"Selbstentwürfe". Neue Perspektiven auf die politische Kulturgeschichte des Selbst im 20. Jahrhundert

"Selbstentwürfe". Neue Perspektiven auf die politische Kulturgeschichte des Selbst im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN) – Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte – Universität Göttingen, Tilmann Siebeneichner, Hagen Stöckmann
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2016 - 03.06.2016
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Von
Pascal Eitler, Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Die von TILMANN SIEBENEICHNER (Berlin) und HAGEN STÖCKMANN (Göttingen) organisierte Tagung „Selbstentwürfe“ war die inzwischen dritte vom Zeitgeschichtlichen Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN) an der Universität Göttingen geförderte Konferenz zur Geschichte des Selbst im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig war sie aber auch eine unaufdringliche und streckenweise sehr persönliche Festveranstaltung zum 70. Geburtstag von BERND WEISBROD (Göttingen / Berlin), unter dessen Federführung sich der ZAKN in den letzten Jahren verstärkt und sehr gewinnbringend einer solchen Historisierung von Selbstverhältnissen zugewandt hatte. Vor diesem Hintergrund waren es insbesondere ältere und jüngere Wegbegleiter/innen und Mitarbeiter/innen von Bernd Weisbrod, die ihre eigenen Arbeiten zur beziehungsweise im Licht einer solchen Geschichte des Selbst zur Diskussion stellten.

Dass der Versuch, eine Festveranstaltung konsequent unter ein gemeinsames Thema zu stellen, so gut gelang, lag nicht nur an der erfreulichen Disziplin aller Referent/innen. Dieses Gelingen verweist auch auf die inzwischen kaum mehr bestreitbare Anschlussfähigkeit von subjekthistorischen Fragestellungen. Anders als der Untertitel der Konferenz es nahelegt, wurde diese Anschlussfähigkeit nicht nur in politikgeschichtlicher Perspektive erprobt, die Referent/innen zogen ebenfalls zahlreiche Verknüpfungen zur Bildungs- und zur Wissenschaftsgeschichte, zur Konsum-, zur Gewalt- und teilweise auch zur Körpergeschichte.

Insbesondere vier Referate verbanden Fragen zur sich wandelnden Selbstbildung im 20. Jahrhundert unmittelbar mit politikgeschichtlichen Problemstellungen: KERSTIN THIELER (Göttingen) setzte sich mit der Selbstdarstellung des Historikers Percy Ernst Schramm in den 1950er- und 1960er-Jahren auseinander – zwischen akademischer Karriere und politischer „Selbstvergessenheit“. PHILIPP KUFFERATH (Berlin) widmete sich den nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Kompetenzen und Identitäten von Peter von Oertzen als Politikwissenschaftler und Politiker vor allem zwischen den 1950er- und den 1980er-Jahren. Beide Referate rückten dabei unter anderem die Frage in den Fokus, wie politische Akteure über politische Systemwechsel oder Parteigrenzen hinweg versuchten, einem phantasmatischen Anspruch an ein konsistentes Selbst gerecht zu werden.

HAGEN STÖCKMANN (Göttingen) beschäftigte sich demgegenüber mit der ganz unterschiedlichen Bedeutung der bürgerlichen Kleinfamilie als einer zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren überaus umstrittenen Subjektivierungsinstitution – in Konkurrenz zu staatlichen Instanzen im Kalten Krieg und „alternativen“ Lebens- und Erziehungsformen um und nach 1968. In durchaus vergleichbarer Weise unterstrich BENJAMIN MÖCKEL (Köln) die neue Rolle des Konsums als Indikator und Motor einer stark politisierten beziehungsweise moralisierten Selbstbildung innerhalb des sogenannten Alternativmilieus in den 1970er- und 1980er-Jahren. Beide Referate zeigten auf, wie eng die Geschichte des Selbst dabei auch mit gesellschaftshistorischen Fragestellungen im weiteren Sinne verzahnt ist. Vor allem die Relevanz der Familie wurde in diesem Kontext in letzter Zeit zu Unrecht eher vernachlässigt.

