Zwangsmigration und neue Gesellschaft in Ostmitteleuropa nach 1945

Zwangsmigration und neue Gesellschaft in Ostmitteleuropa nach 1945

Organisatoren
Fachkommission für Zeitgeschichte des Herder-Forschungsrates in Zusammenarbeit mit dem Collegium Carolinum
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2005 - 04.12.2005
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Von
Christiane Brenner, Collegium Carolinum

Am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren war Ostmitteleuropa Schauplatz der größten Migrationswelle der modernen europäischen Geschichte. Die Zwangsaussiedlungen dieser Zeit sind seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland, Polen, Tschechien, Österreich und anderen damals involvierten Ländern (erneut) zum Thema öffentlicher Auseinandersetzungen und zahlreicher Forschungsprojekte geworden. Dieser Boom kann aber nicht über die perspektivische Engführung hinwegtäuschen, die die Beschäftigung mit den Prozessen von Zwangsaussiedlung im Gefolge des Zweiten Weltkriegs nach wie vor kennzeichnet: Zum einen fällt ihre starke Ethnisierung auf. Die nationalen Geschichtswissenschaften und -diskurse konzentrieren sich weitgehend auf die „eigene“ nationale Gruppe; eine Kontextualisierung mit den Vertreibungsschicksalen anderer Gruppen und der allgemeinen ostmitteleuropäischen Migrationserfahrung der Mitte des 20. Jahrhunderts findet praktisch nicht statt. Zum anderen steht der Prozess der Zwangsmigration selbst unumstritten im Mittelpunkt der Forschung. Binnenstaatliche (Langzeit-)Wirkungen auf die post-migrationellen Gesellschaften wurden bisher kaum thematisiert.

Die Öffnung dieser Perspektiven war das Ziel der Tagung zum Thema „Zwangsmigration und neue Gesellschaft in Ostmitteleuropa nach 1945“, die die Fachkommission für Zeitgeschichte des Herder-Forschungsrates in Zusammenarbeit mit dem Collegium Carolinum und mit finanzieller Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung am 3. und 4. Dezember 2004 in den Räumen des Collegium Carolinum durchführte. Die zentrale Frage der von Adrian von Arburg (Prag) und Martin Schulze Wessel (München) konzipierten Veranstaltung war die nach den Zusammenhängen von erzwungener Massenmigration, der Entstehung neuer Strukturen in den „Siedlungsgebieten“, also den Gebieten, aus denen ein großer Teil der Bevölkerung ausgesiedelt worden war und in die nun „Neusiedler“ strömten, und der gesamtstaatlichen Entwicklung, vor allem der Etablierung sozialistischer Systeme. Gewählt worden war dazu ein komparativer Ansatz, bei dem einzelne Regionen und die Wirkung ihrer Entwicklung auf die jeweiligen Nationalgesellschaften untersucht werden sollten. Auf die historische Tiefendimension wurde dabei, so Martin Schulze Wessel in seiner Einleitung, bewusst verzichtet. Ein im Wesentlichen auf die frühe Nachkriegszeit beschränkter Vergleich sollte einerseits zur genaueren Klassifizierung von Migrations- und Transformationsprozessen und ihrer möglichen Wechselwirkungen beitragen, andererseits zu exakteren Begriffen führen, die auch helfen könnten, die starke Politisierung des Themenfeldes zu überwinden.

Adrian von Arburg stellte die Leitfragen des Tagungskonzepts im Folgenden detailliert vor: Als ersten Punkt nannte er die Struktur der Bevölkerung in den Siedlungsgebieten, die genau untersucht werden müsse, um auf dieser Basis zu einer Typologisierung der verschiedenen Gruppen der „neuen Gesellschaft“ (Alteingesessene/Autochthone, freiwillige Neusiedler, Zwangsumgesiedelte) und ihrer Beziehungen zueinander wie ihrer jeweiligen Rolle im Transformationsprozess zu gelangen. Zweitens forderte von Arburg, die Instrumente der Gesellschaftspolitik in den Siedlungsgebieten in den Blick zu nehmen, die sich zwischen den Polen Freiwilligkeit (materielle Anreize, Identifizierungsangebote) und Zwang (Zerstreuung, Unterdrückung von Identitäten) bewegten. Drittens gelte es, den Stellenwert der Siedlungsgebiete innerhalb des jeweiligen Gesamtstaates zu ermitteln und dabei der Interdependenz von zentralstaatlicher und regionaler Entwicklung nachzugehen, und zwar wiederum sowohl auf der ideologischen als auch auf der Ebene faktischer Politik: Galt das Siedlungsgebiet als Vorhut der „neuen, sozialistischen Ordnung“ oder als problembelastete Peripherie? Blieben Reste einer Sonderverwaltung erhalten? Wurde die Integration der Siedlungsgebiete über die Schaffung infrastruktureller Maßnahmen effektiv gefördert – oder blieb es bei bloßer Integrations-Rhetorik?

