Polesien als Interventionslandschaft

Polesien als Interventionslandschaft

Organisatoren
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg; Justus-Liebig-Universität Gießen; Universität Siegen
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.06.2016 - 17.06.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Artem Kouida, Gießen

Polesien – ein unbekanntes Gebiet, das grenzübergreifend auf belarussischem und ukrainischem Territorium liegt und durch seine undurchdringliche Sumpflandschaft vom Partisanenmythos umwoben ist? Dies scheint es nicht mehr zu sein. Auf ein reges Interesse stieß der Experten-Workshop, der neben deutschen auch internationale Forscherinnen und Forscher zum interdisziplinären Dialog vereinte. Dabei prägte das Leitthema „Polesien als Interventionslandschaft“ die Inhalte und neuen Forschungsansätze des Workshops.

Das einleitende Wort ergriff ANNA VERONIKA WENDLAND (Marburg), indem sie Polesien geographisch einordnete und einen kurzen Überblick über das Polesien-Projekt gab. Das erste Panel des Workshops wurde von Thomas Bohn eröffnet. In seinem Eröffnungsvortrag konfrontierte der Landschaftswissenschaftler HANSJÖRG KÜSTER (Braunschweig) die Konferenzteilnehmer mit dem Begriff „Natur“ und ihrer Prägung durch menschliche Visionen. Küster vertrat die Auffassung, dass es ein Irrtum sei, Landschaft als Natur im ursprünglichen Sinne zu verstehen. Er thematisierte auch die Betrachtung Polesiens als einer künstlichen Grenze, die von unterschiedlichen Akteuren in ihrem jeweiligen Sinne interpretiert wurde, da die natürlichen Grenzen nicht gegeben sind. Als Wildnis galt Polesien nur für Kolonisatoren und Außenstehende. Für die Urbevölkerung gab es dort sehr wohl eine Struktur und geordnete Abläufe. Dabei ist jede Idee von einer großräumigen Landschaft und jedes neue Landnutzungssystem immer mit einer Intervention verbunden.

In seinem Vortrag „Interventionslandschaft statt Bloodlands“ wies KLAUS GESTWA (Tübingen) auf die Grenzen der räumlichen Homogenität in Polesien hin, das in Wirklichkeit aus Teillandschaften bestehe und somit zur Auseinandersetzung mit dem Trennenden geeignet sei. Dabei müsse auf die Hierarchie von „regionalen“ und „lokalen“ Räumen gründlicher eingegangen werden. In diesem Sinne bedürfe Polesien als Raum einer viel stärkeren Definition. Die Aneignung – osvoenie – müsse auf ihre Konnotation in Polesien untersucht und mit anderen Regionen verglichen werden. Es müsse auch eine tiefere Auseinandersetzung mit lokalen wie auch globalen Intervenierenden von außen stattfinden und die Prozesse der Intervention müssten präziser definiert werden. Eine große Forschungslücke besteht nach Meinung Gestwas bei der Geschichte von Mooren und Sümpfen und der damit verbundenen Melioration. Die umwelthistorische Forschung bietet hier vielfältige Ansatzpunkte. Dabei soll vom Begriff „Ökozid“ als Opfergeschichte oder Katastrophengeschichte in der Sowjetunion abgerückt werden.

Auf die Nationsbildung im Kulturgrenzland Polesien ging PAVEL TEREŠKOVIČ (Minsk) ein. Im Grenzland könne sich keine Monokultur entwickeln, da dort permanente Kulturschwankungen und Fremdeinflüsse bestehen, aus denen sich eine hybride Kultur entwickelt. Dem polnischen Ethnografen Józef Obrębski zufolge seien die Polešuken weder Ukrainer, noch Belarussen, sondern ein eigenes Volk. Kulturell begründete separatistische Gedanken wurden in Polesien besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion populär. Heutzutage sind diese Strömungen fast ausschließlich von wissenschaftlichem Interesse.

Das zweite Panel des Workshops wurde von Claudia Kraft (Siegen) geleitet. ULRIKE JUREIT (Hamburg) ergriff als erste das Wort. Dabei ging sie im Kontext von Raumwahrnehmungspraktiken auf die drei Ebenen des historischen Wandels nach Fernand Braudel ein und warf die Frage nach ihrer Anwendung auf das Polesien-Projekt auf. Dabei sei die Neutralität des Landschaftsbegriffs im Projekt sehr problematisch, denn es erfolge eine Reproduktion von Raumkonzepten statt einer Analyse. Es müssten Mensch-Raum-Verhältnisse als Konstrukt untersucht werden und nicht umgekehrt, da es um die menschliche Intervention in die Natur gehe.

ALES´ SMALJANČUK (Minsk / Warschau) stellte das belarussische Oral History Archiv und die Möglichkeiten seiner Nutzung für das Verständnis des Polesien-Alltags vor. Seit der Archiv-Gründung 2011 stehen die Bewohner Polesiens im Fokus, die ihre Lebensgeschichte in autobiographischen Erzählungen nach der Methode von Rosenthal/Fuchs wiedergeben. Die Archiv-Sammlung steht konträr zur offiziellen Geschichtspolitik und zur offiziellen Position der belarussischen akademischen Wissenschaft. Die archivinterne „Polesien-Sammlung“ offenbart keine deutlich definierbaren Identitäten (in einer definierten Region), da die Polesien-Bewohner sich selbst mehrheitlich nicht als Polešuken betrachten.

