiter waren auch die Displaced Persons nicht gekommen um zu bleiben – wenn auch aus anderen Gründen. Diese Zwangsmigranten verband oftmals vor allem die Hoffnung auf eine schnelle Heimkehr.

Ähnliche Hoffnungen mögen nach dem Zweiten Weltkrieg auch andere unfreiwillige Migranten gehegt haben, die bereits ab Ende 1944 in großer Zahl in Mitteldeutschland anlangten: die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Der Geschichte dieser Personengruppe widmete sich die Volkskundlerin UTA BRETSCHNEIDER (Dresden). Obwohl auch diese Menschen ihre Heimat nicht freiwillig verlassen hatten und Mitteldeutschland vor allem als Transitkorridor nach Westen benutzten, blieb ein Teil von ihnen, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Die 1949 entstehende DDR war jedoch aus politischen Gründen nur begrenzt dazu bereit, sich mit deren spezifischen Bedürfnissen auseinanderzusetzen, weswegen die Geschichte der ehemaligen „Ostflüchtlinge“ in der Agitation und Propaganda als Erfolgsgeschichte einer Integration in den „Arbeiter- und Bauernstaat“ kolportiert wurde.

Die Historikerin JEANETTE VAN LAAK (Giessen) vollzog anhand eines aufschlussreichen Fallbeispiels die mehr oder minder freiwillige „Ausreise“ von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren nach. „Mehr oder minder“ deshalb, da van Laak nicht nur den Prozess der Emigration nach einem gestellten Ausreiseantrag beleuchtete, sondern auch die Gedanken und Lebensentscheidungen Revue passieren ließ, die die Menschen gewöhnlich zum Einreichen eines solchen unwiderruflichen Antrages bewogen hatten. Dabei wurde am konkreten Beispiel deutlich, dass es durchaus nicht monetäre Beweggründe waren, die das hier vorgestellte Ehepaar mit ihren Kindern zur Ausreise bewogen hatten, sondern der Wunsch nach persönlicher Selbstentfaltung und einer freien Ausgestaltung des Lebens.

Die nächsten Referenten thematisierten die Phänomene und Probleme aktueller Zuwanderung: Die Humangeographin BIRGIT GLORIUS (Chemnitz) trug eine auf statistischen Daten beruhende Analyse der Flüchtlingsaufnahme in Sachsen vor. Anhand ihrer Ausführungen und dem anschließenden Gespräch wurde deutlich, dass es vor allem die in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen de facto kaum vorhandene Religion des Islam ist, die den Mitteldeutschen heute Sorgen bereitet und nicht die Migration und damit das „Fremde“ per se (die anderen Beiträge hatten dargelegt, dass die Bevölkerung Mitteldeutschlands durch Zu- und Abwanderung sowie durch die Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert zahlreiche Erfahrungen mit dem „Fremden“ gesammelt hatte).

Dieser Religion und den Vorbehalten ihr gegenüber näherte sich abschließend die Kommunikationswissenschaftlerin SABRINA SCHMIDT (Erfurt). Die Referentin konnte mittels Daten aus dem aktuellen Religionsmonitor zahlreiche Vorbehalte gegenüber Muslimen in der deutschen Gesellschaft belegen, so etwa, dass 57 Prozent der in Deutschland lebenden Nicht-Muslime den Islam bedrohlich finden und 61 Prozent der Meinung sind, dass der Islam nicht zum Westen gehöre. Gleichwohl stellte Schmidt heraus, dass bezüglich des Islam ein höherer Grad an Bildung nicht als hemmender Faktor für islamophobe Tendenzen wirkt. Dies führe gerade in Mitteldeutschland dazu, dass trotz des nur geringen Anteils an Muslimen (gerade einmal zwei Prozent) die Vorbehalte gegenüber der ganz „anderen“ Religion außerordentlich wirkmächtig sind. Dass ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung zudem säkular lebt und keine oder kaum Erfahrungen mit religiösen Praxen überhaupt hat, kommt als erschwerender Faktor hinzu.

Silke Satjukow stellte in ihrem abschließenden Resümee heraus, dass sich die Menschen in Mitteldeutschland über die Zeiten hinweg stets mit Neuerungen und Veränderungen und vor allem mit Fremden und mit „den Anderen“ konfrontiert sahen. Der historiographische Überblick zeigt: Zuwanderung konnte gelingen und Prozesse der Integration bedingen – sie konnte aber auch scheitern. Die Faktoren für ein solches Scheitern waren und sind ebenso vielfältig wie die Gründe für die Zu- und Abwanderung an sich. Die Sprache, die Kultur, die Religion der Ankommenden spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Erfahrungen und Erwartungen der einheimischen Bevölkerung. Leider würden zumeist kurzsichtige und kurzfristige Blicke auf das Migrationsgeschehen die Menschen vergessen lassen, dass es die „Einheimischen“ als eine homogene Kategorie im mitteldeutschen Raum nicht gibt und auch nicht gegeben habe – in der Tat belegten dies die Beispiele aus dem 20. und 21. Jahrhundert augenfällig.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Grußworte
Grußwort des Vorsitzenden der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt, Thomas Müller-Bahlke
Grußwort des Direktors der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Maik Reichel
Begrüßung, Silke Satjukow

Eröffnung der Tagung
Moderation: Silke Satjukow

Hans-Joachim Maaz – Die narzisstische Gesellschaft – Migrationsproblematik und Gesellschaftskrise

Jochen Oltmer – Perspektiven der Historischen Migrationsforschung

Panel I: Arbeit – Wohlstand – Expansion. Zuwanderung während der Hochindustrialisierung
Moderation: Manfred Hettling

Uwe Holz – Wachstum durch Zuzug - Polnische Bergbauarbeiter im Bitterfelder Braunkohlenrevier

Mathias Tullner – Zuwanderung in das mitteldeutsche Industriegebiet im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Panel II: Umsiedlung – Vertreibung – Flucht. Zwangsmigration im geteilten Deutschland
Moderation: Patrick Wagner

René Bienert und Nora Blumberg – Befreit – und dann? – Displaced Persons in Mitteldeutschland 1945

Uta Bretschneider – Zusammen / Getrennt: Flüchtlinge und Vertriebene in der Umbruchsgesellschaft der SBZ/DDR

Jeannette van Laak – Migration als Schwellenerlebnis? Zur Erfahrungsgeschichte von DDR-Übersiedlern

Panel III: Zwischen Ablehnung und Akzeptanz – Neue Herausforderungen für die Gegenwart?
Moderation: Maik Reichel

Birgit Glorius – Herausforderung Diversität? Zur Flüchtlingsaufnahme in ländlichen Regionen Ostdeutschlands am Beispiel Sachsens

Sabrina Schmidt – Die Wahrnehmung des Islams – Medienbilder und Bevölkerungsmeinung

Abschließender Kommentar