Hofjuden - Landjuden - Betteljuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit

Hofjuden - Landjuden - Betteljuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Institut für Geschichte der Juden in Österreich
Ort
St. Pölten, Wien und Mikulov/Nikolsburg
Land
Austria
Vom - Bis
30.06.2002 - 04.07.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Kieslinger

Verloren ist, wovon wir uns kein Bild zu machen vermögen....

Die 12. Internationale Sommerakademie des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, die vom 30. Juni bis zum 4. Juli 2002 in St. Pölten, Wien und Mikulov/Nikolsburg stattfand, hatte "HOFJUDEN-LANDJUDEN-BETTELJUDEN. JÜDISCHES LEBEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT" zum Thema.

Vortragende aus Österreich, Deutschland, Israel, der Slowakei und der Tschechischen Republik vermittelten in ihren Vorträgen ein sehr umfassendes, aus verschiedensten Perspektiven dargestelltes Bild jüdischer Existenz vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in welches neueste Forschungserkenntnisse aus unterschiedlichen Projekten einflossen.
In dem Versuch, von außen nach innen gehend jüdisches Leben darzustellen, galt der Schwerpunkt am Beginn der Veranstaltung den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die noch im Spätmittelalter ihren Anfang nahmen. Prof. Michael Toch (Israel) lieferte - basierend auf den Ergebnissen von Germania Judaica III - einen Überblick über die Entwicklungen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Rechtsstellung der Juden im Heiligen Römischen Reich behandelte Prof. Friedrich Battenberg (Darmstadt) in seinem Vortrag. Ihm ging es vor allem um die Darstellung des rechtlichen Rahmens, der für Juden galt. Er stellte den Juristendiskurs über die Rechtsstellung der Juden im Reich in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Diesen bezeichnete er als "missing link" zwischen Kammerknechtschaft und Judenregal im Zuge der Verrechtlichung jüdischer Existenz. Dr. Barbara Staudinger (Wien) beschäftigte sich anschließend mit den Netzwerken und Handlungsstrategien von Juden vor Gericht. Hofjuden, die elitäre Schicht frühneuzeitlichen Judentums, traten vielfach und in unterschiedlichsten Zusammenhängen vor dem Reichshofrat auf. Frau Dr. Staudinger konnte deutlich das Auseinanderklaffen von Rechtsnorm und Rechtspraxis an einigen Prozeßbeispielen herausarbeiten. Hofjuden hatten sowohl in Beziehung zur christlichen Umwelt, im speziellen dem Herrscherhaus, aber auch nach innen, im Rahmen der jüdischen Gemeinde eine Sonderstellung inne. Nicht selten war ihre Anwesenheit Ausgangspunkt für die Neugründung einer jüdischen Gemeinde. Mit diesen Entwicklungen setzte sich Dr. Rotraud Ries (Bielefeld) in ihrem Beitrag "Eine alte Herausforderung für eine neue Oberschicht? Zur Entstehung neuer gemeindlicher Strukturen" auseinander.

Die Landjuden als wichtige Gruppe jüdischer Lebensvarianten in der Frühen Neuzeit bildeten einen weiteren Schwerpunkt der Ausführungen. Prof. Stefan Rohrbacher (Duisburg) entwarf in seinem Vortrag "Jüdische Frömmigkeit und religiöse Praxis im ländlichen Alltag" nicht nur ein sehr plastisches Bild jüdischen Landlebens, sondern machte die Schwierigkeiten der Ausübung religiösen Lebens auf dem Land wie auch deutliche Veränderungen und Anpassungen an diese neuere Existenzform deutlich. Die Einhaltung der Religionsgesetze war ebenso ein Problem, wie der Kontakt zu Glaubensgenossen, zu Verwandten und Bekannten in anderen Orten oder Städten. Häufig kam es nicht nur zu einem Gegen- und Nebeneinander sondern zu einem Miteinander mit der christlichen Bevölkerung. Dies arbeitete Dr. Wolfgang Treue (Duisburg) in seinen Ausführungen zur "kleinen Welt" von Christen und Juden im ländlichen Hessen heraus.

Prag als größter Gemeinde jener Zeit wie auch der weitaus kleineren Wiener Gemeinde, die von 1570 bis 1670 bestand, galt ein weiterer Schwerpunkt der Tagung. Dr. Alexandr Putík (Prag) und Dr. Daniel Polakovic (Prag) widmeten sich in ihren beiden Beiträgen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Prager Judenstadt im 17. Jahrhundert. Von besonderem Interesse waren die Ausführungen zu mährischen und slowakischen Juden im 16. und 17. Jahrhundert, da in diesem geographischen Bereich jüdische Geschichte nahezu noch ein Forschungsdesiderat darstellt. Mgr. Pavel Kocman (Brünn) lieferte in seinem Beitrag nicht nur interessante bis dato unbekannte Konfliktfälle aus Mähren, sondern zeigte deutliche Strukturen im Verhältnis der mährischen Juden zur christlichen Justiz und umgekehrt auf. Dr. Tomas Tandlich (Preßburg) behandelte "Kontakte, Konflikte und Koexistenz" im Bereich des österreichisch-oberungarischen Grenzgebiets. In seinem Vortrag wurde vor allem die geographische Zusammengehörigkeit dieses Raums, die sich in sämtlichen Lebensbeziehungen spiegelte, deutlich.

Eine eintägige Exkursion (Dr. Helmut Teufel, Aschaffenburg-Brünn, Mgr. Marie Bunatova, Prag) nach Mikulov/Nikolsburg an der tschechisch-österreichischen Grenze hat nicht nur das Naheverhältnis zwischen Herrscherfamilie (in diesem Fall die Familie Dietrichstein) und jüdischer Gemeinde sichtbar gemacht - das jüdische Ghetto befand sich direkt unter dem Schloß - sondern zeigte auch die Vielfältigkeit jüdischen Alltags im 16. und 17. Jahrhundert.
Dr. Birgit Klein (Duisburg) machte mit ihrem Vortrag über jüdische Frauen, die um ihr Recht und damit ihr Vermögen im 17. und 18. Jahrhundert kämpften, die Stellung der jüdischen Frau und auch die Veränderungen, mit welchen diese konfrontiert war, deutlich.

Mit seinem Vortrag über Betteljuden und Ganoven im frühneuzeitlichen Aschkenas rundete Yacov Guggenheim (Jerusalem) das Gesamtbild ab. Seine Ausführungen lenkten den Blick auf die jüdischen Unterschichten, das jüdische Versorgungswesen sowie jüdische Rechtsbrecher.
Die angeregten Diskussionen nach den Vorträgen machten deutlich, daß es sich in vielen Bereichen der Forschungen zum jüdischen Leben vom 16. bis zum 18. Jahrhundert noch immer um "Neuland" handelt. Die Tagung diente nicht nur der Wissensvermittlung, sondern förderte den Kontakt und die Kommunikation von Forschern, Fachleuten und Laien.

Der Tagungsband unter dem Titel "Hofjuden-Landjuden-Betteljuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit" wird, herausgegeben von Dr. Sabine Hödl und Dr. Barbara Staudinger, im Frühjahr 2003 beim Philo-Verlag erscheinen.

Sabine Hödl, St. Pölten August 2002