HT 2016: Rhetorik der Gewissheit – dynamisches Wissen. Glaubensfragen in der Vormoderne

HT 2016: Rhetorik der Gewissheit – dynamisches Wissen. Glaubensfragen in der Vormoderne

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Miriam Czock, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Im Mittelpunkt dieser überaus anschlussfähigen epochenübergreifenden Sektion standen die in Glaubensfragen eng zusammenhängenden Felder ‚Wissen’ und ‚religiöse Orthodoxie’. Wissen und Orthodoxie sind zwei Bereiche, die in der Vormoderne rhetorisch häufig mit Gewissheiten verbunden wurden: Jeweils für sich genommen werden sie als konstant, stabil, grundsätzlich gültig und klar abgrenzbar gegen das Nicht-Wissen bzw. die Häresie dargestellt. Dieser Rhetorik folgen geschichtswissenschaftliche Narrative, wenn sie ewige Gewissheit als Kennzeichen der Vormoderne begreifen und in ihrem Brüchigwerden und Verschwinden Charakteristika der Moderne erkennen. Die Sektionsleiterinnen RENATE DÜRR (Tübingen) und IRENE VAN RENSWOUDE (Den Haag/Utrecht) forderten jedoch dazu auf, Wissen und damit einhergehend religiöse Orthodoxie bereits für die Vormoderne konsequenter als bislang geschehen als aus komplexen Denkprozessen hervorgehende dynamische Kategorien in einem stabilen System, sei es kodifiziert oder immanent, aufzufassen. Konzeptionell wurde also davon ausgegangen, dass Wissen und Orthodoxie zwar rhetorisch als Gewissheiten konzipiert waren, sie jedoch gleichzeitig Instabilität bzw. Vorläufigkeit in sich trugen. Es ging also um einen Bereich des Wissens, für den Martin Mulsow den Begriff des „prekären Wissens“ geprägt hat. Um die Dynamik des Wissens, also seinen prekären Status im Rahmen von Glaubensfragen, aufzudecken, wandte sich die Sektion der Untersuchung einer „Grauzone“ zu: dem apokryphem Wissen.

Die Sektion setzte zwei zeitliche Schwerpunkte: die karolingische Zeit und das 17./18. Jahrhundert. Dabei wurde der Anspruch verfolgt, nicht einfach nur Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten auszuloten, vielmehr wurde verdeutlicht, dass eine durch die Rhetorik der Gewissheit verschleierte Dynamik des Wissens nicht das Kennzeichen einer bestimmten Epoche, sondern grundsätzlich eine Facette von Wissen ist. Gleichzeitig wurden durch den Bezug auf die zeitlichen Ränder der Vormoderne deren Eigenlogiken beleuchtet: Das Frühmittelalter als Epoche einer ersten Konzeption von Orthodoxie und die Frühe Neuzeit als Periode, in der das System an seine Grenzen stieß.

Den Anfang der chronologisch aufeinander folgenden Vorträge machte IRENE VAN RENSWOUDE. Sie setzte sich mit der Rezeption des Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis vom 6. bis in das 15. Jahrhundert auseinander. Das Decretum ist eine Liste von kanonischen und apokryphen Büchern, die rhetorisch ein Leseverbot für die apokryphen Bücher forderte. Ein einfaches Verbot setzte sich im Frühmittelalter jedoch nicht durch; vielmehr wurde die Liste als Richtlinie verstanden, die Interpretationsspielraum ließ. Dafür sprächen Interpolationen, besonders aber die Kommentare und Glossierungen an der Liste. Hier fänden sich neben dem Leseverbot auch Kommentare, die eine Rezeption zuließen. Allerdings scheine die Rezeption der apokryphen Texte kritische Reflexion verlangt zu haben, so wurde das Vorwissen eine Bedingung für den Umgang mit den Texten. Die Auswertung Renswoudes zeigte, dass es im Frühmittelalter eine große Bandbreite dessen gab, was gelesen werden durfte. Erst als sich die Leserschaft nicht mehr weitgehend aus gelehrten Mönchen zusammensetze, wurden die Verbote strikter gehandhabt.

