Anarchism in Culture. Reassessing the Influence of a Manifold Libertarian Concept on European Modernity (1820s-1930s)

Anarchism in Culture. Reassessing the Influence of a Manifold Libertarian Concept on European Modernity (1820s-1930s)

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Rom
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
07.09.2016 - 09.09.2016
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Von
Amerigo Caruso, Universität des Saarlandes

Im langen 19. Jahrhundert entwickelte der Anarchismus widersprüchliche Eigenschaften und eine vielfältige historische Gestaltungskraft. In Anknüpfung an ihr 2013 abgeschlossenes Dissertationsprojekt, das Anarchismus und Sprachphilosophie am Beispiel deutsch-jüdischer Bürgersöhne im Fin de Siècle untersuchte, organisierte CAROLIN KOSUCH (Rom) einen Internationalen Workshop zur Ideen- und Kulturgeschichte des Anarchismus. Die dezidiert interdisziplinär konzipierte Veranstaltung fand am Deutschen Historischen Institut in Rom (DHI Rom) statt und wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Ziel des Workshops war es, die polyvalenten Theorien, die umfassenden Aktivitäten und unterschiedlichen Reaktionen zu analysieren, die der anarchische Nonkonformismus im 19. und 20. Jahrhundert hervorbrachte. Das Thema „Anarchism in Culture“ bot sich nicht nur wegen seiner politik- und kulturgeschichtlichen Relevanz an, sondern auch, weil die aktuelle Forschung die Geschichte des Anarchismus im Zusammenhang mit Gender und Global Studies neu perspektiviert hat. Die breit gefächerten inhaltlichen Schwerpunkte des Workshops bezogen sich auf die Verflechtungen der „anarchischen Freiheit“ mit Kunst, Wissenschaft, Religion, Anti-Kapitalismus, Pädagogik, Literatur, Philosophie und Wirtschaftstheorie.

In seinem Grußwort unterstrich MARTIN BAUMEISTER (Rom) das epochenübergreifende Erklärungspotential der Geschichte des Anarchismus. Der Direktor des DHI Rom wies darauf hin, dass die Untersuchung dieser anti-autoritären Ideologie aufschlussreich sein kann, um sowohl neuere Forschungsschwerpunkte wie die Global South Studies zu erproben, als auch traditionelle Narrationen zur Entstehung der Moderne zu hinterfragen. Ausgehend von der Geschichte des spanischen Anarchismus stellte Baumeister fest, dass die historische Bedeutung dieser transnational zirkulierenden Hybridkultur nicht unterschätzt werden sollte.

Einleitend hob CAROLIN KOSUCH (Rom) deutlich hervor, dass die Geschichte des Anarchismus lange Zeit dem Rahmen zweier dichotomer Interpretationsmuster verhaftet blieb. Auf der einen Seite dämonisierten die Gegner des anarchischen Nonkonformismus die rebellische Utopie als Quelle von Gewalt und Unordnung. Zum anderen wurde der Anarchismus von seinen Sympathisanten unkritisch und teilweise vorbehaltlos unterstützt. Um diese Dichotomie zu überwinden sei es notwendig, den Anarchismus als einen transnationalen und hybriden Diskurs zu definieren. Die aktuelle Forschung habe überzeugend dargelegt, dass die Artikulationsstärke anarchischer Ideen heterogene Theorien und Akteurskonstellationen umfasse. Die anarchische Freiheit generierte, so lautete die Ausgangshypothese des Workshops, ein kreatives nonkonformistisches Klima, das zwischen 1820 und 1930 dem kulturellen und politischen Leben der europäischen und atlantischen Welt starke Impulse gab.

