Auf dem Weg zur Entgrenzung des Städtischen? Zur Transformation urbaner Öffentlichkeiten durch Medien und Kommunikationssysteme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Auf dem Weg zur Entgrenzung des Städtischen? Zur Transformation urbaner Öffentlichkeiten durch Medien und Kommunikationssysteme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Prof. Dr. Adelheid von Saldern (Universität Hannover)
Ort
Loccum
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2004 - 21.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Classen, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ein wenig paradox war es schon: Während die international und interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Forschern und Stadtplanern engagiert über die rasanten Entwicklungen urbaner Zentren im späten 20. Jahrhundert diskutierte, schweifte der Blick immer wieder aus den Fenstern der Loccumer Akademie auf das Panorama des mittelalterlichen Zisterzienserklosters in der ländlichen Abgeschiedenheit der niedersächsischen Provinz, das sich vor 500 Jahren vermutlich nicht viel anders dargeboten hat. Doch die Abwesenheit jeglichen urbanen Ambientes und der damit verbundenen Ablenkungen war gewiss kein Nachteil für die von Adelheid von Saldern (Hannover) veranstaltete Tagung, die sich in zweifacher Weise ein ambitioniertes Ziel gesetzt hatte: Zum einen thematisch, denn die Frage nach der Veränderung und Transformation urbaner Zentren durch technische Innovationen und sozialen Wandel entzieht sich einfachen Zugriffen und eindeutigen Charakterisierungen; zum anderen leistete die Tagung auch im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum Pionierarbeit, denn der Fokus lag auf den 1970er Jahren und damit auf einem Zeitraum, der aus zeitgeschichtlicher Perspektive bisher noch kaum bearbeitet worden ist.

In ihrem Eröffnungsvortrag skizzierte von Saldern das Forschungsfeld im Hinblick auf die zentrale Begrifflichkeit und Zäsurensetzung. Der Begriff der "Entgrenzung" zielt vor allem auf Prozesse der Suburbanisierung respektive eine "Urbanisierung der Gesamtgesellschaft" und auf den Bedeutungsverlust sozialräumlicher Bindungen im Zuge der Globalisierung. Als wichtigsten Katalysator dieser Entwicklung kennzeichnete sie die Prozesse der Medialisierung sowie der rasant gewachsenen räumlichen Mobilität. Allerdings seien auch diverse gegenläufige Entwicklungen zu beobachten, z.B. der verstärkte Bezug auf städtische Identitätsangebote als Reaktion auf den Verlust traditioneller Bindungen und Grenzen. Die 70er Jahre erscheinen vor diesem Hintergrund als eine Art Sattelzeit, weil sich hier zahlreiche Faktoren der Transformation bündeln, die, so von Saldern, diesen Zeitraum deutlich von dem vorausgehenden und dem nachfolgenden Jahrzehnt unterscheiden. Neben der beschleunigten Medialisierung zeichneten sich hier erstmals deutlich die ökonomischen und ökologischen Probleme der Industriegesellschaften ab, die Arbeitsmigration manifestierte sich nun spürbar in den Innenstädten und auf die Aufbrüche im Bereich von Partizipation und Protest folgte die Wiederentdeckung der "Alten Stadt". Um diese vielfältigen, sich überlagernden Prozesse angemessen abzubilden, bedürfe es wahrnehmungs-, erfahrungs- und handlungsorientierter analytischer Zugriffe.

Diese Programmatik einer kulturgeschichtlich reflektierten Annäherung an die Entwicklung der Städte wurde - soviel vorweg - im Folgenden vielfach eingelöst. In sechs Sektionen zu den Themen Verkehr, Identitätspolitik und Partizipation, Feiern, Medien, Suburbanisierung und der Stadt als Erfahrungsraum sowie einer Podiumsdiskussion zum Thema "Die europäische Stadt - Eine Chimäre?" entstand ein facettenreiches Bild der urbanen Entwicklungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.1 Insgesamt eine Bestätigung erfuhr dabei zunächst die vorgeschlagene Zäsur Mitte der 70er Jahre. Zu dieser Zeit begannen etwa die ersten Überlegungen zur Begrenzung des Autoverkehrs, dessen anscheinend unaufhaltsamer Anstieg zuvor die städtebaulichen Gesamtkonzepte konterkariert bzw. dominiert habe, wie Barbara Schmucki (York) in ihrer diachron angelegten Analyse städtischer Verkehrspolitik deutlich machte. Als eigentliche Revolution charakterisierte sie allerdings die Transformation des öffentlichen Stadtraums von einem Ort der Sesshaftigkeit zu einem Ort der Bewegung und zu einem Ziel im Zuge der Massenmobilisierung in den vorangegangenen Jahrzehnten. Aber auch im Bereich der kommunalen Kommunikations- und Imagepolitik (Lu Seegers, Gießen), des Rückbezugs auf städtische Identität und Traditionen (Georg Wagner-Kyora, Hannover), bürgerschaftlicher Partizipationsansprüche (Roland Roth, Magdeburg) sowie der Entstehung einer neuen Event - und Festkultur (Gottfried Korff, Tübingen) zeichneten sich im Laufe dieses Jahrzehnts deutliche Veränderungen ab. Werner Plumpe (Frankfurt/M.) brachte den Charakter der 70er Jahre als Umbruchsjahrzehnt auf den Punkt, in dem sich das Scheitern der optimistischen technokratischen Steuerungs- und Planungsmodelle erwiesen habe, ohne dass es danach noch eine Rückkehr zu älteren Entwürfen oder überhaupt zu geschlossenen Konzeptionen gegeben habe. Kennzeichnend für die folgende Zeit sei viel eher eine "neue Unübersichtlichkeit", ein Nebeneinander oder eine Überlagerung von sich z.T. widersprechenden Entwicklungen und Konzepten. Gleichwohl artikulierten einige Teilnehmer auch Relativierungen: Antony McElliglott (Limerick) verwies darauf, dass die Vorgeschichte zahlreicher der angesprochenen Entwicklungen bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreiche. Der Transformationsbegriff wirke zumindest dann eher verunklarend, wenn er nicht auf einen konkreten Gegenstand und einen Anfangs- und Endpunkt bezogen sei. Und Inge Marßolek (Bremen) stellte in ihrem Schlusskommentar die plausible Frage, ob man die 70er Jahre nicht auch als Inkubationszeit der beschleunigten Entwicklungen der 80er und 90er Jahre betrachten könne.

