Die Überlieferung von Unterlagen der Bundes- und Landesfinanzverwaltung - Archivierung, Quellenwert, Benutzung

Die Überlieferung von Unterlagen der Bundes- und Landesfinanzverwaltung - Archivierung, Quellenwert, Benutzung

Organisatoren
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ragna Boden, Christoph Schmidt, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, z. Zt. Archivschule Marburg

Welchen Quellenwert haben moderne Akten aus den Finanzverwaltungen für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung? Welche Anforderungen stellt die Überlieferung der Finanzbehörden an Archivarinnen und Archivare? Wie stehen die Finanzverwaltungen selbst zu ihren „Altakten“ und deren Archivierung und Nutzung? Diesen Fragen widmete sich am 10. Dezember 2004 in Münster ein vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV NRW) organisierter Workshop, an dem Vertreterinnen und Vertreter von Universitäten (Hohenheim, Bochum), Finanzbehörden (Oberfinanzdirektionen (OFD) Münster und Köln, Finanzamt Herne-West, Hauptzollämter Bielefeld, Münster, Dortmund) und Archiven (Bundesarchiv, LAV NRW, Westfälisches Archivamt, Kreisarchive Paderborn und Siegen-Wittgenstein, Stadtarchive Duisburg und Mülheim) sowie weitere Interessenten teilnahmen. Die Vormittagssektion des Workshops war den Darstellungen aus der Sicht der Forschung und der Behörden vorbehalten, während am Nachmittag die Projektgruppe zur Bewertung von Finanzakten des LAV NRW erste Ergebnisse präsentierte und zur Diskussion stellte.

Nach einer Begrüßungsansprache von Rudolf Stadermann, Oberfinanzpräsident der OFD Münster, hob Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, Präsident des LAV NRW, die Bedeutung der Finanzverwaltung als dem zweitgrößten Aktenproduzenten im Zuständigkeitsbereich des Landesarchivs hervor. Eine Projektgruppe des LAV NRW erarbeitet momentan ein Archivierungsmodell für mehr als 200 abgabepflichtige Dienststellen der Bundes- und Landesfinanzverwaltung. Ziel des Modells ist es, im Abgleich der verschiedenen Ebenen der Bundes- und Landesfinanzverwaltung vorausschauend zu bestimmen, welche Unterlagen aus welcher Behörde archivwürdig sind.

Privatdozent Dr. Mark Spoerer von der Universität Hohenheim referierte daraufhin zum Thema „Die Bedeutung von Steuerakten für die historische Forschung“. Vor dem Hintergrund eigener Forschungserfahrungen und den Ergebnissen einer Rundfrage im Internet stellte er fest, dass der Quellenwert von Akten der Finanzverwaltung für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung aufgrund ihres sukzessive geringer werdenden Aussagegehaltes für frühere Epochen höher war als für zeitgeschichtliche Fragestellungen. Dennoch ermöglichten auch moderne Akten, vor allem in Kombination mit entsprechenden Ergänzungsüberlieferungen, wichtige Einblicke etwa in Themen wie Staatsbildungsprozesse, Entwicklung der Vermögensverteilung und Unternehmensgeschichte. Spoerer kritisierte aus der Perspektive der Wissenschaft die 60jährige Sperrfrist für die Nutzung von Steuerakten. Individuelle Daten seien hier selten von Interesse, so dass es keinen generellen Konflikt zwischen Forschungsinteresse und Datenschutz der Betroffenen gebe und daher eine verantwortungsvolle Einsichtnahme schon früher gewährt werden solle. In Bezug auf die archivische Bewertung von Finanzakten sprach er sich für eine Kombination aus der Sicherung bedeutender Einzelfälle und einer statistisch repräsentativen Zufallsüberlieferung aus.

In der anschließenden Diskussion unter Leitung von Prof. Dr. Reininghaus wurde deutlich, dass die Überlieferung von Steuerakten als notwendige Ergänzung zu Statistiken insofern wichtig ist, als letztere nur beschränkte Rückschlüsse auf regionale Daten zulassen. Zahlreiche Diskussionsbeiträge kreisten um die Frage, ob eine Samplebildung notwendig und sinnvoll sei, um für die künftige Forschung – mit heute noch nicht absehbaren Fragestellungen – ein möglichst breites Spektrum an Fällen als Datenbasis bereitzuhalten.