Das erste Panel fokussierte das anarchische Denken im Bereich der Philosophie, der Literatur und der Rechtswissenschaft. In ihrem Vortrag über den französischen Soziologen Pierre-Joseph Proudhon fragte ANNE-SOPHIE CHAMBOST (Saint-Étienne) nach dem scheinbaren Gegensatzpaar Anarchismus und Ordnung. In seinen breitenwirksamen Schriften habe Proudhon eine umfassende Gesellschafts- und Politikreform postuliert, die zwar anti-staatlich und anti-autoritär konzipiert gewesen sei, jedoch nicht die Herrschaft von Chaos und Utopie als Alternative zum kapitalistischen System in Aussicht gestellt habe. Vielmehr sei der französische Soziologe auf der Suche nach einem komplexen Äquilibrium zwischen Anarchismus und gesetzlicher Ordnung gewesen. Ausgehend von seinen Theorien zur sozialen und politischen Macht habe Proudhon ein Gesetz bzw. eine Gerechtigkeit ohne Staat imaginiert. Er plädierte für eine institutionelle und gesellschaftliche Neuordnung mit ausgeprägten föderalistischen, mutualistischen und korporativen Zügen. Proudhons Projekte seien in der Theorie verblieben und seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vom rechten, antisemitischen Spektrum vereinnahmt worden.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte, insbesondere mit dem Revolutionsbegriff war sowohl für Proudhon als auch für den russischen Anarchismustheoretiker Piotr Kropotkin von zentraler Bedeutung. Ziel des Vortrages von PASCALE SIEGRIST (Konstanz) war es, die Philosophie der Geschichte und die daraus entstehende politisch-ideologische Funktionalisierung der Vergangenheit im Denken des russischen Anarchisten zu eruieren. Ähnlich wie Giambattista Vico fasste Kropotkin die Geschichte als zyklisches Ineinandergreifen von Fort- und Rückschrittstendenzen auf. Diese Grundinterpretation der Geschichte war deterministisch geprägt und distanzierte sich vom marxistischen Materialismus, indem sie die historische Relevanz von Ideen und Kulturen nicht als weltanschaulichen Überbau betrachtete. Pascale Siegrist verfolgte die These, dass Kropotkin ein optimistisches Geschichtsbild entwickelte und dabei einen Interpretationsschluss entwarf, um Revolutionen und Konflikte in eine kohärente historische Dynamik einzuordnen. Er sei auf der Suche nach einem systematischen Deutungsmuster gewesen, um die anarchische Harmonie als Telos der Geschichte darzustellen. Am Beispiel Kropotkins demonstrierte Siegrist, dass vom historischen Determinismus wichtige Impulse für den politischen Aktivismus und das nonkonformistische Denken ausgingen.

Mit seinem Vortrag zum literarischen Topos der Wanderung lieferte MARIO BOSINCU (Sassari) einen interessanten Beitrag zu den kulturellen Grenzen des Anarchismus. Im Mittelpunkt stand die Idealisierung der Natur und die damit verknüpfte Gesellschaftskritik in den Texten von Hermann Hesse und Henry David Thoreau. Der Habitus der Wanderer sei einer Aufforderung zur Selbstbestimmung und Freiheit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gleichgekommen. Sowohl Hesse als auch Thoreau identifizieren die post-romantische Erfahrung der Natur als Antisymbol für den überrationalen homo oeconomicus. Der Vortrag von Mario Bosincu zeigte die Verflechtungen von Mystizismus und Anarchismus sowie von politisch-ideologischem und literarisch-kulturellem Antikonformismus auf.

Mit seinem Kommentar zum ersten Panel brachte FABIAN LEMMES (Bochum) einige grundsätzliche Fragen über „Anarchism in Culture“ auf den Punkt. Erstens thematisierte Lemmes ein Dilemma, das mit der Definition von Anarchismus verbunden ist. Eine enge, politikgeschichtliche Begriffserklärung wäre sicherlich zu kurzgreifend, um das Mosaik anarchischer Kultur zu erfassen. Andererseits könne eine zu breite Anarchismusdefinition zur inhaltlichen Entleerung des Konzepts führen. Des Weiteren wies der Kommentator auf das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Kollektivismus als charakteristisches Merkmal des Anarchismus hin. Schließlich wurde nach dem Einfluss von anarchischem Ideengut auf nicht-anarchische Ideologien und Netzwerke gefragt.