Aber während solche Einwände gegen jede Periodisierung erhoben werden können, gab es andere Punkte, um die engagiert gestritten wurde. Das betraf insbesondere die Frage, ob es tatsächlich so etwas wie einen europäischen Stadttypus gebe und wodurch er sich auszeichne. Während ein Teil der Teilnehmer wie Susan Zimmermann (Budapest) dies im Hinblick auf die jeweilige Spezifik nationaler, regionaler und lokaler Faktoren und Traditionen zurückwies und dahinter eher den Versuch vermutete, nun auch im Bereich der Stadtgeschichte an dem Konstrukt einer "europäischen Identität" mitzustricken, glaubten andere, wie Robert Morris (Edinburgh) durchaus, einen gemeinsamen Set von spezifischen Faktoren ausmachen zu können, die in ihrer Summe einen übernationalen, dabei im Vergleich zu anderen Kontinenten deutlich unterschiedlichen Typus konstituieren würden. Verortet wurden diese Besonderheiten insbesondere in ihrer Geschichte und deren Präsenz in der Gegenwart sowie im Bereich der politischen Kultur.

Mehr Einigkeit herrschte bei der Frage nach Entgrenzung versus Rückgewinnung von Zentralität. So deuteten zahlreiche Vorträge an, dass sich diese Polarität kaum aufrechterhalten lässt. Zum einen handelt es sich bei der Suburbanisierung um einen lang anhaltenden Trend, der parallel zur Ausprägung von Massenmobilität und -konsum verläuft, und der bis heute anhält. Zugleich scheinen regionale und lokale Faktoren für die Städte nach wie vor mindestens ebenso wichtig wie globale Entwicklungen; jedenfalls legte Richard Roger (Leicester) diesen Schluss anhand einer Untersuchung zu der sehr uneinheitlichen Entwicklung von Hauspreisen in England nahe. Auf der anderen Seite fiel auf, dass mehrere Referenten den inszenatorischen oder retortenhaften Charakter der innerstädtischen Entwicklungen der letzten 25 Jahre hervorhoben - und dies keineswegs nur in den Bereichen, wo man dies erwartet, also einer professionalisierten städtischen Imagepolitik oder der Ausbildung einer Eventkultur. So führte Martina Heßler (Aachen) am Beispiel des Siemens-Standortes Neuperlach aus, dass es sich hier nicht eigentlich um eine Reintegration von Wissenschaft in die Stadt handelt, sondern um die Inszenierung eines urbanen Flairs, mit dem Ziel, dadurch Kreativität und Synergieeffekte zu erzielen. Der Begriff "Stadt" sei hier nur mehr eine Metapher. In ähnlicher Weise charakterisierte Wagner-Kyora die Debatten um die Rekonstruktion kriegszerstörter Rathäuser in Dortmund und Braunschweig zwischen 1975 und 1991 als "nostalgisch-postmodern". Von besonderem Interesse waren in diesem Zusammenhang die Reflexionen des Oldenburger Soziologen Walter Siebel über die Mall als vergleichsweise neuer Form städtischer Raumgestaltung, die sich rasch ausgebreitet hat und den öffentlichen Raum zunehmend zum Verschwinden bringt. Ein wesentliches Moment für den Erfolg sieht Siebel in der Schaffung eines quasi-privaten, vermeintlich sicheren Raumes, der die Risiken des öffentlichen Raumes mit seinen Kontingenzen und Interessengegensätzen ausschließt und dem Kunden dadurch das Gefühl von Souveränität vermittelt. Zugleich ergebe sich aus den durchgeplanten und inszenierten Räumen allerdings potentiell das Defizit fehlender Innovationsfähigkeit und Kreativität. Offenkundig werden damit jedoch gesellschaftlich verbreitete Bedürfnisse bedient. Ähnlich gelagert ist freilich auch die Entwicklung im Bereich der städtischen Festkultur. Neben der zunehmenden Geschichtszuwendung konstatierte Gottfried Korff für die beiden folgenden Jahrzehnte wachsende Kommerzialisierung und das Bedürfnis nach lifestylebezogener ästhetischer Distinktion als prägende Faktoren öffentlich zelebrierter Kultur. Erklären könne man diese Entwicklung, so Korff, zum einen mit veränderten Voraussetzungen im Bereich von Konsum, Bildung und Freizeit, zum anderen mit sich wandelnden sozialen Bedürfnissen, die auf Selbstvergewisserung und Bewältigung in der Moderne hinauslaufen würden.