CHRISTIAN GERLACH (Bern) kritisierte in seinem Kommentar das Konzept der Interventionslandschaft als zu staatszentriert und zu wenig auf Kommunen gerichtet. Die lokalen Initiativen und Konflikte müssten mehr in den Vordergrund rücken, sowie eine bessere Definition von Interventionslandschaften und ihre Abgrenzung von Nicht-Intervention gegeben werden. Die Melioration müsse als eine Geschichte des Scheiterns von Wertschöpfungsanstrengungen betrachtet werden. In diesem Zusammenhang verdient die lokale Ebene als eigenständiges Untersuchungsfeld mehr Aufmerksamkeit, um dem einseitigen Opfernarrativ zu entgehen. Gezielte großangelegte Räumungsaktionen der deutschen Wehrmacht sowie der Frontverlauf führten zu großen Zerstörungen, welche die Verstädterung und Modernisierung im Zuge des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg begünstigten. Sowjetische Maßnahmen trugen aufgrund der hohen finanziellen Investitionen keinen imperialen Charakter, sondern wurden als ein „Zuhause“-Projekt angesehen.

Bei dem dritten Panel übernahm Anna Veronika Wendland die Leitung. Der Infrastrukturhistoriker DIRK VAN LAAK (Gießen) empfahl im Hinblick auf Polesien nicht kategoriale Präzision, sondern Offenheit und Vieldeutigkeit. „Infrastruktur“ sei als Konzept an ein Naturverständnis gebunden, das die Natur als Objekt menschlicher Bemächtigung, Kontrolle und Nutzbarmachung versteht. Ziel ist es, den an die Infrastruktur Angeschlossenen von täglichen Fragen des Überlebens zu entlasten und zu kulturell vermeintlich höherwertiger Produktion, zur Distribution, zu Konsum und Lebensgenuss zu verhelfen. Dabei bestehe die Infrastruktur erst dann, wenn sie von der einheimischen Bevölkerung mehrheitlich genutzt werde. Van Laak verwies auf die Analogie Polesiens zu Afrika, wo paradoxerweise gerade die modernisierungsresistenten Bereiche zum Gegenstand romantischer Verklärung werden.

Laut LUDGER GAILING (Erkner) existieren „Interventionslandschaften“ nur in der Imagination der die Landschaft Erforschenden, somit seien sie ein Konstrukt. Interessant ist, welche Konnotationen die jeweiligen Akteure mit Polesien als Interventionslandschaft verbinden. Ein Merkmal, um verschiedene Interventionslandschaften voneinander zu unterscheiden, könnte die Intensität der physisch-materiellen Umgestaltung der Landschaft sein. Das Verlust- und Opfer-Narrativ spielt in Polesien in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.

Eine Interventionslandschaft ist nach BÉATRICE VON HIRSCHHAUSEN (Paris / Berlin) jede Landschaft, die aus menschlichem Handeln entsteht. Die Herausforderungen dabei sind Determinismus und Dualismus zwischen als „natürlich“ angenommenen Landschaften und menschlichem Handeln. Von Hirschhausen schlug vor, die Pluralität unterschiedlicher Landschaften und evtl. ihrer Deutungen zu untersuchen, da Polesien kein homogenes Gebiet sei. Die dort vorhandenen Infrastrukturen sollten im Sinne des französischen Ethnologen Antoine Berque als „Griffe“ wahrgenommen werden, die durch das Handeln unterschiedlicher Akteurs-Gruppen entstehen.

In den Vorträgen und anschließenden Diskussionen zeigte sich, dass Polesien als Interventionslandschaft sehr kontrovers diskutiert wird. Denn es handelt sich um ein Gebiet, das trotz der scheinbaren Homogenität sehr heterogen ist und viele Fragen für die aktuelle historische Forschung aufwirft. Der Workshop gab wichtige Impulse für die weitere Forschungsarbeit und zeigte neue Blickwinkel auf. Das Ziel ist es nun, die unterschiedlichen Themenkomplexe und nationalen Besonderheiten des belarussischen und ukrainischen Teils von Polesien innerhalb des Gesamtprojekts „Polesien als Interventionslandschaft“ auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Anna Veronika Wendland (Marburg)

PANEL 1: Landschaft und Umwelt
Diskussionsleitung: Thomas Bohn (Gießen)

Hansjörg Küster (Braunschweig): „Landschaft, Natur, Kultur und Idee“

Klaus Gestwa (Tübingen): “Interventionslandschaft statt Bloodlands? Polesien – umwelthistorisch gesehen”

Pavel Tereškovič (Minsk): “Nation Building in the Cultural Borderlands: Intervention into Identity Landscape”

PANEL 2: Intervention und Alltag in der Geschichte
Diskussionsleitung: Claudia Kraft (Siegen)

Ales’ Smaljančuk (Minsk/Warschau): „Perspektiven der Oral History für das Verständnis des Polesien-Alltags“

Christian Gerlach (Bern): „Durchdringung und Gewalt“

Ulrike Jureit (Hamburg): „Raum und Landschaft“

PANEL 3: Raum und Infrastruktur
Diskussionsleitung: Anna Veronika Wendland (Marburg)

Dirk van Laak (Gießen): „Die Interventionslandschaft Polesien aus Sicht der Infrastrukturgeschichte“

Ludger Gailing (Erkner): „(Energie-)Landschaften. Materialitäten, Macht und Interventionen“

Béatrice von Hirschhausen (Paris / Berlin): „Raumtheorien“

Zusammenfassung und Ausblick
Anna Veronika Wendland (Marburg)


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