Dr. Karsten Notthoff, Leiter der Zentralabteilung der OFD Münster, sprach im Anschluss daran aus der Sicht der Verwaltung über den Umgang mit Altakten. Er plädierte bei der Zusammenarbeit mit dem Landesarchiv für ein „rationelles, möglichst unkompliziertes und konstantes“ Verfahren, dem ein klares Konzept zur Übernahme gewünschter Akten zugrunde liege. Im Interesse der Vermeidung von Doppelüberlieferungen riet er zur Konzentration der Überlieferung von Unterlagen der Betriebsprüfung und der Steuerfahndung, die entweder bei den Sonderfinanzämtern oder beim zuständigen Festsetzungsfinanzamt übernommen werden könnten. Notthoff stellte außerdem ein in der Entwicklung befindliches elektronisches Aktenverwaltungssystem für die Festsetzungsfinanzämter in NRW vor.

In der folgenden Diskussion wurde der Quellenwert der Prüfberichte aus den Betriebsprüfungsfinanzämtern hervorgehoben und auf Überlieferungsüberschneidungen zwischen Steuerfahndung und Justiz aufmerksam gemacht. Es wurde festgestellt, dass der Wert der Altregistratur in den Behörden sehr niedrig angesetzt werde, weshalb eine Sensibilisierung der zuständigen Mitarbeiter für archivische Interessen auf höherer Ebene ansetzen müsse, um erfolgversprechend zu sein. Eine aus Sicht der Archive notwendige und wünschenswerte Verankerung der Archivbelange im Curriculum der Verwaltungsausbildung wurde von Seiten der Finanzbehörden als nicht realisierbar beurteilt. Wichtig und eher zielführend sei es vielmehr, den persönlichen Kontakt zwischen Archivaren und den jeweiligen Verantwortlichen in den Behörden herzustellen. Zunehmend wichtig werde ein enger Kontakt zwischen Verwaltung und Archiv im Zeitalter elektronischer Aktenführung. Zu dieser Problematik wurde auf eine 2004 eingesetzte Projektgruppe des LAV NRW verwiesen.

Den zweiten Teil des Workshops eröffnete Dr. Johannes Kistenich, Staats- und Personenstandsarchiv Detmold, mit einer Einführung in die Vorgehensweise der Projektgruppe bei der Erarbeitung des Archivierungsmodells für Akten der Finanzverwaltung. Zunächst wurde bei den Festsetzungsfinanzämtern eine Erhebung zur Menge der in den nächsten Jahren zu erwartenden Akten durchgeführt. Danach erfolgten Informationsgespräche und Aktenautopsien in den Behörden der Landes- und Bundesfinanzverwaltung zur Behördengeschichte und -zuständigkeit, zu Aktenplänen, zur Aussagekraft der Unterlagen und zum Einsatz behördenspezifischer EDV. Das Archivierungsmodell berücksichtigt solche Behörden, die dem funktional definierten Verwaltungsbereich „Finanzverwaltung“ zugeordnet wurden.

Die rechtlichen Grundlagen für eine Übernahme und Nutzung von Akten der Finanzverwaltung erläuterte dann Dr. Martina Wiech, Abteilung archivische Grundsatzfragen und Öffentlichkeitsarbeit im LAV NRW. Mit Blick auf Bundes- und Landesarchivgesetz stellte sie fest, dass das Steuergeheimnis kein Hindernis für die Archivierung darstellt. Im Anschluss an die Klärung der rechtlichen Grundlagen präsentierte sie die bisherigen Arbeitsergebnisse der Projektgruppe hinsichtlich der Übernahme von Unterlagen aus der Landesfinanzverwaltung. Bei der Festlegung von Bewertungskriterien für Akten der Landesfinanzverwaltung wird eine Auswahl herausragender Steuerfälle angestrebt. Von den 112 im Zuständigkeitsbereich des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen gelegenen Festsetzungsfinanzämtern wurden 51 unter regionalwirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgewählt und mit ihnen Listen archivwürdiger Steuerfälle vereinbart. In Ergänzung dazu werden flächendeckend mit allen Betriebsprüfungsfinanzämtern Listen archivwürdiger Steuerfälle vereinbart. Eine besondere Aufmerksamkeit bei der Bewertung kommt den Oberfinanzdirektionen zu, da sie durch ihre Leitungsfunktion eine konzentrierte Dokumentation der Finanzverwaltung erlauben. In Zusammenarbeit mit der Projektgruppe wurde hier eine Übersicht der Aktenzeichen erarbeitet, deren geplante Aussonderung dem Landesarchiv regelmäßig in Anbietungslisten anzuzeigen ist.

