Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und modernem Konstitutionalismus: Schlesien im europäischen Vergleich (1750-1850)

Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und modernem Konstitutionalismus: Schlesien im europäischen Vergleich (1750-1850)

Organisatoren
Projektbereich Schlesische Geschichte am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit (Leitung: Prof. Dr. Joachim Bahlcke) am Historischen Institut der Universität Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2004 - 30.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland Gehrke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit / Projektbereich Schlesische Geschichte

Am 29. und 30. Oktober 2004 fand an der Universität Stuttgart unter der wissenschaftlichen Leitung von Roland Gehrke ein internationaler Workshop mit Referenten aus Deutschland, Österreich und Tschechien sowie weiteren Zuhörern und Diskussionsteilnehmern statt. Ausgehend von einer an der Universität Stuttgart entstehenden Habilitationsschrift zu den schlesischen Provinziallandtagen zwischen 1825 und 1845 war es das Ziel der Veranstaltung, anhand regionaler Fallstudien aus Mittel- und Ostmitteleuropa einen komparativen Zugriff auf die Thematik zu ermöglichen.

Wiederholt und mit Recht ist das europäische Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 als ein Zeitraum des Übergangs bezeichnet worden, der - mit welcher regionalen Spezifik auch immer - aus dem frühneuzeitlichen Staatswesen in eine neue, konstitutionell begründete Form des monarchisch-dualistischen Staatsaufbaus hinüberführte. Ausgehend von dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Intensität zu beobachtenden Phänomen einer "ständischen Renaissance", hat die schon von Otto Hintze aufgeworfene (und bejahte) Frage nach der Kontinuität von ständischen hin zu konstitutionellen Partizipationsformen die Parlamentarismusforschung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder beschäftigt. Sie stand auch auf dem Workshop im Mittelpunkt, wobei im Einzelfall zwischen materiell-inhaltlicher und bloß formaler oder gar nur terminologischer Kontinuität zu unterscheiden war. Über die Themenstellungen der klassischen Verfassungsgeschichte hinaus wurde dabei auch der Frage nach der Fortexistenz tradierter Formen von Symbolik, Ritual und Zeremoniell breiter Raum gewidmet. Im Rahmen der Referate und der sich anschließenden Diskussionen wurde unter anderem nach den Triebkräften der Parlamentarisierung im Spannungsfeld zwischen ständischen Interessen und Reformbestrebungen der Staatsbürokratie gefragt, nach dem sich wandelnden Selbstverständnis der Stände und der Selbstinszenierung vor allem des Adels in den frühen Parlamenten sowie nach der Rückbindung der Ständeversammlungen und Parlamente an eine sich formierende bürgerliche Öffentlichkeit, zum Beispiel über das Petitionswesen.