Eine Verbindung zur insgesamt ebenfalls zu wenig berücksichtigen Rolle des Körpers und hier vor allem der Sinne für die Historisierung von Selbstverhältnissen knüpfte DANIEL MORAT (Berlin) in seinem Referat zum auditiven Selbst der „westlichen“ Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er ging der auch körpergeschichtlich relevanten Frage nach, wie der öffentliche „Lärm“ in der Großstadt das „moderne“ Subjekt in seinem privaten Refugium und seinem vielfach behaupteten Bedürfnis nach „Ruhe“ mitunter geradezu existentiell zu bedrohen schien.

HABBO KNOCH (Köln) und TILMANN SIEBENEICHNER (Berlin) konfrontierten die Geschichte des Selbst weniger mit politikhistorischen noch mit körpergeschichtlichen Fragestellungen im engeren Sinne als mit der Geschichte staatlicher und militärischer Gewalt im 20. Jahrhundert. In seinem Abendvortrag wehrte sich Habbo Knoch in diesem Zusammenhang gegen die Idee, die nationalsozialistischen Massenmorde unter anderem mit der „moralischen Indifferenz“ der Täter erklären zu können – die Forschung habe das Selbstverständnis der Täter in dieser Hinsicht noch gar nicht angemessen erschlossen. Durchaus in diesem Sinne unterstrich Tilmann Siebeneichner in seinem Vortrag die große Bedeutung der Legitimation von Gewalt und eines spezifischen Gemeinschaftsgefühls für die Selbstdarstellung von Söldnern vor allem seit den 1960er-Jahren. Beide Vorträge machten dabei nicht zuletzt auf die schwierige Funktion von Selbstzeugnissen für eine Historisierung von Selbstverhältnissen aufmerksam und rückten diesbezüglich die Selbstbildung der Täter innerhalb von Gewaltverhältnissen in das Zentrum des Interesses.

JENS-CHRISTIAN WAGNER (Celle) setzte dieser Konzentration auf die Täter in seinem Referat zur Interpretation der Selbstzeugnisse von KZ-Gefangenen einen praxeologischen Blick auf deren oftmals ignorierte „Selbstbehauptung“ als Akteure entgegen und widmete sich deren möglicher Präsentation in Museen. Auch JULIANE HAUBOLD-STOLLE (Berlin) betonte in ihrem Referat die Relevanz von Museen für die Geschichte des Selbst und die dort scheinbar allgegenwärtige Erfahrung von Alterität. Beide Referate verblieben jedoch zu sehr auf einer theoretischen, programmatischen Ebene.

Streckenweise ebenfalls recht theoretisch und programmatisch widmeten sich MAIK TÄNDLER (Jena) und UFFA JENSEN (Berlin) der umfassenden Psychologisierung beziehungsweise Therapeutisierung von Selbstverhältnissen im 20. Jahrhundert. Uffa Jensen hob in diesem Rahmen die wegweisende Bedeutung der Psychoanalyse bereits im frühen 20. Jahrhundert hervor und charakterisierte deren Umgang mit heterodoxen Sexualitäten oder Identitäten in diesem Zusammenhang eher als normalisierend denn als normierend. Maik Tändler betonte demgegenüber die enorme Dynamik dieser Prozesse um und vor allem nach 1968 und betrachtete den Durchbruch des sogenannten Neoliberalismus dabei quasi als Nachgeschichte des „Psychobooms“ der 1970er- und 1980er-Jahre. Beide Referate berührten in dieser Hinsicht unter anderem die Frage nach zentralen Zensuren und möglichen Periodisierungsangeboten innerhalb der Geschichte des Selbst im 20. Jahrhundert.