Dr. Ralf Brachtendorf, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, erläuterte anschließend am Beispiel der Steuerverwaltung das Verfahren der vertikalen und horizontalen Bewertung. Im Abgleich zwischen Bundesfinanzministerium, Abteilung V des Landesfinanzministeriums, Oberfinanzdirektionen und Finanzämtern soll Doppelüberlieferung vermieden werden und nur die genuin eigene Tätigkeit jeder Behörde dokumentiert werden.

Danach stellte Dr. Johannes Kistenich die Ergebnisse der Projektgruppe für den Bereich der regionalen Bundesfinanzverwaltung vor. Exemplarisch wurden als archivwürdig eingeschätzte Unterlagen aus dem Bereich der Hauptzollämter vorgestellt. Bewertungskriterien waren Aussagekraft, Dichte und Unikatcharakter der Akten. Mit den Hauptzollämtern werden ähnlich wie mit den Finanzämtern Listen von Betrieben vereinbart, deren Zoll- und Verbrauchssteuerunterlagen zu archivieren sind. Als kassabel gilt wegen des massenhaft gleichförmigen, wenig aussagekräftigen Charakters ihrer Akten die komplette Überlieferung der Zollämter sowie des Zollfahndungsamtes Essen, dessen wichtigere Unterlagen bei den Staatsanwaltschaften zu finden sind. Mit den Bundesvermögensämtern werden ebenfalls Listen von Liegenschaften vereinbart, zu denen Grundstücksunterlagen übernommen werden. Im Hinblick auf die bevorstehende Organisationsänderung der Bundesvermögensverwaltung (Gründung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben – BImA – zum 01.01.2005) verwies Kistenich auf die Notwendigkeit der Abstimmung mit dem Bundesarchiv und regte die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe an.

Im folgenden erarbeiteten die Workshop-Teilnehmer in vier Gruppen Positionen zu drei vorgegebenen Fragen, welche Grundlage der anschließenden Diskussion waren: 1) Wozu brauchen wir Überlieferung der Finanzverwaltung überhaupt? 2) Welche Unterlagen der Finanzverwaltung benötigt das Landesarchiv? 3) Wie wollen Sie uns bei der Fortschreibung des Archivierungsmodells helfen?

In der von Dr. Barbara Hoen, Abteilung archivische Grundsatzfragen und Öffentlichkeitsarbeit im LAV NRW, geleiteten gemeinsamen Erörterung der Ergebnisse wurde für die ersten beiden Fragen Bezug auf die Vorträge genommen. Hierbei wurde die Bedeutung der Finanzunterlagen für die regionale und überregionale Forschung sowie für die Institutionengeschichte betont. Zu möglichen Kooperationsmodellen (Frage 3) äußerten Vertreter von Finanzverwaltung, Kommunalarchiven, Bundesarchiv und Westfälischem Archivamt den Wunsch nach größtmöglicher Transparenz der im Archivierungsmodell des LAV NRW festgelegten Bewertungskriterien.
Hierzu versicherten Mitglieder der Projektgruppe, das Bewertungsmodell werde nach der Erstellung in gedruckter Form und im Internet zugänglich sein. Teilnehmer aus nichtstaatlichen Archiven plädierten für eine Einbeziehung in einem möglichst frühen Stadium der Modellerstellung und boten dem LAV NRW an, ihre Regionalkompetenz in die Bewertungsdiskussion einzubringen. Die Finanzverwaltung zeigte sich ihrerseits bereit, die Archivierungsmodelle zu begleiten und Hinweise auf organisatorische und technische Änderungen an das LAV NRW zu übermitteln. Insgesamt wurde ein weiterhin großer Bedarf an Kommunikation und Informationsaustausch zwischen Behörden, den verschiedenen Archivsparten und der Forschung konstatiert, darunter auch der bundesländerübergreifende Austausch von Informationen bei der Erstellung von Bewertungsmodellen.

(Der Tagungsbericht wurde bearbeitet von Ralf Brachtendorf, Martin Früh, Ralf-Maria Guntermann, Johannes Kistenich und Martina Wiech.)


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