HT 2016: Volkslauf auf dem Sonderweg? Deutsche Demokratiegeschichte von 1800 bis 1933

HT 2016: Volkslauf auf dem Sonderweg? Deutsche Demokratiegeschichte von 1800 bis 1933

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Frank Möller, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die These vom deutschen Sonderweg ist eine grundlegende Erklärung der deutschen Entwicklung zur nationalsozialistischen Diktatur. Diese Entwicklung sei durch undemokratische Strukturen, obrigkeitsgläubige Einstellungen, ein schwaches Bürgertum und eine Vorherrschaft vormoderner Eliten geprägt gewesen und habe sich grundsätzlich von dem demokratischen „Normalweg“ Frankreichs, Großbritanniens und der USA unterschieden. Wesentliche Punkte dieser Darstellung sind das Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848, die Reichseinigung „von oben“, die undemokratische Struktur des deutschen Kaiserreichs, seine Schuld am Kriegsausbruch und die fehlende Stabilität der Weimarer Republik. Seit Ende der 1960er-Jahre besonders durch Hans-Ulrich Wehler vertreten, ist die Sonderwegsthese schon bald in die Kritik geraten und gilt heute als weitgehend überholt. Warum also eine Sektion zu diesem Thema im gut besuchten Philosophenturm der Universität Hamburg? Oder, wie der Mitveranstalter Tim Müller einen kritischen Kollegen zitierte: „Welchen Sinn hat es, einen toten Hund zu erschlagen, dessen Herrchen vergreist ist?“

In ihrer Einleitung beschrieb HEDWIG RICHTER (Hamburg) das der Sektion zu Grunde liegende Problem. Die „Meistererzählung“ Sonderweg sei zwar in der Forschung offiziell obsolet und zahlreiche Einzelstudien hätten ihre Grundannahmen widerlegt, jedoch wirke sie „undercover“ weiter. Überblicksdarstellungen zum Kaiserreich würden immer wieder die gleichen Geschichten und Bilder anführen: den Flottenbau, die Pickelhauben, das Drei-Klassen-Wahlrecht, den protzigen Kaiser und die Zabern-Affäre. Damit seien drei Defizite verbunden. Erstens bleibe der Blick der Historiker national ausgerichtet. So würde etwa das Wahlrecht des Kaiserreichs nie im internationalen Vergleich bewertet. Zweitens stehe das Ergebnis bereits vorher fest. Die demokratischen Bestandteile des Kaiserreichs würden etwa von Beginn an abqualifiziert. Was für die USA als Ausdruck einer dynamischen Demokratie gelte – z.B. Gewaltausbrüche bei Wahlen –, sei plötzlich für das Deutsche Reich der Beweis seiner Demokratieunfähigkeit. Drittens würden durch diesen Blick wichtige Bereiche der deutschen Geschichte ausgeblendet. So werde etwa der Gewaltdiskurs des Kaiserreichs, das zunehmend friedfertiger geworden sei, nicht berücksichtigt. Daher sei die Sonderwegsthese als Theorie zur Erklärung der deutschen Demokratie „bemerkenswert unterkomplex“.

Der zweite Sektionsveranstalter TIM MÜLLER (Hamburg) vertiefte die Fragestellung, indem er – besonders unter Bezug auf Reinhart Koselleck – die geschichtstheoretischen Probleme der Sonderwegsthese beschrieb, die aus politisch-therapeutischen Motiven entwickelt worden sei. Sie statte die Gegenwart mit einer Finalität aus, durch die Vorläufer der Demokratie nicht erkannt würden. Stattdessen würde der Wunsch befriedigt, die deutsche Geschichte in „Freunde und Feinde des Fortschritts“ einzuteilen. Letztlich führe die hier entwickelte Kausalität dazu, dass die undemokratische Entwicklung Deutschlands alternativlos erscheine und damit auch die Entscheidungen der Handelnden, also der Täter, ignoriert würden. Selbstverständlich sei der Nationalsozialismus eine Möglichkeit der Weimarer Republik gewesen, denn Gewalt sei immer eine Möglichkeit, aber er habe eben nicht die einzige Entwicklungsoption dargestellt.