Auch an diesem Punkt verdeutlichte die Tagung, wie vielfältig und erkenntnisförderlich sich diese Geschichte nicht nur mit politikhistorischen Fragestellungen im engeren Sinne verknüpfen lässt. In diesem Sinne akzentuierten ADELHEID VON SALDERN (Hannover / Göttingen) und BERND WEISBROD (Göttingen / Berlin) in ihren Impulsreferaten zur Schlussdiskussion vor allem die Bedeutung der 1960er- und 1970er-Jahre für neuartige Selbstverhältnisse und unterstrichen diesbezüglich das große Analysepotential subjekthistorischer Fragestellungen speziell gegenüber der Wertewandel- oder auch der aktuell kontrovers diskutierten Strukturbruchthese.

Konferenzübersicht:

Tilmann Siebeneichner (Berlin), Hagen Stöckman (Göttingen): Begrüßung und Einführung

I. Professionalisierung: Das Selbst und die (Ohn-)Macht der Mandarine
Moderation: Petra Terhoeven (Göttingen)

Kerstin Thieler (Göttingen): Der Historiker und seine Vergangenheit. Percy Ernst Schramm (1894–1970) zwischen Selbstvergessenheit und Selbstplatzierung

Philipp Kufferath (Berlin): Selbstverständnis und Perzeption eines politischen Intellektuellen im Spannungsfeld von Sozialwissenschaft, Parteipolitik und linken Netzwerken
Kommentar: Norbert Frei (Jena)

II. Authentifizierung: Das Selbst zwischen Konsum und Politik
Moderation: Eva-Maria Silies (Berlin)

Maik Tändler (Jena): Nach der Disziplinargesellschaft? Zur Ambivalenz therapeutischer Liberalisierung seit den 1970er-Jahren

Benjamin Möckel (Köln): Der richtige Konsum im Falschen. Konsumkritik als Subjektivierungsstrategie in den 1960er- bis 1980er-Jahren
Kommentar: Franka Maubach (Jena)

III. Musealisierung: Das Selbst und seine kulturellen Repräsentationen
Moderation: Julia Kleinschmidt (Den Haag)

Juliane Haubold-Stolle (Berlin): „Subjektivierung“ in der musealen Vermittlung von Geschichte. Die Bedeutung der Dinge

Jens-Christian Wagner (Celle / Göttingen): Wiederentdeckt. Selbstzeugnisse von KZ-Häftlingen
Kommentar: Inge Marszolek (Bremen)

Habbo Knoch (Köln): Bürgerliche Kälte. Das moderne Selbst und die entgrenzte Gewalt des 20. Jahrhunderts
Moderation: Dirk Schumann (Göttingen)

IV. Phänomenologisierung: Sinnlichkeit und Selbst-Erfahrung
Moderation: Sascha Schießl (Göttingen)

Uffa Jensen (Berlin): Hat Freud wirklich die Psychoanalyse erfunden? Die Wissensgeschichte der globalen Psychoanalyse in Berlin, London und Kalkutta, 1910–1940

Daniel Morat (Berlin): Die Stadt, der Lärm und das Ich. Zum auditiven Selbst des modernen Metropolensubjekts
Kommentar: Adelheid von Saldern (Hannover / Göttingen)

V. Sozialisierung: Das Selbst zwischen Gewalt und Gemeinschaft
Moderation: Till Manning (Hannover)

Tilmann Siebeneichner (Berlin): No Mean Soldiers. Gewalt und Gemeinschaft unter Söldnern

Hagen Stöckmann (Göttingen): Cold Warriors‘ Society. Bürgerliche Emphase und Westernisierung des heranwachsenden Selbst
Kommentar: Lutz Niethammer (Jena)

Schlussdiskussion
Impulsreferate: Adelheid von Saldern (Hannover / Göttingen) und Bernd Weisbrod (Göttingen / Berlin)
Moderation: Alexander Geppert (New York/Berlin)


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