Räumlich gesehen begann der Stuttgarter Workshop quasi vor der eigenen Haustür, indem Matthias STICKLER (Würzburg) es unternahm, in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive den Weg des Herzogtums - bzw. ab 1805: des Königreichs - Württemberg zur Verfassung von 1819 zu beleuchten. Nach einem neoabsolutistischen Zwischenspiel von 1805 bis 1815 wurde Württemberg zum Schauplatz eines mehrjährigen Verfassungskonflikts zwischen König und Landtag, der 1819 mit einem Kompromiß endete. Die württembergische Konstitution war damit die erste Verfassung des Deutschen Bundes, die nicht oktroyiert worden, sondern auf dem Verhandlungsweg zustandegekommen war. Zwar habe die fortwirkende altständische Tradition die Transformation der ständischen Landschaft in ein modernes Parlament eher behindert, so das ambivalente Fazit des Referenten, zugleich aber habe die frühe liberale Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Tradition ständischer Mitwirkung und Interessenwahrung gegenüber dem Monarchen aufbauen können.
Anders als im württembergischen Beispiel waren der Anfang Januar 1831 verabschiedeten Verfassung des Kurfürstentums Hessen gewaltsame Proteste gegen den autokratisch regierenden Herrscher vorausgegangen. Die im Herbst 1830 zwischen den (erstmals seit 1815 einberufenen) Landständen und dem Kurfürsten aufgenommenen Verfassungsverhandlungen mündeten in einen dualistisch konstruierten Staatsaufbau, in dem sich essentielle Kronrechte und parlamentarische Abwehrmöglichkeiten gegenüberstanden. Ewald GROTHE (Wuppertal) bewertete die kurhessische Konstitution im Ergebnis als einen prekären Kompromiß zwischen dem monarchischen und dem entgegenstehenden parlamentarischen Prinzip, der den Konflikt zwischen den restaurativen und den reformerischen Kräften nicht lange zu überdecken vermochte. Wie Kurhessen erhielt auch das Königreich Sachsen 1831 eine Verfassung und ein konstitutionelles Parlament. Kontinuität und Wandel ständischer Repräsentation im sächsischen Landtag wurden von Josef MATZERATH (Dresden) auf verschiedenen Ebenen analysiert und durch Beispiele veranschaulicht. Das besondere Augenmerk dieses Beitrags galt den adeligen Abgeordneten, die zwar nach 1831 über keine festgeschriebenen Privilegien oder zeremoniellen Vorrechte mehr verfügten, den Landtag jedoch auch weiterhin als eine Bühne zur Inszenierung von Adeligkeit nutzten, etwa in der Betonung von Abstammung und von über Generationen verfestigter Landsässigkeit oder im Widerstand gegen ein weltanschaulich differenziertes Parteienwesen. Erst mit der sukzessiven Durchsetzung eben dieses Parteiensystems verschwand auch das Gros der Adeligen aus dem sächsischen Landtag.

Im Gegensatz zu Württemberg, Kurhessen und Sachsen setzte in Österreich eine - im modernen Sinne des Wortes - parlamentarische Entwicklung erst spät ein. Das heißt aber nicht, daß die monarchische Gewalt dort ohne jede Rücksichtnahme auf die alten Stände ausgekommen wäre. Im Widerspruch zu der Vorstellung von einer sukzessiven Sinnentleerung ständischer Huldigungszeremonien seit dem 17. Jahrhundert konstatierte William D. GODSEY (Wien) eine bemerkenswerte staatsrechtliche Kontinuität des habsburgischen Herrschaftssystems und machte dies an den niederösterreichischen Erbhuldigungen fest, die bis in den Vormärz hinein zwar eine gewisse Funktionsumdeutung, aber keineswegs einen Funktionsverlust, sondern eine politische Aufwertung erfahren hätten.

Der erste Konferenztag endete mit einem öffentlichen Abendvortrag, der von den übrigen Referaten insofern abwich, als hier keine regionale Fallstudie präsentiert, sondern der ideengeschichtliche Hintergrund der Thematik ausgeleuchtet wurde. Ausgehend von Niklas Luhmanns Theorie der geschichtlich sich entfaltenden Systemdifferenzierung präsentierte Hans-Christof KRAUS (München) "Stände" und "Ständetum" als Begrifflichkeiten, anhand derer sich die Veränderungen innerhalb der deutschen politischen Semantik im Übergang von einer traditional-stratifizierten zu einer modern-funktionalen Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts nachzeichnen lassen. Je mehr der Prozeß der Dekorporierung voranschritt, um so mehr mußten sich (neo-)ständische Gesellschaftsentwürfe, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem von konservativer Seite immer wieder als Alternative zur repräsentativen parlamentarischen Vertretung in die Diskussion gebracht wurden, von ihren Funktionen her begründen - aus dem Traditions- bzw. Geburtsstand wurde so der Funktions- bzw. Berufsstand.

Mit einem Referat über die schlesischen Provinziallandtage zwischen 1825 und 1845 leitete Roland GEHRKE (Stuttgart) den zweiten Konferenztag ein. Ungeachtet aller von Regierungsseite ausgesandten Kontinuitätssignale kann für Schlesien, so das Fazit des Referenten, nur von einer formalen Wiederbelebung der alten (von Friedrich II. nach 1740 aufgelösten) ständischen Institutionen gesprochen werden, die nunmehr auf der alleinigen Basis des Grundbesitzkriteriums "zu Staatsklassen zugerichtet" (Hartwig Brandt) worden waren. Angesichts der Tatsache, daß die Provinzialstände lediglich über beratende Kompetenzen verfügten, habe sich auf den schlesischen Provinziallandtagen eine bereits relativ moderne Form parlamentarischer Verhaltensmuster - einheitliche Plenarversammlung und freies Mandat - mit einer faktischen Wirkungslosigkeit in der Sache und dem Fehlen jedes Spielraums für eine selbstbestimmte Weiterentwicklung verbunden. Nicht der parlamentarischen Praxis, sondern den geradezu entgegengesetzten Erwartungen, die die adeligen Eliten der Mark Brandenburg und des Großherzogtums Posen mit der provinzialständischen Gesetzgebung von 1823/24 verbanden, galt das vergleichende Augenmerk von Karsten HOLSTE (Leipzig). In der Kurmark setzte der Adel ganz auf die Provinzialstände als ein restauratives Vehikel zur Verhinderung einer gesamtpreußischen Konstitution, wie sie Staatskanzler Hardenberg vorgeschwebt hatte. In Posen war die Situation eine gänzlich andere, da hier der mehrheitlich polnische Adel den Provinziallandtag als Forum zur Artikulation seiner nationalen Interessen verstand und besonders in den 1840er Jahren im Widerstand gegen die antipolnische Politik des Oberpräsidenten Flottwell nationale und konstitutionelle Forderungen miteinander verband.

Auch den Ständen in den Ländern der österreichischen Monarchie wurde in der Historiographie bislang überwiegend ein konservativ-beharrendes, dem "progressiven" Absolutismus Josephs II. entgegenstehendes Profil zugeschrieben. Am Beispiel der "ständischen Revolte" in Böhmen 1790/91 plädierte Ivo ?ERMAN (Prag) für eine Relativierung dieser Sichtweise. So seien auf dem unmittelbar nach Josephs Tod im Frühjahr 1790 einberufenen Landtag nicht nur die Erneuerung ständischer Privilegien eingefordert, sondern unter Berufung auf die alte Staatsverfassung des Königreichs Böhmen auch moderne konstitutionelle Ideen wie die Einrichtung einer Nationalrepräsentation vorgebracht worden. Die konstitutionelle Bewegung der Zeit nach 1814 habe auf die Forderungen des Jahres 1790/91 zurückgreifen können. Anders als in den bis dahin geschilderten Fällen brach im bis 1795 zu Polen-Litauen gehörenden Herzogtum Kurland mit der Annexion durch Rußland die Tradition ständischer Partizipation jäh ab. Gerade hier hatte sich die Ritterschaft bis dahin eine besonders starke Position erkämpft, sichtbar etwa in dem "Konstitutionsprojekt" von 1791, das von Mathias MESENHÖLLER (Leizig) als "Bricolage altständischer und modern-konstitutioneller Versatzstücke" charakterisiert wurde. Mit der Einbeziehung Kurlands in die russische Gouvernementsadministration sank die Vertretung der Gutsbesitzerelite zu einem halb-gesellschaftlichen Organ herab, wußte ihr ständisches Erbe auf dieser niedrigeren Ebene allerdings zu bewahren.

In der Gesamtschau zeichnete der Stuttgarter Workshop, dessen Beiträge 2005 in einem Sammelband der Reihe "Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte" erscheinen werden, ein facettenreiches Bild der Übergangsphase zwischen altständischen und modern-parlamentarischen Repräsentations- und Partizipationsformen. In der Abschlußdiskussion wurde nochmals auf das konkrete Procedere und das Zeremoniell der frühen Parlamente hingewiesen, anhand derer sich Kontinuität und Wandel ständischen Traditionsguts exemplarisch ablesen lassen, etwa die Sitzordnung, die Kleidung der Abgeordneten oder die Form von Landtagseröffnung und Landtagsschluß. Auch die Wahl der jeweiligen Unterkunft bzw. die architektonische Gestaltung von Parlamentsneubauten wurde thematisiert und auf ihre mögliche Aussagekraft hin überprüft. Bei Berücksichtigung solcher, bislang eher vernachlässigter sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen lassen sich auch von einem - auf den ersten Blick - vergleichsweise traditionellen Zweig wie der historischen Parlamentarismusforschung noch vielseitige Erkenntnisse erwarten.


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