MARGARET ANDERSON (Berkeley) begann ihren Vortrag sehr packend mit dem berühmten Zitat aus Theodor Mommsens politischem Testament, „ich wünschte ein Bürger zu sein“, um aus den kritischen Stimmen von Liberalen des Kaiserreichs die Frage zu entwickeln, ob denn das Kaiserreich wirklich so wenig politische Teilhabe ermöglicht habe, wie hier behauptet wurde. Ihre Antwort stützte sich dann auf ihre Arbeit zur Wahlkultur im Kaiserreich.1 Sie machte deutlich, dass das Kaiserreich nicht nur das demokratischste Wahlrecht der Welt gehabt habe, sondern auch in der Wahlpraxis das Fehlen von Korruption und direkten wirtschaftlichen Gewinnen, die Abwesenheit von Gewalt, die Neutraliät des Staates und der Aufstieg der Oppositionsparteien SPD und Zentrum außergewöhnlich fortschrittlich gewesen seien. Dem stehe etwa das zutiefst undemokratische Wahlsystem in Groß Britannien mit begrenztem Wahlrecht, mehrfachem Stimmrecht von Besitzenden und gewalttätigen Ausbrüchen – etwa der irischen Protestanten aber auch der Sufragetten – gegenüber. Anderson erweiterte ihre Argumentation auch auf die Stellung des Parlaments und hob hervor, dass in Großbritannien etwa in der Irland-Frage das Parlament entweder durch das Oberhaus blockiert wurde oder seine Entscheidungen einfach nicht umgesetzt wurden. Auch beim Kriegseintritt Großbritanniens 1914 habe das Parlament gegenüber einer unabhängig agierenden und um ihren Machterhalt fürchtenden Regierung keinen Einfluss gehabt. Es gäbe daher keinen Beweis für bessere Entscheidungen des britischen Parlaments gegenüber seinem deutschen Pendant.

Wie Hedwig Richter betonte auch ADAM TOOZE (New York) in seinem Vortrag, dass Demokratisierung nicht im nationalen Rahmen, sondern in großen globalen Demokratisierungswellen abgelaufen sei, die sich vor allem aus Erwartungen gespeist hätten. Der Demokratisierungsschub am Ende des 19. Jahrhunderts musste dabei auch in den westeuropäischen Staaten erkämpft werden. Demokratie war dabei eine Forderung der Opposition. Erst der Erste Weltkrieg habe zu einer „Diskursradikalisierung“ geführt, indem Demokratie von den Entente-Mächten als Schlagwort den Mittelmächten entgegengehalten wurde. Dabei war zeitgenössisch die Entwicklungsrichtung der Demokratie noch offen. Kurzfristig wurde etwa 1917 auch Russland nach dem Sturz des Zaren zu den demokratischen Staaten gezählt. Und Sun-Ya-Tsen erwartete etwa, dass China zum Vorreiter der dritten Stufe der Demokratie, der Errichtung des Wohlfahrtsstaates, werden würde. Tatsächlich habe sich in der Zwischenkriegszeit die Sorge um die Stabilität durchgesetzt, man befürchtete, dass Demokratie für heiße Konflikte nicht geeignet sei. Die Antwort war ein System der Entpolitisierung, der Alternativlosigkeit mit der die Forderung nach radikaler Demokratie an den Rand gedrängt wurde. Damit sei jedoch das große Narrativ einer immer demokratischer werdenden Herrschaftsordnung fragwürdig. Unter Bezug auf Detlev Peukert wagte Tooze die These, ob nicht der Zeitraum 1890 bis 1930 der Höhepunkt der Demokratieentwicklung gewesen sei.

