HT 2016: Die gesunde Gesellschaft als Glaubensfrage: Zur Pathologisierung des Sozialen in der Moderne

HT 2016: Die gesunde Gesellschaft als Glaubensfrage: Zur Pathologisierung des Sozialen in der Moderne

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Nina Mackert, Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt

Ob Phänomene wie Armut als soziales oder medizinisches Problem gelten, hat Konsequenzen für den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen und für die Ordnung des Sozialen. Mehr noch, seit dem 19. Jahrhundert ist die Verhandlung der gesellschaftlichen Ordnung untrennbar mit Auseinandersetzungen damit verbunden, was als gesund oder krank und mithin als richtiges oder defizitäres Verhalten gelten kann. Auf dem diesjährigen Historikertag beschäftigte sich die von Yvonne Robel (Hamburg) und Malte Thießen (Oldenburg) geleitete Sektion „Die gesunde Gesellschaft als Glaubensfrage: Zur Pathologisierung des Sozialen in der Moderne“ mit den Zusammenhängen von Gesundheit und gesellschaftlicher Ordnung. Es ging darum, wie Gesundheitskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert dazu beigetragen haben, die Gesellschaft zu ordnen.

Zu einer „Glaubensfrage“ ist Gesundheit in der Moderne deshalb avanciert, argumentierte Thießen in seiner Einführung, weil Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit Streitfragen darstellten, über die die Ordnung des Sozialen mitverhandelt und gestaltet wurde. Was wann und in welcher Hinsicht als krank und gesund galt, hatte mithin Konsequenzen für soziale Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse. Kurz, der Sektion ging es darum, „wie Gesellschaft mit Gesundheitskonzepten gemacht wurde“.

JENS GRÜNDLER (Stuttgart) begann mit einem Vortrag zu den Auseinandersetzungen um „mentally defective“ in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Anhand von Berichten der Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-minded zeigte er erstens, wie unterschiedliche Expert/innen um 1900 versuchten, Zwangsbehandlungen von als „schwachsinnig“ geltenden Personen durchzusetzen. Ihre Bemühungen waren Teil von Diskussionen um die vermeintliche “Degeneration” der britischen „Rasse“ und markierten Menschen als krank, die ein von bürgerlichen Normen abweichendes Leben führten. Diese Pathologisierungsstrategien waren jedoch kontrovers: Wie Gründler zweitens argumentierte, konnten sich Vorschläge wie eine permanente Zwangsunterbringung nicht durchsetzen. Gegner/innen wandten etwa ein, solche Maßnahmen seien zu teuer oder würden den Grundsatz der Unversehrtheit des Individuums verletzen. Auch stand in Frage, welches Verhalten wirklich krankhaft sei. Während es also zwar keinen Konsens um Definitionen und Behandlungen gab, waren solche Pathologisierungen dennoch wirkmächtig. Gründler zeigte drittens am Beispiel „verhaltensauffälliger“ Kinder, wie sich Konzepte von „mental deficiencies“ etwa in den Beschreibungen von Eltern und Lehrkräften zeigten, die immer mehr Schüler_innen mit immer geringeren „Defiziten“ an Sonderschulen verwiesen.

Im Vortrag von BRITTA MARIE SCHENK (Kiel) ging es um die Leistungsvergabe in deutschen Obdachlosenasylen im späten 19. Jahrhundert. Wie sie argumentierte, waren Arbeitsfähigkeit und –willigkeit die Gradmesser, anhand derer nicht nur zwischen Gesundheit und Krankheit, sondern auch über die Legitimität von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen entschieden wurde. Prinzipiell schloss das neue System der Sozialleistungsvergabe diejenigen aus, deren Armut als selbstverschuldet galt. Aber, so Schenks zentrale These, diese Pathologisierung habe auch zu Inklusionspraktiken geführt. Ein städtisches Bürgertum, das sich neue Handlungsfelder erschließen und sich als verantwortlich und human darstellen wollte, nutzte eben diese Pathologisierung, um Stadtverwaltungen davon zu überzeugen, Obdachlose mit Essen zu versorgen. Auf diese Weise, so Schenk, führten prinzipiell exkludierende Diskurse zu einer doppelten Inklusion: Erstens funktionierte die Pathologisierung als „konsensuale Praktik“, der sich letztlich auch die Gegner von Leistungsvergaben an nicht arbeitsfähige Personen anschließen konnten; zweitens wurden letztere inkludiert, indem ihr Überleben durch die Essensvergabe gesichert wurde.