Auch CARL LEVYS (London) Keynote über Anarchismus, Freiheit und
kulturellen Pluralismus blickte, was Definition und Periodisierung
betraf, ergebnisoffen auf den Anarchismus des 19. und 20.
Jahrhunderts. Die historische Bedeutung des Anarchismus bestehe, Levy zufolge, vor allem darin, dass diese Ideologie ein freies und
anti-konformistisches Denken dynamisierte und die Partizipation von
Minderheiten (Migranten, Frauen, Juden) am politischen Protest und der kulturellen Avantgarde ermöglichte.

Das zweite Panel diskutierte die Auswirkungen der anarchischen Hybridkultur auf Wirtschaftstheorien und Landreformprojekte. JUDITH BAUMGARTNER (München) präsentierte die zahlreichen Freiland- und Siedlungsbewegungen sowie die innovativen Lebens- und Eigentumskonzepte, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum zirkulierten. Baumgartner zeigte, dass seit dem Mittelalter Freiheit und freies Land Teil des ökonomischen Diskurses waren. Diese traditionsreiche Eigentumsdebatte interessierte sowohl britische Wirtschaftstheoretiker wie John Locke, David Ricardo und John Stuart Mill als auch die französischen Revolutionäre um 1789. Später entwarfen auch Proudhon und der amerikanische Ökonom Henri George innovative Eigentumskonzepte. Kooperative Projekte und Genossenschaften wurden von dem deutschen Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch im Kontext der Bismarckschen Sozialgesetze realisiert. Um 1900 boomte die anti-konformistische Lebensreform- und Siedlungsbewegung im deutschsprachigen Raum. Die wichtigsten Experimente waren der von Adolf Damaschke gegründete “Bund Deutscher Bodenreformer” sowie die Kooperative “Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung“, welche mit einer Siedlungsbank ausgestattet war. Interessanterweise wurde auch das Statut der deutschen Kolonie Kiautschou (China) durch die Genossenschafts- und Freilandbewegung inspiriert.

Eine schillernde Figur im Rahmen der Freilandbewegung war der deutsche Finanztheoretiker Silvio Gesell. Mit seinem Vortrag zur Freiwirtschaftslehre, die durch Gesells Ideen maßgeblich geprägt wurde, untersuchte ROLAND WIRTH (Zürich) diese innovative Wirtschafts- und Finanztheorie im Spannungsfeld des kulturellen Anarchismus. Er stellte heraus, dass die Freiwirtschaftslehre an eine Vielzahl von heterogenen ökonomischen und gesellschaftskritischen Traditionen anknüpfte. Dazu zählten die Ideen der französischen Physiokraten des 18. Jahrhunderts, aber auch der Gedanke der Emanzipation von der kapitalistischen Ausbeutung, die der Marxismus propagierte, sowie das Misstrauen gegen den liberalen Staat. Die hybriden kulturellen Grundlagen der Freiwirtschaftslehre vermischten sich mit Verschwörungsgedanken und überdies mit der messianischen Selbstdeutung Gesells. Die von ihm entwickelte Freigeldtheorie postulierte, dass Geld ebenso wie alle anderen Waren verderblich sein solle. Damit habe Gesell Spekulationen zu verhindern und zur Dynamisierung der Investitionen beizutragen versucht.