Während sich auf diesem Feld einige Konturen abzeichneten, blieben die Blicke auf die Stadt als Erfahrungsraum und die Rolle der Medien noch recht unscharf. Zwar beleuchtete Detlef Siegfried (Hamburg/Kopenhagen) die jugendliche Protestkultur der 70er Jahre als ursächlich städtische Entwicklung, die dann auf die Provinz übergegriffen habe und Barbara Zibell (Hannover) zog eine skeptische Bilanz frauenorientierter Stadtplanung, aber damit war das Forschungsfeld noch kaum konturiert. Immerhin stellte Axel Schildt (Hamburg) ein Projekt zum suburbanen Raum am Beispiel des Hamburger Umlandes vor, das die Kategorie der Erfahrung in den Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses stellt.

Die Sektion zu den Medien litt vor allem an der Unvereinbarkeit der beiden Ansätze. Während der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell (Siegen) in seinem Paper das Verschwinden des Stadtromans als Indiz für das Ende der Stadt als gemeinsamer Diskurs- und Erfahrungsraum nahm, konstatierten Gregor Hassemer und Günther Rager (Dortmund) in ihrem Diskussionsbeitrag auf Basis von Mediennutzungsdaten eine ungebrochene Attraktivität der Lokalmedien und interpretierten diese nicht nur als Bestätigung für die anhaltende Bedeutung lokaler Lebenszusammenhänge, sondern auch für die identitätsstiftende und integrierende Wirkung lokaler Medien. Elisabeth Klaus (Salzburg) wies in ihrem Kommentar insbesondere darauf hin, dass beide Papiere im Hinblick auf die sozialen Träger und die konkreten Räume diffus blieben und forderte eine stärkere Verschränkung von kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Für zukünftige Untersuchungen könnte demzufolge die Betrachtung städtischer Teilöffentlichkeiten in ihren jeweiligen Zuschnitten, Überlagerungen und Abschottungen und die Untersuchung der Mediennutzung konkreter sozialer Gruppen ein viel versprechendes Forschungsfeld darstellen.

Wie bei einer solchen "Pionierleistung" nicht anders zu erwarten, blieben am Ende zahlreiche Leerstellen und manche offene Frage. Vor allem bei der jüngeren Generation war zudem eine gewisse Irritation über die Persistenz normativer Ansätze einiger älterer Teilnehmer unübersehbar, die mehr oder minder direkt aus dem Untersuchungszeitraum übernommen worden zu sein schienen. Inge Marßolek und Eve Rosenhaft (Liverpool) verwiesen in ihren Schlusskommentaren u.a. auf wichtige Leerstellen in den Bereichen Inklusion und Exklusion, der Bedeutung des demographischen Alterungsprozesses sowie der Unsicherheits- und Kriminalitätsproblematik, die Gegenstand zukünftiger Forschungen sein müsse. Schon zuvor hatte Werner Plumpe davor gewarnt, die Bedeutung ökonomischer Faktoren für Raumbildungsprozesse zu unterschätzen und Jörg Calließ (Loccum) hatte auf den zentralen Stellenwert von Migranten mit ihrer Tendenz zu abgeschotteter Kommunikation hingewiesen, der jeden empathischen Bezug auf die "europäische Stadt" ad absurdum führe. Zudem wurde klar, dass die Akteure und die konkreten Räume deutlich stärker als bisher konturiert werden müssen und Vorstellungen von der Stadt als einheitlichem Objekt wenig hilfreich sind. Von Saldern als Organisatorin der Tagung schlug daher vor, zukünftig die dauernde Produktion von Raum in ihren sozialen, ökonomischen und medialen Dimensionen zu untersuchen. So konnte man mit dem beruhigenden Gefühl nach Hause fahren, dass es auf diesem Feld zwar noch viel zu tun gibt, jetzt aber sehr viel klarer ist, wo man damit anfangen muss.

Anmerkungen:
1 Im Folgenden soll auf eine erschöpfende Würdigung der einzelnen Vorträge verzichtet werden und stattdessen eine Skizze einiger zentraler Aspekte versucht werden, die dem Autor besonders hervorhebenswert erscheinen.


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