YVONNE ROBEL (Hamburg) behandelte in ihrem Vortrag Auseinandersetzungen um das Nichtstun und auch hier standen Fragen von Arbeitsfähigkeit im Vordergrund. Um 1900 geriet Faulheit im Zusammenhang mit einer zunehmenden Problematisierung von Armut und Arbeitslosigkeit verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit. Dabei wurde das Nichtstun unter unterschiedlichen Begriffen (wie Faulheit, Arbeitsscheue, Müßiggang) in Wohlfahrtspraktiken, sowie juristischen, psychiatrischen und pädagogischen Debatten verhandelt. Während in Diskussionen um „Arbeitsscheue“ prinzipiell soziale Gründe wie Arbeitslosigkeit im Vordergrund standen, zeigten die Auseinandersetzungen um „Faulheit“ deren – durchaus kontroverse – Pathologisierung als Willenskrankheit. Unter anderem am Beispiel der breit rezipierten Schriften der Pädagogen Carl Andrae und Aloys Fischer zeichnete Robel die Deutungskämpfe um den vermeintlich krankhaften Charakter von Faulheit nach. Demnach konzipierte Andrae Faulheit als „Bulasthenie“, als gleichsam ansteckende Krankheit, die sogar noch gefährlicher sei als Neurasthenie – eine Ende des 19. Jahrhunderts epidemisch diagnostizierte „Zvilisationskrankheit“. Im Gegensatz dazu betonte Fischer den nicht-krankhaften Charakter von Faulheit, da diese im Unterschied zu etwa Muskelschwäche oder Tuberkolose nicht angeboren sei und individuell überwunden werden konnte. Solche Erklärungen verlagerten die Verantwortung auf das Individuum. In ihrem Ausblick argumentierte Robel, dass Pathologisierungen nicht zwangsläufig zu härteren Disziplinarmaßnahmen wie Arbeitszwang führten, sondern auch in fürsorgerischen Praktiken resultieren konnten, weil Sie zum Teil mit Annahmen der Schuldlosigkeit einhergingen.

CHRISTOPH LORKE (Münster) ging anschließend Pathologisierungen von Armut und abweichendem Verhalten in den beiden deutschen Staaten nach. Anhand von Verhandlungen armer, kinderreicher Familien zeigte er, wie sich die Pathologisierungsstrategien in den 1960er-Jahren trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Leitbilder glichen. In der BRD rückten zu dieser Zeit kinderreiche Familien in den Fokus medizinischer, juristischer und psychologischer Studien. Dabei knüpften Expert/innen eine Verbindung von Armut und Kinderreichtum: Triebgesteuertheit und ein zu laxer Umgang mit Verhütungsmitteln würden zur hohen Kinderzahl führen, während diese ihrerseits sozialen Aufstieg erschwere. Auf diese Weise fungierte insbesondere Kinderreichtum als Marker für Armut und als Gegensatz eines bürgerlichen Lebens in einer erfolgsorientierten Industriegesellschaft. In DDR-Diskursen konnten kinderreiche Familien zwar auch Projektionsflächen von „Normalbiographien“ darstellen, über die der Staat ein Kollektiv „ordentlicher“ Bürger/innen aufrief. Als sozial randständig markierte kinderreiche Familien aber wurden auch hier über Etikette wie „Dissozialität“ in den Bereich des Pathologischen gerückt. In beiden deutschen Staaten funktionierte die Pathologisierung auch darüber, dass man einen „sozialen Teufelskreis“ diagnostizierte, in dem die vermeintlichen Defizite über Generationen weitergegeben wurden. Mit der Heraufbeschwörung einer so gefährdeten Gesellschaft, so Lorke, war die Pathologisierung abweichenden Verhaltens sowohl in der BRD als auch in der DDR Teil einer „Versicherheitlichung des Sozialen“, in der die „sozialtechnologische Steuerung der Gesellschaft“ angestrebt wurde.

