HT 2016: „Koloniale Gewalt, manichäische Welt“: Frantz Fanon, Hugo G. Olsson und die postkoloniale Gewaltgeschichte der Gegenwart

HT 2016: „Koloniale Gewalt, manichäische Welt“: Frantz Fanon, Hugo G. Olsson und die postkoloniale Gewaltgeschichte der Gegenwart

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2016 - 23.09.2016
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Von
Timo Bonengel, Historisches Seminar, Universität Erfurt

„Die nackte Dekolonisation läßt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen.“1 So beschreibt der französische Philosoph und Psychiater Frantz Fanon in seinem 1961 erschienenen Buch „Die Verdammten dieser Erde“ das Verhältnis von Gewalt und Entkolonisierungsprozessen. Das Werk inspirierte den schwedischen Filmemacher Göran Hugo Olsson dazu, Fanons Text über koloniale Machtstrukturen als Folie zu verwenden, um Archivaufnahmen von verschiedenen afrikanischen Befreiungsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre analytisch zu rahmen. 2014 erschien Olssons Dokumentarfilm „Concerning Violence: Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defense“, der nach dem ersten Kapitel aus Fanons Werk benannt ist („Concerning Violence“, auf Deutsch „Von der Gewalt“). Diesen mehrfach ausgezeichneten Film nahm die von Barbara Lüthi und Jürgen Martschukat organisierte Sektion unter Beteiligung von Andreas Eckert als Ausgangspunkt, um verschiedene Aspekte postkolonialer Gewalterfahrungen zu diskutieren. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit die Relektüre Fanons HistorikerInnen einen analytischen Zugang zur Beschreibung (post-)kolonialer Machtverhältnisse bieten kann.

In seiner Anmoderation skizzierte JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) die historische Entwicklung der Fanon-Rezeption: In den von linken Bewegungen geprägten 1960er-Jahren sei dessen Ausführungen rege Aufmerksamkeit zuteil geworden – in den 1970er-Jahren, begleitet von Linksterrorismus, habe dieser Trend begonnen, sich umzukehren. Erst als der Postkolonialismus Konjunktur hatte, sei Fanon dann wieder vermehrt gelesen, schließlich sogar zu einem Vordenker stilisiert worden. Vor dem Hintergrund des gesteigerten Interesses an Fanons Schaffen wolle man sich nun „von Olsson inspirieren lassen“ und ähnlich wie dieser mit Fanon auf „postkoloniale Konstellationen“ blicken, die von Gewalt und Rassismus geprägt seien.

Olsson unterlegt in seinem Film Zitate aus Fanons Text mit Archivaufnahmen des schwedischen Fernsehens, wobei der Text stets das strukturierende Moment für die Bilder bleibt. Gelesen von der US-amerikanischen Hip-Hop-Künstlerin Lauryn Hill werden Fanons Worte in Kombination mit dem Bildmaterial zu einer scheinbar universal gültigen, stets treffenden Analyse von Kolonialismus und Entkolonisierungsprozessen erweitert. Einen solchen allgemeingültigen Deutungsanspruch erhält Fanons Werk durch die passgenaue Parallelmontage von Text und Bild: Für alle von Fanon beschriebenen Konstellationen, Machtverhältnisse und Widerständigkeiten findet Olsson Archivbilder, die eine Deckungsgleichheit von (filmischer) Realität und Fanons Worten suggerieren, als hätte letzterer seine Analyse auf Grundlage der Bilder verfasst. Durch diesen Bruch gelingt es Olsson, Fanons Werk zu „entzeitlichen“. So argumentiert Olsson, gewissermaßen durch die Augen Fanons, dass koloniale Gesellschaften sich durch eine strikte Unterteilung auszeichneten, „die koloniale Welt […] eine in Abteile getrennte Welt“2 sei und diese Trennung durch „Kasernen und Polizeiposten markiert“3 werde. Die so von Fanon beschriebene Entmenschlichung von Kolonisierten durch Gewalt und Rassismus illustriert Olsson beispielsweise mit Bildern eines Arbeiterstreiks in Liberia 1966, in dessen Folge das schwedische Unternehmen Anführer des Streiks entließ, zusammen mit ihren Familien aus deren Häusern warf und schließlich mit Lastwagen im Nirgendwo aussetzte.

Fanon kam 1961 zu dem Schluss, dass das Paradigma kolonialer Gewalt, das den Kolonisierten aufgezwungen wurde, das einzige Mittel für deren Selbstermächtigung, Subjektwerdung und damit die Entkolonisierung darstelle. Hierzu montiert Olsson dann etwa Bilder von Kämpfen zwischen der FRELIMO-Befreiungsbewegung in Mosambik und kolonialen portugiesischen Soldaten, die Verwundete und Tote auf beiden Seiten zeigen. Letztlich, so Fanon in Olssons Darstellung, habe sich Europa so weit entzivilisiert, dass es nun an den afrikanischen Nationen sei, ihre eigenen Visionen in Abgrenzung zu europäischen Vorstellungen zu verwirklichen und „einen neuen Menschen“ zu erschaffen.

Im Anschluss an die Vorführung argumentierte ANDREAS ECKERT (Berlin), zunächst an die Anmoderation anknüpfend, die Rezeption von Fanons „Verdammten“ habe maßgeblich aufgrund des Vorwortes von Sartre stattgefunden. Zudem seien seine Werke vor allem in Europa gelesen worden, weniger in Afrika selbst, wo Gewalterfahrungen viel unmittelbarer gewesen seien. Eckert zufolge scheint sich also das Interesse an Fanons Schriften aus einer gewissen Distanz zu deren Gegenstand zu speisen. Außerdem sei Fanon als analytischer Rahmen weder für die Beschreibung des kolonialen noch des postkolonialen Afrika geeignet und zwar aus zwei Gründen: Erstens stelle Fanon die Kolonisierten als homogene Gruppe dar. So fehle etwa eine Beschreibung der Eliten innerhalb der kolonisierten Bevölkerungsgruppen und ihrer späteren Rolle im Übergang zur Entkolonisierung. Daran anschließend machte Eckert zweitens eine generelle Engführung in Fanons Texten als Hindernis für eine fruchtbare Analyse (post)kolonialer Gesellschaften aus: Deren Realitäten hätten sich weit ambivalenter gestaltet als dies in seinen Werken erscheine. Deshalb sei Fanon zwar nicht als Analyseinstrument, wohl aber als Gegenstand historischer Forschung zum postkolonialen Afrika geeignet. Zudem müssten seine Texte stärker an ihren historischen Entstehungskontext gekoppelt werden, also vor allem an Fanons Rolle im algerischen Unabhängigkeitskrieg.

BARBARA LÜTHI (Köln) stimmte Eckert zu, dass Fanon wenig Platz für Ambivalenzen lasse, insbesondere bei der Darstellung der kolonisierten Bevölkerung. Daher betonte auch Lüthi, Fanon sei „nicht unbedingt hilfreich für eine Analyse konkreter historischer Konstellationen“. Wohl aber könne Fanon helfen, den Blick zu schärfen für die „epistemische Dimension kolonialer und postkolonialer Gewalteinwirkung“. Fanon beschreibe, wie sich solche rassistischen Wahrnehmungs- und Unterdrückungsmuster auch nach dem Ende des Kolonialismus fortsetzten, welche so strukturelle Bedingungen von Rassismus und deren historische Entwicklung in den Fokus rücken können. So machte Lüthi am Beispiel globaler Migration deutlich, dass in postkolonialen Kontexten subtilere Formen von Gewalt und Rassismus vorherrschten, diese jedoch an koloniale Denkweisen anknüpften. In Migrationsdebatten käme inzwischen kulturellem Rassismus eine zentrale Rolle zu, der eben über vorgeblich nicht zu überwindende kulturelle Differenzen zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ argumentiere, statt über biologistische Muster. Solche Vorstellungen würden dann oft an Konzepte von citizenship und die Frage geknüpft, wem eine Zugehörigkeit zugeschrieben würde – und wem sie verweigert bliebe.

Auch die Aushandlung der Rolle der Frau bzw. deren Vereinnahmung in kulturrassistischen Diskursen thematisierte Lüthi: So würden Frauen beispielsweise in gegenwärtigen Debatten um die Verschleierung oft als Objekte dargestellt, die es vor dem „Fremden“ zu verteidigen gelte. Hier sah Lüthi einen weiteren Anknüpfungspunkt an Fanon, der bereits 1959 vor dem Hintergrund des Algerienkriegs angeprangert habe, dass Kolonialisten sich als Beschützer muslimischer Frauen inszenierten. So zeigte Lüthi – auch wenn die Beispiele unterschiedlichen historischen Zusammenhängen entstammen –, dass es mit Fanon möglich ist, einen (allerdings begrenzten) Blick auf die Verschränkung von Geschlecht und race zu werfen, aktuelle Debatten um Migration zu historisieren und deren rassistische Argumentationsmuster offenzulegen.

Im abschließenden Vortrag thematisierte JÜRGEN MARTSCHUKAT afroamerikanische Gewalterfahrungen. Als Ausgangspunkt wählte er die Tötung des Afroamerikaners Laquan McDonald durch den Polizisten Jason van Dyke in Chicago 2014. Während im Hintergrund die Aufnahmen aus der Kamera von van Dykes Polizeiwagen dessen knapp fünf Minuten dauernde Anfahrt zu dem Ort dokumentierten, an dem der Polizei ein junger Afroamerikaner gemeldet worden war, der mit einem Messer herumlaufe, entfaltete Martschukat mit Fanon als „Rahmen“ einen Blick auf die Geschichte von Gewalt gegen AfroamerikanerInnen.
Während die amerikanische Verfassung den universalen Anspruch stelle, alle Menschen vor Gewalt und Willkür zu schützen, sei AfroamerikanerInnen von Anfang an ihr Status als Mensch aberkannt worden – und damit ihr Recht auf das „Streben nach Glück“. Darin sah Martschukat „die amerikanische Version der 'Entmenschlichung des Kolonisierten', von der Fanon spricht.“ Wie stark die Formen rassistischer Gewalt in den USA oft an Institutionen gebunden waren und sind, verdeutlichte Martschukat an Beispielen von den Slave Codes und der Sklaverei, den Jim-Crow-Gesetzen und Lynch-Morden sowie dem amerikanischen Gefängnisstaat und dessen verheerenden Auswirkungen auf die afroamerikanische Community. Auch wenn es inzwischen eine größere afroamerikanische middle class und einen afroamerikanischen Präsidenten gebe: Die amerikanische Gesellschaft sei immer noch eine in jene Abteile getrennte Welt, in der die Polizei die wesentliche Verbindung der Kolonisierten und Kolonisierenden darstelle.

Im Folgenden wurde das Polizeivideo abgespielt, das die 16 Schüsse van Dykes auf einen offenkundig nicht bedrohlich auftretenden Laquan McDonald zeigt, in deren Anschluss die Polizisten dem am Boden liegenden McDonald zudem keine Aufmerksamkeit schenken. Daraufhin diskutierte Martschukat, ob das Vorzeigen von Gewalt nicht letztlich zu einer erneuten Unterwerfung der Opfer führe und damit die „manichäische Welt“ wie Fanon sie beschrieb, verfestige. Aus seiner Sicht könnten Bilder durchaus stabilisierend auf solche Machtverhältnisse wirken; sie könnten aber auch „Räume für Kritik“ eröffnen, wie dies beispielsweise Olssons Film getan habe. Dazu müssten die Bilder in einem „interpretativen Rahmen“ gesehen werden, der Gewalt als etwas Historisches, Veränderliches und damit nicht Natürliches darstelle sowie „das Menschsein der Gewaltopfer unterstreich[t] und so die manichäische Welt des Kolonialen auflös[t].“

Die anschließende, trotz des Freitag-Nachmittag-Slots sehr lebhafte Diskussion könnte man gemäß der Frage „Wie Fanon in den postcolonial studies lesen?“ so zusammenfassen: Fanons Werk eignet sich nicht, oder nur sehr bedingt zur analytischen Anwendung auf eine Vielzahl postkolonialer Zusammenhänge, da „die Verdammten dieser Erde“ auf einem sehr konkreten Level stattfindet und oft Ambivalenzen ausblendet – auch wenn Olsson versucht, dem Text einen breiteren Referenzrahmen zuzuschreiben. Die strikten Oppositionen (Europa – Afrika, Kolonisierende – Kolonisierte, „weiß“ – „schwarz“), die Fanon nicht nur beschreibt, sondern selbst vornimmt, scheinen tatsächlich den „manichäischen“ Charakter der von ihm analysierten Kolonialgesellschaften ein Stück weit fortzuschreiben, auch indem er etwa Gewalt als einzige Selbstermächtigungs-Praktik Kolonisierter darstellt. Fanons Beobachtungen bieten HistorikerInnen jedoch eine Möglichkeit, die Perspektive marginalisierter Gruppen einzunehmen – gerade das ist schließlich eines der Hauptanliegen des Postkolonialismus. Dazu ist es allerdings nötig, sein Werk stärker unter Berücksichtigung von dessen Entstehungskontext zu lesen. Und vielleicht noch wichtiger: Fanon, das zeigten die Sektion sowie die Reaktionen auf Olssons Film, hilft möglicherweise gerade aufgrund seiner zugespitzten Thesen, Debatten um postkoloniale Gewalt anzustoßen und am Laufen zu halten, die auch fünfundfünfzig Jahre nach Erscheinen der „Verdammten dieser Erde“ nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt haben.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Barbara Lüthi (Köln) / Jürgen Martschukat (Erfurt)

Jürgen Martschukat (Erfurt): Anmoderation

Filmvorführung „Concerning Violence: Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence“ (Schweden: G.H. Olsson, 2014)

Andreas Eckert (Berlin): Postkoloniales Afrika

Barbara Lüthi (Köln): Globale Migration

Jürgen Martschukat (Erfurt): Afroamerikanische Gewalterfahrungen

Anmerkungen:
1 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1981, S. 30.
2 Ebd., S. 31.
3 Ebd.


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