Der erste Regionalbeitrag galt „Staat und Gesellschaft in der Vojvodina“ zwischen 1944 und 1948. Michael Portmann (Wien) schilderte das Zusammenspiel von militärischer Befreiung, Veränderungen in der Bevölkerungs- und Eigentumsstruktur und kommunistischer Machtdurchsetzung. Mit der Ansiedlung von Familien landloser Bauern, die am Kampf von Titos jugoslawischer Volksbefreiungsarmee beteiligt gewesen waren, einerseits, der Entrechtung und Internierung der Donauschwaben andererseits, habe sich das Gewicht in Richtung der Bevölkerungsgruppen verschoben, die leicht für den Aufbau eines „neuen Jugoslawien“ zu begeistern waren. Portmann hob hervor, dass es den politisch unerfahrenen jugoslawischen Kommunisten erstaunlich gut gelang, das Land wieder aufzubauen, wobei sowohl repressive als auch auf freiwillige Integration und Kooperation zielende Mittel eingesetzt wurden.

Dass Freiwilligkeit keine Garantie für eine erfolgreiche Integration von Neusiedlern sein muss, zeigte Magdaléna Paríková (Bratislava) in ihrem Beitrag über den Bevölkerungsaustausch zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei (1946-1948). Obwohl dieser Bevölkerungsaustausch auf dem Prinzip der Reziprozität mit Besitzausgleich beruhte, war er ein missglücktes Experiment. Die Integration der Slowaken aus Ungarn, die freiwillig in die Slowakei gegangen waren, erfuhr erst durch die Kollektivierung der Landwirtschaft einen gewissen Fortschritt, richtig „re-slowakisiert“ werden konnten diese nie. Ein großer Teil der Ungarn aus der Südslowakei, die als angebliche „Volksfeinde“ oder „Kollaborateure“ zur Umsiedlung gezwungen worden waren, floh bereits in den ersten beiden Jahren oder stellte einen Antrag auf Rückwanderung in die Slowakei.

Mit verschiedenen Aspekten der Politik gegenüber den tschechischen Siedlungsgebieten befassten sich anschließend Adrian von Arburg, Andreas Wiedemann (Prag, Düsseldorf) und Tomáš Dvořák (Brno). Von Arburg stellte kommunistische Konzepte für die Entwicklung des „pohraničí“, des Grenzlandes der böhmischen Länder, vor und warf die Frage auf, ob dieses ein „Labor“ für die neue, sozialistische Gesellschaft gewesen sei. Er kam zu dem Schluss, dass die jungen Sozialrevolutionäre in den kommunistisch dominierten Siedlungsbehörden das Grenzland in der Tat als Experimentierfeld für ihre Gesellschaftskonzepte und als Vorreiter der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung sahen. Allerdings habe die Machtfrage eindeutigen Vorrang vor den (zum Teil stark divergierenden) Plänen gesellschaftlicher Neuordnung für das Grenzland gehabt, darüber seien die Konzepte oft auf der Strecke geblieben. Dass die kommunistische Politik der Werbung kurzfristig aufgegangen sei, zeigten die Wahlen von 1946: Gerade unter den Neusiedlern, die an den meisten Orten des Grenzlandes die Bevölkerungsmehrheit stellten, feierten die Kommunisten große Erfolge. Mittel- und langfristig sei das Grenzgebiet aber eher zu einer Region geworden, die im negativen Sinn gesamtgesellschaftliche Tendenzen und Entwicklungen vorweggenommen habe.

Wer wen integriere in einer Bevölkerung, die zu mehr als 50 Prozent aus Neuankömmlingen bestehe, fragte Andreas Wiedemann. „Integration“ in den Teilen der böhmischen Länder, aus denen die meisten Deutschen zuvor ausgesiedelt worden waren, beschrieb Wiedemann folglich eher als „Einleben in einer neuen Umgebung“ und „Stabilisierung der Verhältnisse“. Nicht alle Siedler kamen jedoch gleichermaßen in den Genuss der Vergünstigungen, die der Konsolidierung der neuen Gesellschaft dienen sollten – vor allem den tschechischen „Altsiedlern“ und den so genannten Reemigranten schlug Misstrauen entgegen. Viele Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im Grenzland mussten zudem hinter den großen Zielen der Wirtschaftspolitik zurücktreten. So zeigte die Prager Siedlungspolitik durchaus auch desintegrative Tendenzen, indem sie Konflikte zwischen verschiedenen Siedlergruppen ebenso förderte wie regionale Disparitäten.

Die Motive und Realitäten der polnischen und tschechoslowakischen Siedlungspolitik unterzog dann Tomáš Dvořák einem Vergleich. In beiden Ländern sei zwar der homogene Nationalstaat das Fernziel gewesen, hinsichtlich der Vorgeschichte wie der unmittelbaren Aufgaben der Siedlungspolitik hätten jedoch die Unterschiede überwogen: Für die tschechoslowakische Politik habe die Entfernung einer „feindlichen Bevölkerung“ von ihrem durch alte Grenzen bestimmten Staatsgebiet oberste Priorität gehabt. In Polen ging es indessen darum, den polnischen Charakter der „wiedergewonnen Gebiete“ auch durch eine zumindest partielle Polonizität der dort lebenden Menschen zu legitimieren. Aus diesem Grund sei die Assimilation der Autochthonen angestrebt worden. Dvořák zeigte aber an diesem wie auch am Beispiel der Konzepte für innere Zwangsmigrationen, wie konkurrierende politische Ziele und ein Mangel an Ressourcen zu einer allmählichen Aufweichung der Konzepte aus der frühen Nachkriegszeit führten. Wenn in beiden Ländern auch von bestimmten Grundsätzen abgerückt wurde, so Dvořák, sei doch gerade die Siedlungspolitik ein Feld, auf dem sich sehr früh ein social engineering ausbildete, das sich in den sozialistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas später allgemein durchsetzte.

Den radikalsten Bevölkerungsaustausch erlebte am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der frühen Nachkriegszeit das nördliche Ostpreußen. Alexander Sologubov (Kaliningrad) sprach von Siedlern, die eine terra incognita betraten: Sie kannten das Land, das Klima und den Boden nicht und wussten nichts von den Methoden, nach denen dieser zuvor bewirtschaftet worden war. Einzelnen Interessierten vor Ort gelang es nicht, Reste etwa des früheren Meliorationssystems gegen den Widerstand der Moskauer Regierung zu erhalten. So führte die Neubesiedlung des Kaliningrader Gebietes nicht allein zum Export des sowjetischen politischen Systems dorthin, sondern auch zu einer anderen Form der Besiedlung, zu anderen Formen der Bewirtschaftung und damit zu einer nachhaltigen Veränderung der Landschaft und der Natur.

Kathrin Boeckh (München) zählte in ihrem Beitrag über die Westukraine eine ganze Reihe von Prozessen mehr oder minder erzwungener Migration auf, die zum Teil grenzüberschreitend waren, zum Teil innerhalb des Landes durchgeführt wurden. So heterogen die betroffenen Bevölkerungsgruppen waren, so heterogen hätten sich auch die Gründe für „Moskau“ gezeigt, diese Umsiedlungen zu erzwingen, zu fördern oder zuzulassen. In den späten 1940er und in den 1950er-Jahren sei die Übertragung des Sowjetmodells auf die Westukraine und die Sicherung der kommunistischen Macht im Land etwa durch die Anwerbung von Kadern aus der Ostukraine und russisches technisches und Verwaltungspersonal noch nicht zentral gewesen.

Den „wiedergewonnenen Gebieten“ Polens galten die nachfolgenden vier Beiträge. Claudia Kraft (Bochum) befasste sich mit polnischen bevölkerungspolitischen Konzepten und ihrer Realisierung in den Wojewodschaften Allenstein und Niederschlesien. Sie argumentierte, dass die polnischen Kommunisten in einem hohen Grad an traditionelle „bürgerliche“ Konzeptionen von Bevölkerungs- und Siedlungspolitik anknüpften. In Verbindung mit dem Klassenansatz habe die Tradierung dieser Denkmuster nach 1948/49 mitunter merkwürdige Effekte gezeigt: So sei es im Rahmen einer mit dem Klassenschema kombinierten Politik der eindeutigen ethnischen Zuschreibung möglich gewesen, deutsche Facharbeiter in Niederschlesien zu integrieren, während den Autochthonen in Ostpreußen extreme Härte entgegenschlug, da sie weder in ein nationales noch in ein soziales Vorstellungsraster passten. Beschrieb Claudia Kraft für die von ihr untersuchten Regionen einen ersten Integrationsschub während der unmittelbaren Nachkriegszeit in die „neue Gesellschaft“, die durch die beginnende Kollektivierung ab 1949 wieder „zerhackt“ wurde, sprach Katrin Steffen (Warschau) für die Stettiner Wojewodschaft sehr vorsichtig von einer „gewissen gesellschaftlichen Integration auf niedrigem Niveau“, die eine ganze Reihe von Bevölkerungsgruppen ausschloss: Die verbliebenen Deutschen wurden von den Kommunisten gezielt für die Systemdurchsetzung und -stabilisierung instrumentalisiert, die Juden, die in großer Zahl nach Stettin (Szczecin) kamen, galten ebenfalls als „Fremde“, der einheimischen Bevölkerung – vor allem Kaschuben und Masuren – wurde unterstellt, sie sei die „fünfte Kolonne“ der Deutschen. Übereinstimmend mit Kraft konstatierte Steffen, dass vor allem die Autochthonenpolitik das Ziel der möglichst umfassenden Polonisierung der Gesellschaft konterkarierte, bei der sich auch national „uneindeutige“ Bevölkerungsgruppen als Polen bekennen sollten. Insgesamt hätten in der Stettiner Wojewodschaft die desintegrativen Tendenzen eindeutig überwogen, viele davon seien von der Polnischen Arbeiterpartei mit dem Ziel der Machtdurchsetzung bewusst gefördert worden.

Jan Musekamp (Frankfurt an der Oder) fragte in seinem Beitrag indessen danach, wie die Integration der Bevölkerung von Stettin/Szczecin nach 1945 gefördert wurde, und konzentrierte sich dabei zum einen auf die kulturelle Aneignung des städtischen Raums durch Denkmalsturz und Umcodierungen, zum anderen auf die Schaffung von Mythen, in denen Stettin als „von jeher polnisch“ erschien.

Der Mythos von der Geschichte der Integration der Siedlungsgebiete in den polnischen Staat, der in den 1960er Jahren gewoben wurde, stand im Mittelpunkt der Überlegungen von Andreas R. Hofmann (Leipzig). Auch Hofmann ging von der Beobachtung aus, dass die polnischen Kommunisten die Leitidee nationaler Homogenisierung von der Untergrund- und Exilregierung übernahmen und mit ihrem gesellschaftspolitischen Programm verknüpften. Nachrichten über die Kriminalität in den Siedlungsgebieten wurden unterdrückt, da man befürchtete, sie würden den Konsolidierungsprozess behindern. Nach 1956 und vor allem in den 1960er-Jahren, als das Interesse an den „wiedergewonnenen Gebieten“ eine Konjunktur erlebte, avancierten Klischees aus der frühesten Nachkriegszeit zu zentralen Topoi der Erfolgsgeschichte von der polnischen Landnahme, einer Geschichte vom Kampf gegen „Werwölfe“ und der Befriedung des „Wilden Westens“. Ex post wurde ein Tabuthema damit zu einem Element im Legitimationsnarrativ des sozialistischen Polen.

In den sehr intensiven Diskussionen der Tagung, die durch Schlusskommentare von Hans Lemberg (Marburg) und Detlef Brandes (Düsseldorf) abgerundet wurden, ging es zunächst um Begrifflichkeiten. Die im Tagungskonzept geforderte Erarbeitung eines gemeinsamen Vokabulars wurde von Andreas R. Hofmann als verfrüht zurückgewiesen. Einzelne Begriffe bzw. Begriffsfelder standen dennoch immer wieder im Zentrum der Debatten: etwa die Bezeichnungen für verschiedene Siedler- und Bevölkerungsgruppen oder die Dichotomie von Zwang und Freiwilligkeit von Migrationsprozessen. Hans Lemberg regte an, hier von „push- und pull-Faktoren“ zu sprechen, um den Motiven auf Seiten der politisch Verantwortlichen wie der Migranten besser gerecht zu werden. Auch der Begriff der „Integration“ stand mehrfach zur Diskussion. Detlef Brandes stellte fest, es herrsche allgemein eine viel zu kurzfristig denkende und positiv besetzte Vorstellung von Integrationsprozessen. Integration könne, wie etwa im Fall der Russlanddeutschen, auch über viele Generationen ausbleiben und erst über traumatische Erlebnisse vollendet werden. Weiter kritisierte er die meist vorausgesetzte Zäsur von 1944/45: Der qualitative Sprung von Bevölkerungs- und Siedlungspolitik hin zu Massendeportationen und grenzenlosem social engineering sei im Jahr 1933 zu suchen.