Der Vortrag von CONSTANCE BANTMAN (Guildford/Surrey) fragte nach dem Internationalismus, den transnationalen Vernetzungen und der lokalen Verankerung des Syndikalismus. Sie verfolgte die These, dass in der Syndikalismus-Bewegung das Streben nach internationaler Solidarität mit einem starken lokalistischen Impetus koexistierte. Damit unterstrich die Vortragende, dass die transnationale Geschichtsschreibung undogmatisch vorgehen und die historische Bedeutung von regionalen, ja lokalistischen Prozessen nicht übersehen sollte. Seit den 1870er-Jahren habe die anti-kapitalistische und anti-parlamentarische Syndikalismus-Bewegung die Aneignung von Produktionsmitteln durch die Arbeiterorganisationen propagiert. Ihre Entstehungsgeschichte sei transnational und stark am Internationalismus orientiert gewesen. Als Teil des anarchistischen Spektrums habe der Syndikalismus auf Exil- bzw. Migrationsnetzwerken basiert und seine Ideen mittels internationalen Publikationsprojekten verbreitet. Die Bewegung könne mit dem Fokus auf lokale Geschichte im transnationalen Kontext neu bewertet werden. Dabei wäre es wünschenswert, die Begriffe transnational und international nicht als Synonyme aufzufassen, sondern vielmehr zwischen dem Internationalismus der Gewerkschaftsbewegung und der transnationalen Geschichte des Anarchismus zu differenzieren.

Zum Abschluss des zweiten Panels hat MATTHIAS MÖLLER (Freiburg) mit einem weiteren Beitrag zur Freiland- und Siedlungsbewegung gezeigt, dass die kontroverse Suche nach einer nicht-paternalistischen Lösung zur sozialen Frage einen der zentralen Aspekte der europäischen Geschichte im (krisenhaften) Übergang zur Moderne darstellt. Der Vortragende stellte die Entstehung und die Konzeption von Haus- und Wohnungsreformprojekten in Deutschland und der Schweiz exemplarisch dar. Neben ihrer sozialen Relevanz habe die Bewegung auch zum politischen Aktivismus beigetragen und das langfristige Ziel eines dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus verfolgt.

Den Kommentar zu dieser Sektion übernahm RITA ALDENHOFF-HÜBINGER (Frankfurt an der Oder). Die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin betonte, dass eine Spannung zwischen individueller Freiheit und kollektiver Mitbestimmung bzw. zwischen Individualismus und Solidarismus charakteristisch für das anarchische Denken war. Die Beiträge dieses Panels demonstrierten, dass kultureller Anarchismus einer breiten Definition bedarf, welche auch den ökonomischen Diskurs einschließe.

Die dritte Sektion zu Wissenschaft und Bildung wurde von MATTEO COLLODEL (Berlin) mit einem Vortrag über den (kulturellen) Anarchismus des österreichischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend eröffnet. Indem er den kreativen intellektuellen Umgang Feyerabends mit der anarchischen Hybridkultur rekonstruierte, zeigte Collodel, dass dessen anti-konformistisches Denken fachübergreifend und polyvalent bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein entscheidende Impulse setzte. Interessant sei dabei vor allem, die unterschiedlichen Vereinnahmungen von Anarchismus und Biografie zu eruieren. Mit der von Collodel gewählten breiten Definition von Anarchismus ließ sich die flexible und nicht-lineare Entwicklung Feyerabends philosophischer Position besser verstehen. Der österreichische Intellektuelle sei von Popper und Marx, von Mill und Cohn-Bendit inspiriert, so Collodel. Sein Denken sei zwischen Dadaismus, welcher auch auf semantischer Ebene radikale Kritik beinhaltete, und Anarchismus in moralischen und selbst in wissenschaftlichen Fragen zu verorten.

Der Vortrag von FEDERICO FERRETTI (Dublin) fragte nach dem Verhältnis von Anarchismus, Evolutionismus und positivistischen Fortschrittstheorien am Beispiel der anarchischen Geographen Élisée Reclus, Lev Mečnikov und Piotr Kropotkin. Ferretti zeigte überzeugend, dass sich die anarchischen Intellektuellen das Instrumentarium der „modernen“ Wissenschaften aneigneten, um Kritik an den im späten 19. Jahrhundert dominierenden Fortschrittsideen und dem Eurozentrismus zu üben. Reclus, Mečnikov und Kropotkin entwarfen in ihrem Oeuvre einen nicht-konventionellen Diskurs. Ziel der anarchischen Wissenschaftler und Intellektuellen sei es gewesen, Bildung als Initialzündung für kritisches Denken zu nutzen und damit die vorherrschenden Narrative von Staat, Nation, Religion und Kapitalismus zu untergraben.

Die intensive Auseinandersetzung von Anarchisten mit verschiedenen Wissensbeständen und Bildungskonzepten stand im Mittelpunkt des Vortrags von PIOTR LASKOWSKI (Warschau). Er trug zu anarchischen Unterrichtszielen und -methoden vor. Die anarchische Kritik des im 19. Jahrhundert dominierenden Bildungssystems, so Laskowskis These, habe westliche Bildungskonzepte wesentlich beeinflusst. Die von den Anarchisten befürwortete Schulbildung sei anti-hierarchisch gewesen und habe auf Belohnung und Strafe basierende Unterrichtsmethoden vehement abgelehnt. Laskowski analysierte in seinem Beitrag Beispiele anarchischer Pädagogik: die „Moderne Schule“ von Francisco Ferrer, „La Ruche“ von Sebastien Faure und Leo Tolstois „Yasnaya Polyana“. Das gemeinsame Ziel dieser innovativen Bildungsprojekte sei es gewesen, die Schüler zur Selbstständigkeit zu erziehen. Ungelöst seien in diesen Bildungskonzepten die Spannungen zwischen individueller und kollektiver Freiheit, unterstrich Laskowski.

Ein weiterer Aspekt von Anarchismus, Wissenschaft und Bildung wurde mit dem Vortrag von UFFA JENSEN (Berlin) zur „anarchischen“ Psychoanalyse thematisiert. Jensen fokussierte die breite Diskussion über die politische Rolle der Psychoanalyse im Fin de Siècle, insbesondere die Auseinandersetzung zwischen dem österreichischen Psychiater Otto Gross und dem Anarchismustheoretiker Gustav Landauer. Diese Debatte habe Aufschluss über das historische Verständnis von Politik und Psychoanalyse gegeben und bestätigt, dass eine Vielzahl von Akteuren auf den kulturellen Anarchismus zurückgegriffen habe, um die komplexe und ambivalente Suche nach dem Ich in der Moderne zu bewältigen.

In ihrem Kommentar zu dieser Sektion hat NICOLE C. KARAFYLLIS (Braunschweig) den roten Faden aus den vier Vorträgen herausgestellt und die große Resonanz des Anarchismus in Wissenschaft und Bildung um 1900 pointiert dargestellt. Dabei fragte sie nach der Interdependenz von Anarchismus und Biografie und sprach sich mit Blick auf das 19. Jahrhundert für eine trennscharfe Verwendung der Begriffe „Ich“ und „Selbst“ aus.

Den Auftakt des vierten und letzten Panels zu Anarchismus und Kunst machte MARTIN NIEDERAUER (Wien) mit einem Vortrag über die Ästhetik des Jazz. Das Thema bot sich an, weil der Jazz seit seiner Entstehung mit rebellischen und gesellschaftskritischen Gedanken assoziiert wurde. Niederauer fragte, ob der Jazz als Symbol für den politischen Protest gegen Rassismus und ethnische Segregation von den afroamerikanischen Musikern selbst oder vielmehr von deren weißen, linkspolitischen Sympathisanten konstruiert wurde. Benutzen linksorientierte (weiße) US-Amerikaner den Topos des exotischen Rebellen, um politischen Aktivismus durch den Jazz zu visualisieren und legitimieren? Das kontroverse Verhältnis von weißen Jazz-Rezipienten und afroamerikanischen Musikern sei eine Form von Solidarität mit den Unterdrückten gewesen, die teilweise dazu beitrug die Oppression zu perpetuieren. Die Improvisation im Jazz verhelfe jedoch auch ohne politische Lesart den Musikern zur Selbstwerdung, sie inspirierten sich gegenseitig zum freien Ausdruck ihrer Kreativität.

Mit dem Begriff des ästhetischen Anarchismus analysierte DANIELA PADULAROSA (Rom) die kulturelle Szene des Dadaismus zwischen 1910 und 1930. Padularosa verglich die historische Bedeutung dieser revolutionären Kunst- und Literaturrichtung mit derjenigen einer politischen Revolution. Vor allem im Rahmen des Züricher Dadaismus versammelten sich pazifistische Künstler und Intellektuelle, die mit anarchischen Assoziationen eng kooperierten. Die Dadaisten stellten eine doppelte, politische und künstlerische Avantgarde dar, wie die Vortragende am Beispiel Hugo Balls, Fritz Brupbachers und Fritz Mauthners herleitete.

Diskutiert wurden auch die Verflechtungen zwischen Anarchismus und Fauvismus. Der Vortrag von PATRICIA LEIGHTEN (Durham/NC) reflektierte die vielfältige Rezeption anarchischer Ideen innerhalb der französischen Avantgarde. Während die meisten Neoimpressionisten sich dem kommunistischen Anarchismus anschlossen, hätten sich die Vertreter des Fauvismus eher als anarchische Individualisten definiert. Anarchismus und, vor allem nach der Dreyfus-Affäre, auch Anti-Militarismus fanden innerhalb der französischen Avantgarde eine breite und nachhaltige Resonanz, so Leighten. Sie zeigte überzeugend, dass sich politischer Aktivismus und innovative Stilrichtungen gegen die akademische Kunst gegenseitig beeinflussten. Die von den Fauvisten verwendeten expressiven, ungemischten Farben sowie die spontane Technik signalisierte einen radikalen, aus dem Anarchismus kommenden, mit Bakunin assoziierten Protest, der die akademische Malerei, aber auch den soziopolitischen Status quo kritisierte.

Auch der Vortrag von MARK ANTLIFF (Durham/NC) setzte sich zum Ziel, die breite Palette an anarchischen Einflüssen innerhalb der künstlerischen Avantgarde im Fin de Siècle zu rekonstruieren. Antliff beschrieb die engen Verflechtungen zwischen Politik und Kunst mit dem Begriff „ästhetisierte Politik“ am Beispiel der Bildhauerei. Ein konkretes Beispiel von ästhetisierter Politik sei der Protest europäischer Avantgarde-Netzwerke gegen die Entscheidung der Pariser Stadtverwaltung gewesen, das Grabmonument Oscar Wildes zu zensieren. Das auf dem Père Lachaise Friedhof befindliche Grabmal wurde 1913 vom Bildhauer Jacob Epstein realisiert. Der Künstler sei mit dem Pariser anarchischen Milieu auf das Engste verbunden gewesen, unterstrich Antliff. André Colomer, der Hauptvertreter der anarchischen Gruppe „Action d’art“ bezog sich auf Oscar Wilde, aber auch auf die Philosophen Max Stirner und Henri Bergson, um eine neue Synthese von Anarchismus, Élan vital und Ästhetik zu entwerfen. Der Vortrag von Antliff bestätigt, dass der Zugang zum kulturellen Anarchismus nur durch eine transnationale, ergebnisoffene Verflechtungsgeschichte von Kultur und Politik möglich ist.