JEPPE NEVERS (Odense) entwickelte schließlich am Beispiel Dänemarks die Ambivalenz der demokratischen Entwicklung. Sowohl im siegreichen Krieg von 1848-1850 als auch dem gescheiterten von 1864 seien die dänischen Demokraten die „Kriegstreiber“ gewesen. Nevers verwies damit auf ein insgesamt vielleicht in der Sektion etwas unterbelichtetes Argument, dass nämlich Demokratie, Nationalismus und Nationalstaatsgründung eng verbunden sind. An der Krise des parlamentarischen Systems am Ende des 19. Jahrhunderts und den Debatten in der Zwischenkriegszeit könne man erkennen, dass auch die dänische Demokratie auf Widerstände sieß, die mit Deutschland vergleichbar seien. Jedoch wäre es eben nicht zu einer grundlegenden Krise des demokratischen Systems gekommen.

In zwei Diskussionsrunden wurden die Thesen der Vortragenden lebhaft diskutiert. Die Grundannahme stieß dabei auf wenig Kritik. Tatsächlich seien etwa Schulbücher durchgehend am Narrativ des Sonderwegs ausgerichtet. Hingewiesen wurde allerdings auf die Lernfähigkeit der Historiker des Sonderwegs, die eben viele Positionen auch modifiziert hätten. Die theoretischen Grundlagen wurden jedoch in Frage gestellt. Bestehe nicht eine Spannung zwischen der historischen Erklärung als einem kausalen System und demokratischer Politik als Ausdruck freier Entscheidung? Auch der normative Gehalt des Begriffs Demokratiegeschichte wurde in Zweifel gezogen. Ausführlich wurde das Problem einer Meistererzählung erörtert: Was sei denn das alternative Konzept? Welche Struktur liege denn hinter der hier präsentierten sonderwegskritischen Erzählung? Und schließlich bleibe die Frage, wie denn die Machtergreifung zu erklären sei.

Der hier verfolgte Ansatz erweist sich als äußerst fruchtbar. Die Erkenntnis, dass wir eben immer noch im Schatten einer Narration stehen, die wir ablehnen und genau deswegen nicht einmal mehr kritisch diskutieren, überzeugt. Jedoch sollte sich der kritische Blick auf den Sonderweg davor hüten, auf einen Pappkameraden einzuschlagen. Die Väter der Sonderwegsthese – Hans-Ulrich Wehler oder Wolfgang J. Mommsen – waren doch wesentlich differenzierter, als es hier manchmal erschien. Zudem sollte sich Demokratiegeschichte nicht nur auf Fragen der Partizipation, des Wählens, beschränken. Die Parlamentarismus- und die Parteiengeschichte haben Ergebnisse gebracht, die man nicht einfach ignorieren sollte. Die von Magaret Anderson angeführten Liberalen Theodor Mommsen und Max Weber kritisierten ja gar nicht das deutsche Wahlrecht, sondern die fehlenden Möglichkeiten für liberale Politiker in Staatsämter aufzurücken – und dass war in Staaten mit einem dominierenden Parlament eben schon vor 1914 möglich. Auch eine zeitliche Ausweitung der Diskussion wäre sicher von Nöten: die Sonderwegsthese stützte sich ja auf das Scheitern einer bürgerlichen Revolution in Deutschland und die Besonderheit einer Nationalstaatsgründung von oben.

Die Kernfrage bleibt jedoch die auch in der Diskussion angesprochene Frage nach der alternativen großen Erzählung für die deutsche Geschichte. Landen wir bei einer konservativen Interpretation des unglücklich oder sogar ungerecht gescheiterten deutschen Nationalstaates oder in einer global- und kulturgeschichtlichen Beliebigkeit des „Anything goes“? Aber schon für diese Frage hat sich der Weg nach Hamburg gelohnt.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Tim Müller (Hamburg) / Hedwig Richter (Greifswald)

Tim Müller (Hamburg) / Hedwig Richter (Greifswald): Das Sprechen über die Demokratie und die narrativen Strukturen des Sonderwegs

Margaret Anderson (Berkeley): Demokratie auf schwierigem Pflaster. Wie das deutsche Kaiserreich demokratisch wurde

Adam Tooze (New York): Global Democracy: Provincializing the Sonderweg

Jeppe Nevers (Odense): Differences and Similarities: Danish Democratization in a North-Western European Perspective

Anmerkung:
1 Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger