Philosophie, Jurisprudenz und Theologie in Heidelberg an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert

Philosophie, Jurisprudenz und Theologie in Heidelberg an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert

Organisatoren
Joseph S. Freedman, Herman J. Selderhuis, Christoph Strohm
Ort
Emden
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2004 - 21.11.2004
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Von
Judith Becker, Ruhr-Universität Bochum

Vom 19. bis 21. November 2004 fand in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden im Rahmen des Forschungsprogramms "Kulturwirkungen des reformierten Protestantismus" ein internationales Symposium statt, bei dem Theologen, Juristen, Philosophen und Historiker nach Einflüssen des reformierten Glaubens auf die verschiedenen Disziplinen fragten. Eingeladen hatten die Professoren Christoph Strohm (Bochum), Herman J. Selderhuis (Apeldoorn) und Joseph S. Freedman (Alabama). Ziel des Forschungsprojektes ist es, das Profil des reformierten Protestantismus anhand der Auswirkungen zu beschreiben, die konfessionelle Grundentscheidungen auf die Arbeit von Juristen, Philosophen, Historikern und Theologen hatten. Heidelberg bietet sich für eine solche Untersuchung an, da hier in besonderer Weise Reformiertsein umgesetzt wurde. Mit den vielfältigen Editionen mittelalterlicher Texte entstand ein neuer Kontext für theologische, philosophische und juristische Diskussionen. Zur Jahrhundertwende nahmen die Heidelberger Gelehrten eine führende Stellung im Reich ein.

Eike Wolgast (Heidelberg) spannte in seinem Vortrag "Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus" den Rahmen für die folgenden Einzeluntersuchungen. Er betonte, dass die Enge der Stadt eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen zeitigte. Auch Hof und Universität standen in regem Austausch. Mit ihrer Religionspolitik und der hervorragend ausgestatteten Bibliotheca Palatina zog die Kurpfalz Gelehrte aus Westeuropa wie den übrigen reformierten Territorien des Reichs an. Ein gemeinsames Profil der Heidelberger Gelehrten fand Wolgast in dem lebendigen Interesse am Altertum, der reproduktiven Gelehrsamkeit, der Editorentätigkeit, der bewussten reformierten Religiosität – unter den Heidelberger Gelehrten waren nur wenige Theologen –, der geringen Beteiligung an religiösen Auseinandersetzungen der Zeit, der Sammler-, Editoren- und Dokumentaristentätigkeit und dem Verfassen von Gedichten. Wolgast vertrat die These, die Kurpfalz sei nur teilkonfessionalisiert gewesen, denn in Widmungen wurden reformierte und katholische Herrscher gleichermaßen bedacht. Nur Lutheranern gegenüber scheint ein Widmungsvorbehalt bestanden zu haben.

Das Geschichtsverständnis dreier Heidelberger Gelehrter aus verschiedenen Disziplinen untersuchte Cornel A. Zwierlein (München) unter dem Thema "Westeuropäische Einflüsse auf das kurpfälzische Geistesleben an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert", wobei er zunächst als Hintergrund die Westorientierung Heidelbergs wie das Interesse westeuropäischer Gelehrter an den Vorgängen in der Kurpfalz herausarbeitete. Der Theologe Franciscus Junius definierte in seiner Auslegung der Daniel-Apokalypse die weltlichen Reiche als innerweltliche Gegebenheiten, denen die Ewigkeit der Kirche entgegengesetzt sei und gab so den Blick auf die Welt frei. Der Jurist Johann Kahl erklärte in einer historisch-kritischen Analyse das Digestenfragment zur Souveränität des Herrschers für invalide. So distanzierte er sich von dem überlieferten Text. Auch benutzte er ihn nur selektiv. Hipollyt a Colli bezog seine historischen Überlegungen auf Machiavelli und führte in Heidelberg den außeruniversitären Stil des politischen Raisonnements ein. Bei allen Autoren lässt sich eine Historisierung der Inhalte wie der Methoden ihrer Disziplinen feststellen.

Joseph S. Freedman (Alabama) forderte in seinem Beitrag "The Influence of Petrus Ramus in Heidelberg from 1572 through the Early Seventeenth Century", den Begriff "Ramismus" nicht mehr zu benutzen. Es sei nicht klar, was mit dem Begriff gemeint sei. Ramus selbst habe seine Philosophie immer weiterentwickelt, und nach seinem Tode sei sie eklektisch benutzt worden. Die Heidelberger Polemik gegen den "Ramismus" bezog sich auf keine eindeutig definierte philosophische Position. In Heidelberg ist Ramus vermutlich gar nicht gelehrt worden. Seine Philosophie wurde laut Freedman nur an Schulen, nicht aber an Universitäten unterrichtet, und nicht in Universitätsstädten. Da Ramus' Philosophie weniger komplex war als die von Melanchthon oder Aristoteles, eignete sie sich für die Lehre in den unteren Graden.

Donald R. Sinnema (Chicago) beschäftigte sich mit "Johann Jungnitz on the Use of Aristotelian Logic in Theology". Jungnitz, ein Freund von Ursinus und Herausgeber dessen Schriften, lehrte in Heidelberg als "organi Aristotelei professor". In Reaktion auf lutherische Kritik am reformierten Gebrauch der Vernunft entwickelten die reformierten Professoren ein System der Logik in der Theologie. Jungnitz steht hier exemplarisch für die Heidelberger Theologen der frühen Orthodoxie. Einerseits beweist er, dass die Theologie nicht im Widerspruch zur aristotelischen Philosophie steht, dass also z.B. theologische Prämissen auch dann Gültigkeit im aristotelischen Sinne besitzen, wenn der Mensch sie nicht auf natürliche Weise, sondern durch Offenbarung oder den Heiligen Geist erkannt hat. Andererseits zeigt er, dass philosophische Methoden in der Theologie angewandt werden können, weil die Methode den Inhalten der Disziplin untergeordnet ist.

Im folgenden Referat bewies Günter Frank (Bretten) unter dem Titel "Ethik bei Viktorin Strigel und Abraham Scultetus", dass der Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die Heidelberger Ethik dagegen gering war. Hatte Melanchthon die Ethik durch Neuordnung ihrer Topoi und Einpassung in das theologische Grundmuster von Gesetz und Evangelium tradierfähig gemacht, so formte sein Schüler Viktorin Strigel die Ethik zu einer theologischen Disziplin. Frank nannte Strigels Ethik eine "Jurisprudenz en miniature". Die Ethik bestimme die Gesetze, weshalb Strigel die Gesetze des positiven Rechts grundsätzlich positiv sieht. Scultetus bezog sich in seiner Ethik nur noch nominal auf Aristoteles und nahm ihn zum Ausgangspunkt seiner ethischen Überlegungen. Für Scultetus ist der Mensch nicht zum beate vivere, sondern zum recte vivere geschaffen: um den Willen Gottes zu erfüllen und so Gott die Ehre zu geben.

In dem Vortrag "B. Keckermann and the Anti-Ramist Tradition in Heidelberg" zeigte Kees Meerhoff (Amsterdam), wie Keckermann sich einerseits gegen Ramus abgrenzte und seine Philosophie als verwirrend, verstümmelnd und inakkurat bezeichnete, andererseits aber so stark von Ramus beeinflusst war, dass er dessen Art der Selbststilisierung durch autobiographische Skizzen ebenso übernahm wie die Idee, eine Geschichte der Logik zu verfassen. Wie groß Ramus' Einfluss in Heidelberg und die Gefahr, die von seiner Philosophie für die Heidelberger Lehre ausgehen konnte, waren, blieb unter den Tagungsteilnehmern allerdings umstritten.

Detlef Döring (Leipzig) befasste sich mit dem Thema "Samuel Pufendorfs Heidelberger Jahre (1661-1668)". Pufendorf erlebte an der wiedereröffneten Heidelberger Universität die enge Verbindung von Hof und Universität, das Bemühen um eine Einigung der deutschen Protestanten und das Aufkommen moderner Wissenschaften. An ersterem nahm er als Erzieher aktiv teil, in der Irenik engagierte er sich, auch wenn er als Lutheraner den Reformierten gegenüber Forderungen stellte, die diese nicht erfüllen konnten. Am wichtigsten war vielleicht die libertas philosophandi in Heidelberg. Pufendorf beschrieb die Naturwissenschaft als fortschrittlichste Wissenschaft, da sie sich keine Gesetze vorschreiben lasse. Vorbildlich war für ihn die Medizin.

In seinem Referat "Heidelberger Gutachten in Sachen Vorstius" ging Willem van't Spijker (Apeldoorn) weit über den Heidelberger Kontext hinaus. Der reformierte Gelehrte Vorstius wurde 1619 von der Dordrechter Synode wegen Irrlehren abgesetzt, seine Bücher verboten. Van't Spijker zeigte, wie politische, kirchliche und theologische Gegebenheiten bei dieser Verurteilung ineinander griffen. Vorstius war 1611 als Nachfolger von Arminius auf dessen Lehrstuhl nach Leiden gegangen und wurde daher als geistesverwandt mit ihm gesehen. Die Niederlande befanden sich zu der Zeit in einer politisch und religiös brisanten Lage, und Vorstius' Anwesenheit wurde von allen Seiten als bedrohlich empfunden. Die Heidelberger, bei denen Vorstius studiert hatte, setzten sich theologisch mit ihm auseinander und besiegelten sein Schicksal gemeinsam mit James I. aus England, der sich ebenfalls theologisch und politisch in Dordrecht engagierte.

Christoph Strohm (Bochum) füllte in dem Beitrag "Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte bei Heidelberger Juristen" das Etikett "reformiert", mit dem die Juristen tituliert werden, neu: Es gab verschiedene Strömungen unter den Juristen. Einige grenzten sich einzig gegenüber dem Luthertum ab, andere waren Philippisten, wieder andere bezogen profiliert reformierte Positionen, die sie in Verfolgungszeiten oder in Heidelberg erarbeitet hatten. Ein Teil gehörte auch einer Mittelgruppe an. Gemeinsamkeiten bestanden zwischen den Juristen in der Rationalisierung, dem Vorrang humanistischer vor konfessionellen Ansätzen, dem Kampf gegen Aberglauben und gegen jede Vermischung von Göttlichem und Menschlichem. Der reformierte Aspekt trat zutage, wenn die Juristen die Reformation der Lehre durch die Reformation des Lebens vollenden wollten. Strohm ist die Verwendung des Begriffs "weltanschaulich-konfessionell" wichtig, um deutlich zu machen, dass sich Eigenarten nicht einfach mit den traditionellen konfessionellen Unterscheidungslehren erklären lassen.

Theodor Mahlmann (Bern) gab eine ausführliche Darstellung der "Prädestinationslehre bei Georg Sohn", bei der er strukturelle und begriffliche Parallelen zwischen Sohns Beschreibung der Prädestinationslehre und juristischen Konzepten herausstellte. So fragt Sohn, was die Erwählung für die Gerechtigkeit bedeute und ob Gott juristisch wegen Ungerechtigkeit belangt werden könne. Da aber alle Menschen nach dem Sündenfall verworfen werden müssten, handelt Gott laut Sohn nicht ungerecht, sondern aus freiem Willen, wenn er einige erwählt.

Auch der Vortrag von Herman J. Selderhuis (Apeldoorn) beschäftigte sich mit der Prädestinationslehre: "Das Recht Gottes. Der Beitrag der Heidelberger Theologen zur Prädestinationsdebatte". Selderhuis betonte, dass die Prädestination nicht gepredigt werden sollte, sondern dass sie in Auseinandersetzung mit lutherischer Kritik entwickelt wurde. Die Heidelberger Theologen zitieren Luther häufiger als Calvin. Ihre Position ist deutlich von Melanchthon beeinflusst. Die Prädestinationslehre diente hauptsächlich der Vergewisserung von Gläubigen wie Ungläubigen: Die Gläubigen werden gerettet; wer heute nicht glaubt, kann morgen zum Glauben kommen. Prädestinationslehre war für die Heidelberger Theologen in erster Linie Seelsorge.

In der Schlussdiskussion wurden gebräuchliche Etikettierungen problematisiert, nicht nur der "Ramismus", sondern auch das "Reformiertentum". Deutlich wurde, dass in Heidelberg um die Jahrhundertwende ein eigenständiger weltanschaulich-konfessioneller Typus existierte, der sich nicht der Gruppe der Lutheraner, Philippisten oder Calvinisten einordnen lässt. Zu schnelle Zuschreibungen können daher den Blick für Unterschiede und Eigenheiten verschleiern. Die Diskussion wird auf einem größeren Symposium fortgeführt werden, das 2006 gemeinsam mit der Althusius-Gesellschaft veranstaltet wird. Dabei sollen konfessionelle Einflüsse auf die Jurisprudenz in einem interkonfessionellen Zusammenhang geklärt werden.

Die Beiträge werden in einem Tagungsband veröffentlicht.


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