Die Offenheit des karolingischen Diskurses beschäftigte auch CARINE VAN RHIJN (Utrecht). Ihr Augenmerk lag allerdings auf einem ganz anderen Textgenre, nämlich prognostischen Texten, die, aus dem Altertum stammend, in karolingischer Zeit häufiger Abschrift erfuhren. In Manuskripten wurden diese prognostischen Texte häufig mit komputistischen und medizinischen Texten zusammengebunden, was dafür spreche, dass sie als Teil eines Wissensregimes zu betrachten seien. Im Widerspruch zu den Abschriften stehe die wiederholte Ablehnung von Aberglauben und Magie im reformerischen Diskurs. Bislang habe man in Berufung auf die Kritik an prognostischen Verfahren die Gattung daher als außerhalb der religiösen Sphäre stehend verstanden. So fragte die Forschung des 19. Jahrhunderts sogar, ob die Abschriften von clandestin paganen Mönchen verfasst wurden. Nach van Rhijn greift dieser Erklärungsversuch allerdings nicht, vielmehr müssten die Schriften als ein Teil der religiösen Kultur des Frühmittelalters verstanden werden, die einen breiten und experimentellen Diskurs der intellektuellen Wissensaneignung pflegte, in den auch die Prognostik eingebunden war. Eine Verengung fand erst im 11. Jahrhundert statt, von da an wurden an den Texten Glossierungen angebracht, die eine deutliche Zurückweisung der Textinhalte enthalten.

Während die beiden Vorträge zu den frühmittelalterlichen Themen den Fokus auf den Diskurs gelegt hatten, beleuchteten die Beiträge zur Frühen Neuzeit die Akteursperspektive. So ging MARTIN MULSOW (Gotha) von der Prämisse aus, dass theologiegeschichtliche Rückblicke meistens aus der orthodoxen Perspektive geschrieben werden und damit Verwerfungen unausgeleuchtet bleiben. In der Akteursperspektive erscheine jedoch, was theologiegeschichtlich als wahre Lehre feststeht, häufiger als Experimentierfeld oder durch die „Brille des Abweichlers“. Ein Beispiel hierfür sei Johann Georg Wachter, der als Lutheraner erzogen, sich seit 1698 mit der Kabbala und dem Spinozismus auseinandersetze. Sein Denken kreiste dabei immer wieder um die Tradition des Offenbarungswissens. Zum Thema wurde auch die begrifflich als „doctrina catholica“ gefasste Lehre der Väter vor dem Konzil von Nicäa und damit Überlegungen zur Logostheologie und Trinitätslehre. Wachters sich im Rahmen der Vermittlungsposition der anglikanischen Kirche bewegende Gedanken waren für kurze Zeit an seinem Wirkungsort, dem Brandenburger Hof, politisch anschlussfähig. Das Scheitern der Verhandlungen des Brandenburger Hofs mit der anglikanischen Kirche markierte gleichzeitig das Scheitern von Wachters Theorien. Hier spiegele sich deutlich der prekäre Status von Wissen in Glaubensfragen und in Wachters weiterem Vorgehen, möglichweise auch sein Bewusstsein dafür. So produzierte er z.B. seine Schrift Theologica Martyrium von 1712 nur noch „für die Schublade“.

Während Mulsow ausleuchtete, wie ein Gelehrter durch seine Auseinandersetzung mit Dogmen von der Orthodoxie zu heterodoxen Ideen kam, beschäftigte sich ERIK JORINK (Den Haag) mit Willem Goeree (1635-1711), der ebenso ein Exponent prekären Wissens war, allerdings ein ganz anderes Anliegen als Wachter hatte: Er wollte einer breiten Öffentlichkeit der niederländischen Republik die Wahrheit der biblischen Geschichte in Bildern nahebringen. Dabei entstand ein Text, der auf über 1.000 Seiten jedes Detail der Bibel bebilderte und diskutierte. Die Beschäftigung mit der Frage, wie biblische Geschichte zu visualisieren sei, ging mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Textsinn einher, die Goeree ungewollt in die Nähe von Spinoza rückte; stellte seine literale Auslegung doch die Logik des biblischen Texts in Frage. So erschien es ihm beispielsweise kaum erklärlich, wie die Arche Noah in einer Nacht gebaut werden konnte. Seine literale Auslegung der Bibel nötigte Goeree, um solche und ähnliche Fragen zu beantworten, daher öfter dazu, seine Aussagen zu rationalisieren, indem er betonte, dass die Bibel nur in ihrem historischen Kontext valide sei. Obwohl er mit seinem Unterfangen gerade der Orthodoxie Vorschub leisten wollte, glitten seine Überlegungen so in die Heterodoxie ab.

Auch der letzte Vortrag beschäftigte sich mit einer Auseinandersetzung mit der biblischen Geschichte, jedoch unter anderen Vorzeichen als ihrer Visualisierung. So beleuchtete RENATE DÜRR die chronologischen Überlegungen des Grazer Jesuiten Joseph Stöcklein zur chinesischen Annalistik und biblischer Zeitrechnung aus dem Neue Welt=Bott von 1729. Der christliche Universalismus musste sich in der Frühen Neuzeit mit dem zunehmenden Wissen über die Geschichte anderer Völker, wie zum Beispiel China, auseinandersetzen. Gleichzeitig sollte das neuerworbene Wissen in die christliche Welterklärung integriert werden. Stöckleins Chronologie sei ein solcher Versuch der Integration. Stöcklein war bemüht, die Erkenntnisse über die chinesische Geschichte mit dem Wissen über die biblische Chronologie in Einklang zu bringen. Da sich aus seiner Sicht die chinesische Chronologie ausgehend von einer Sonnenfinsternis von 1706 empirisch beweisen ließ, konnte die chinesische Geschichte chronologisch gesehen Pate für die biblische Überlieferung stehen. In seiner Beweisführung lege letztlich die chinesische Geschichte somit Zeugnis über die Richtigkeit der Heilsgeschichte ab, womit auch sein Zugang als heterodox zu bewerten sei.

Die Diskussion im Anschluss an jeden Vortrag nahm zwar auch spezifische Facetten in den Blick, wie ein roter Faden zog sich jedoch die Frage nach der Rezeption des Wissens durch sie hindurch. Während in den Vorträgen also Wissen und seine Dynamik eher in diskursiver oder epistemischer Hinsicht untersucht und damit die Uneindeutigkeit, Flexibilität und Komplexität von Wissen selbst in den Vordergrund gestellt wurden, zielten die Fragen eher darauf ab, ob und wie Wissen institutionalisiert wurde und welchen Status es in der Gesellschaft hatte. Rezeptionsspuren sind aber in allen vorgestellten Fällen nur schwerlich nachzuverfolgen. Damit stellt sich das Wissen über die historischen Bedingungen der Rezeption derzeit ebenso lückenhaft wie vielfach schwer zu ermitteln dar. Dennoch hat die Diskussion gezeigt, dass es nahe liegt, intensiver über das Verhältnis von Dynamik von Wissen in Glaubensfragen und der Reichweite seiner Zirkulation nachzudenken. Es gilt also mitunter, die gesellschaftlichen Aushandlungs- und Verwertungsprozesse von „prekärem Wissen“ in Glaubensfragen stärker in den Blick nehmen.

Die Beschränkung auf zwei „Randzeiten“ der Vormoderne war im Rahmen einer Sektion sinnvoll. In den dadurch gebliebenen Leerstellen ergeben sich weitere Untersuchungsfelder, denn das hier präsentierte Konzept hält großes Analysepotential ganz allgemein für die Betrachtung des Zusammenhangs von Wissen, Glaubensfragen und rhetorisch beschworener Gewissheit bereit. Gerade wenn man nicht dem Modernisierungsparadigma das Wort reden will, wäre eine Erforschung des „prekären Wissens“ der Moderne anzustreben. Aber auch andere Zeiten, in denen Wissen einer erhöhten Dynamisierung unterlag, sollten weitere lohnende Felder bieten. Zum Beispiel würde die Auseinandersetzung mit Denkern wie Abaelard und Meister Eckhart sicherlich von dieser Perspektive profitieren können. Hier ließe sich wohl auch der Zusammenhang von prekärem Wissen beziehungsweise der Dynamik des Wissens und seinen Rezeptionsbedingungen sowie schließlich die Bedeutung der Generierung von religiösen Gewissheiten näher ausleuchten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Irene van Renswoude (Den Haag) / Renate Dürr (Tübingen)

Irene van Renswoude (Den Haag): What Not to Read. Lists of »Suspicious« Books Before the Index (500–1500)

Carine van Rhijn (Utrecht): »A Good Day to Move your Bees«. Early Medieval Prognostic Texts Between Fabula and Pastoral Care

Martin Mulsow (Gotha): Unter der Oberfläche der Gewissheit: »katholische« Lehre um 1700

Eric Jorink (Den Haag): The Ark and the Temple. Visualizing Biblical Constructions in the Dutch Republic (17th century)

Renate Dürr (Tübingen): War Adam ein Chinese? Heterodoxie im christlichen Universalismus jesuitischer Weltchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts


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