Thießens abschließender Kommentar konzentrierte sich auf Befunde, die die Vorträge zusammengenommen zeigten: Erstens verdeutlichten die Fallstudien die These der engen Verschränkung von Gesundheitsvorstellungen und der Gesellschafsordnung in der Moderne – auf der Mikro- sowie auf der Makroebene. Mit einem Fokus auch auf lokale Akteure treten zweitens, so Thießen, die „Wechselwirkungen zwischen Ebenen und Milieus“ hervor. Es lässt sich also etwa nicht nur zeigen, wie wissenschaftliches Wissen angeeignet und zu Subjektivierungswissen wurde, sondern auch, welche gegenläufigen Wissenstransfers möglich waren, die nicht dem „top down-Prinzip“ entsprachen. Drittens fordert ein solcher Blick auf die „gesunde Gesellschaft“ dazu auf, gängige Periodisierungen zu überdenken und andere Kontinuitäten bzw. Brüche auszumachen. Nicht zuletzt aufgrund der erstaunlichen Beharrungskraft der Verschränkung von Gesundheit und Gesellschaft ist deren Geschichte für Thießen auch eine Geschichte der Gegenwart.

In den sehr schön ineinandergreifenden Vorträgen lag der Fokus also vor allem auf darauf, wie Armut, Obdachlosigkeit und abweichendes Verhalten mit Krankheitsnarrativen verknüpft wurden und mit welchen Konsequenzen diese Pathologisierungen einhergingen. Neben Einzelaspekten dominierten in der Diskussion dann auch Fragen, die eine Klammer zwischen den Vorträgen zogen und von denen zwei hier hervorgehoben werden sollen: Erstens die Frage nach der longue durée, zweitens die nach der Rolle und Konzeption von Körpern. Verhandlungen des gesunden Lebens gehen bis in die Antike zurück. In Bezug auf die Frage, was sich Ende des 19. Jahrhunderts veränderte und der „gesunden Gesellschaft“ eine besondere Qualität verlieh, verwies das Panel vor allem auf Industrialisierung und Urbanisierung, die die Auseinandersetzung mit Fragen von Armut, Arbeit und Freizeit besonders dringlich und intensiv machten. Eine hier zum Ausdruck kommende Leerstelle des Panels, die in der Diskussion angesprochen wurde, war der Körper und dessen Geschichte im (späteren) 19. Jahrhundert. Die im Panel diskutierten Pathologisierungsstrategien setzten am Körper an, die Körper selbst kamen in den Vorträgen überraschenderweise aber kaum vor. Dabei lässt sich die besondere Qualität von Aushandlungen der „gesunden Gesellschaft“ im 20. Jahrhundert und damit auch die Frage des historischen Wandels nicht ohne die zentrale Rolle verstehen, die der Durchdringung und Formbarkeit des menschlichen Körpers seit dem 19. Jahrhundert zugewiesen wurde – und dies war ja auch eine der Thesen, die dem Panel zugrunde lagen. Durch eine stärkere Berücksichtigung dezidiert körpergeschichtlicher Fragen in einzelnen Vorträgen hätte Pathologisierung stärker als etwas hervortreten können, das über Körper funktionierte und regiert wurde. Nichtsdestotrotz hat dieses sehr anregende Panel verdeutlicht, wie produktiv ein kultur- und sozialgeschichtlicher Blick auf Aushandlungen von Gesundheit sein kann. Gerade, wenn der Fokus auf den Konsequenzen von Pathologisierung liegt, zeigt sich, dass diese nicht einfach in disziplinarischen Praktiken resultierte, sondern unterschiedlich angeeignet und auch zurückgewiesen werden konnten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Yvonne Robel (Hamburg) / Malte Thießen (Oldenburg)

Malte Thießen (Oldenburg): Einführung und Kommentar

Jens Gründler (Stuttgart): Pathologisierungskonflikte. Britische Experten und Verwaltungspraktiker in der Auseinandersetzung um »mentally defective« und ihre Behandlung

Britta Marie Schenk (Kiel): Pathologisierte Inklusion. Obdachlosenasyle im späten 19. Jahrhundert

Yvonne Robel (Hamburg): Pathologisches Nichtstun? Die öffentliche Aufmerksamkeit für »Faule« und »Müßiggänger« zwischen 1900 und 1930

Christoph Lorke (Münster): Sozialer Deutungsglaube in Demokratie und Diktatur. Armut und Pathologisierungsdispositive nach 1945


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