Mit der Konzentration auf die ersten Nachkriegsjahre erbrachte die Tagung allerdings nicht nur den Befund, dass bevölkerungspolitische Ideen aus der Zwischenkriegszeit in der Nachkriegszeit von kommunistischen Politikern umgesetzt und weiterentwickelt wurden, sondern auch eine Sensibilisierung für kleinere Einschnitte und Umbrüche: so etwa für die allmähliche Dominanz, die die soziale Revolution über die nationale und der Klassenkampf über die „Entdeutschung“ gewann. Während Martin Schulze Wessel hervorhob, dass die nationale und die soziale Agenda zu keinem Zeitpunkt wirklich voneinander zu trennen waren, sprach sich Adrian von Arburg bei der Analyse des Verhältnisses zwischen beiden Stoßrichtungen für eine Trennung zwischen der gesamtgesellschaftlichen Sphäre und der Machtspitze der Kommunistischen Partei aus. Hätten nationalpolitische Ziele für die breite Masse durchaus als Selbstzweck gegolten, verstanden die „Revolutionsführer“ die „nationale Karte“ eher als Mittel zur Sozialisierung und zur Erlangung der alleinigen politischen Macht.

Der Vergleich einzelnen Regionen, der ein zentrales Ziel der Tagung darstellte, gelang zwar – wie Hans Lemberg konstatierte – eher en passant als systematisch, die Frage der Vergleichsfelder durchzog jedoch alle Panels. Als besonders anregend erwies es sich dabei, dass mit dem Kaliningrader Gebiet und der Westukraine auf der einen Seite Regionen vertreten waren, in die ein bereits etabliertes System importiert wurde, mit Ostmitteleuropa indessen Gesellschaften, in denen die grenzüberschreitende wie Binnenmigration in – zumindest zeitlich – engem Zusammenhang mit dem Aufbau volksdemokratischer Systeme stand. Gerade für Ostmitteleuropa – wozu unbedingt auch die SBZ gezählt werden müsse – sei es notwendig, so Hans Lemberg, die Staatsmacht im Ausnahmezustand stärker in den Blick zu nehmen.

Am Ende der Tagung stand also eine lange Liste von offenen Fragen und Impulsen für neue Forschungen. In diesem Sinn bot der sehr intensive Workshop gewissermaßen eine Momentaufnahme der Forschungssituation am Ende des großen Dokumentationsprojektes „Niemcy w Polsce 1945-1950/Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950“, dessen vierten und letzten Band Hans Lemberg druckfrisch nach München mitgebracht hatte, und am Beginn des Projektes über die Siedlungsgebiete der Tschechoslowakei nach 1945.1 Deutlich wurde der stark divergierende Wissensstand zu den einzelnen Regionen Ost- und Ostmitteleuropas ebenso wie der sich vollziehende Perspektivwechsel vom Fokus auf die Prozesse der Aussiedlung (primär der Deutschen) hin zum Gesamtgeschehen von Zwangsmigration und Neubesiedlung im Kontext der Systemtransformation unter Berücksichtigung aller beteiligten Bevölkerungsgruppen. Die grenzüberschreitenden Wirkungen dieser Prozesse auf die Aufnahmegesellschaften wie die zwischenstaatlichen Beziehungen werden wohl erst Thema weiterer Projekte sein können – vielleicht der von Andreas R. Hofmann so nachdrücklich eingeforderten großen Synthese.

Anmerkungen
1 Informationen zu diesem Projekt, das von Adrian von Arburg, Tomáš Dvořák, Andreas Wiedemann, Tomáš Staněk, Jaroslav Kučera und Detlef Brandes bearbeitet wird, unter: http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/geschichte/xkgdoe/frame.htm.


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