Den Kommentar zu dieser Sektion gab DAVID WEIR (New York). Er ging insbesondere auf das verbindende Moment des Anarchismus in Form von, auch politisch gedeuteter, Spontanität und Kreativität in den vier Beiträgen des Panels ein und fragte nach möglichen Rezipienten anarchistischer Kunst sowie den politischen Inhalten einer solchen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der Workshop eine epochenübergreifende, transnationale und interdisziplinäre Herangehensweise systematisch verfolgt hat. Dieser Ansatz war notwendig, um das Thema „Anarchism in Culture“ adäquat zu präsentieren und konstruktiv zu diskutieren. Heterogene, aber nicht unzusammenhängende Beiträge haben gezeigt, dass nicht nur eine hybride Auffassung von Anarchismus, sondern auch eine breite, inklusive Definition von Kultur wünschenswert ist, um die große historiographische Frage nach der Entstehung der Moderne mit neuen Deutungsansätzen zu befruchten. Ein breiter, hybrider Anarchismus- und Kulturbegriff kann die historische Entwicklung von Literatur, Kunst, Philosophie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften sowie deren Verflechtungen im Übergang zur Moderne innovativ bewerten. Dabei bleibt das Ausbalancieren zwischen traditionell ideengeschichtlichen und neueren Konzepten der Intellectual History eine Herausforderung für eine interdisziplinäre Diskussion von „Anarchism in Culture“.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Martin Baumeister (DHI Rom)

Einführung
Carolin Kosuch (DHI Rom)

Keynote
Carl Levy (Goldsmiths University of London)

1. Panel
Chair: Gabriele Guerra (Sapienza Università di Roma)

Anne-Sophie Chambost (Universität Jean Monnet, Saint-Étienne)
Law and Anarchy. Seeking Traces of a Convergence in the Writings of Proudhon

Pascale Siegrist (Universität Konstanz)
Anarchy's Past: Pëtr Kropotkin's Conception and Uses of History

Mario Bosincu (Università degli Studi di Sassari)
Wandering Anarchists: Hermann Hesse's and H. D. Thoreau's Nature Experience

Kommentar: Fabian Lemmes (Ruhr University Bochum)

Diskussion

Keynote Lecture
Carl Levy (Goldsmiths University of London)
Anarchism, Liberty and Cultural Plurality

2. Panel
Chair: Amedeo Osti Guerrazzi (DHI Rom)

Judith Baumgartner (Universität der Bundeswehr, München)
No Man’s Land? The Idea of “Free Land” as Anarchistic Approach

Roland Wirth (Kaderschule Zürich)
Anarchistic Money: The Concept of a Natural Economic Order via Freigeld

Constance Bantman (University of Surrey)
Internationalist, Transnational and Locally-Based: Examining some of Scalar Issues in Syndicalism

Matthias Möller (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
“Forcing the Power of Capital to Serve the Commonalty." Housing Reform as an Interstitial Strategy in Germany and Switzerland

Kommentar: Rita Aldenhoff-Hübinger (Europa Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)

Diskussion

3. Panel
Chair: Carolin Kosuch (DHI Rom)

Matteo Collodel (Humboldt Universität Berlin)
On the Origins of Feyerabend's 'Anarchism': from Cohn-Bendit through Mill to Stirner

Federico Ferretti (University College Dublin)
Evolution and Revolution: Science, Progress and Agency in the Works of Anarchist Geographers Reclus, Mečnikov and Kropotkin (1880-1921)

Piotr Laskowski (Uniwersytet Warszawski)
Teaching Autonomy: Schooling as Anarchistic Enterprise

Uffa Jensen (Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin)
Anarchism and the Political Logic of Early Psychoanalysis

Kommentar: Nicole C. Karafyllis (Braunschweig)

4. Panel
Chair: Monica Cioli (DHI Rom)

Martin Niederauer (Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt)
Far more than Politics - On the Aesthetic Chances of Jazz

Daniela Padularosa (Sapienza Università di Roma)
Anti-Art: Dada and Anarchy

Patricia Leighten (Duke University, Durham/NC)
A Politics of Technique: Fauvism and Anarchist Individualism

Marc Antliff (Duke University, Durham/NC)
Individualist Anarchism and 'Joie de vivre': Jacob Epstein's Tomb of Oscar Wilde

Kommentar: David Weir (The Cooper Union, NY)

Diskussion


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