Exit. Ausstieg und Verweigerung in „offenen Gesellschaften“ nach 1945

Exit. Ausstieg und Verweigerung in „offenen Gesellschaften“ nach 1945

Organisatoren
Cornelia Rauh, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover; Dirk Schumann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen; Petra Terhoeven, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2016 - 18.06.2016
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Von
Jan Renken, Georg-August-Universität Göttingen

In den letzten zehn Jahren ist in der Zeitgeschichte insbesondere im Anschluss an Anselm Doering-Manteuffels und Lutz Raphaels Studie „Nach dem Boom“ die These eines „Strukturbruchs“ mit weitreichenden Konsequenzen für den soziokulturellen Wandel in der Bundesrepublik um 1970 diskutiert worden. Entwickelt hat sich dabei eine Debatte über das Verhältnis der Zeitgeschichte zu ihren Nachbardisziplinen und über die – nach Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel weitgehend unreflektierte – Orientierung an zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Theoremen durch ZeithistorikerInnen. Sind Theoreme wie etwa der „Wertewandel“ (Inglehart, Klages) oder die „post-industrial society“ (Bell), welche in den 1970ern die beschleunigte Ablösung traditioneller sozialer Bindungen und kollektiver Werteorientierung durch plurale Werteangebote, individuelle Eigenverantwortung und häufig wechselnden Selbst-Entwürfe konstatierten, empirisch belastbar und geeignet einen „Strukturbruch“ zu belegen? Graf und Priemel widersprechen und verweisen auf die erkenntnistheoretischen und politischen Implikationen einer historiographischen empirischen „Überprüfung“ dieser Medien gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Mithin gilt es aber auch zu überprüfen, ob sozialer und kultureller Wandel mit Werteorientierung, Mentalitäten und Ideen umfassend erklärt ist oder ob nicht stärker die Eigenlogiken und -Dynamiken sozialer Praxis betont werden müssen.

Der Zeitgeschichtliche Arbeitskreis Niedersachsen versammelte im Rahmen seiner Jahrestagung am 17. und 18. Juni 2016 ForscherInnen aus Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Kulturwissenschaften in Göttingen, um gemeinsam diesen Fragen nachzugehen. Die von Cornelia Rauh (Hannover), Dirk Schumann und Petra Terhoeven (Göttingen) konzipierte Tagung mit dem Titel „EXIT. Ausstieg und Verweigerung in >>offenen Gesellschaften<< seit 1945“ sah vor, „die Figur des Aussteigers zur zeithistorischen Sonde für die Untersuchung von Norm- und Diskursverschiebungen in demokratisch verfassten Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders“ zu machen. Die Perspektive auf den „Ausstieg“, so PETRA TERHOEVEN (Göttingen), erlaube es, die historischen Verhältnisse vom Individuum zu den an es gerichteten Erwartungen als relationalen Prozess und damit die Werturteile und -orientierungen von „Aussteigern“ und von Zurückgebliebenen in den Blick zu nehmen. Das Potential des Begriffs „Ausstieg“, eine vom Subjekt ausgehenden Agency besser fassbar machen zu können als mit soziologischen Begriffen wie „Inklusion/Exklusion“, betonte Terhoeven daher in ihrem Eröffnungsvortrag. Dennoch müsse die Tagung auch gegenüber essentialistischen oder universalistischen Subjektkonzeptionen und den entsprechenden narrativen Strategien der Biographisierung – etwa durch die historischen Akteure selbst – kritische Distanz bewahren.

Im ersten Panel beschäftigten sich TOBIAS WEIDNER (Göttingen) und YVONNE ROBEL (Hamburg) mit der Bedeutung medialer Rahmungen von Ausstiegen. Weidner betonte in seinem Beitrag, dass die mediale Repräsentation des Aussteigers eine Vermittlung des Ausstiegs zum gesellschaftlichen Normbereich darstelle. Dabei zeigte Weidner am Beispiel des Photographen Georg Rodger, wie dessen mediale (Selbst-)Inszenierungen, zunächst als „Kriegsfotograf“ und später als „Abenteurer“, zwei Zuspitzungen einer narrativen Strategie der Biographisierung entsprachen. Weidner widersprach Annahmen über „wesenhafte“ Aussteiger und schlug die Analyse unterschiedlicher, schon zeitgenössisch perspektivabhängiger „Eskalationsgrade von Ausstiegen“ vor, die immer zugleich ein „Einstieg“ in eine neue Zugehörigkeit darstellten. Robel konstatierte zu Beginn ihres Vortrages über „Nichtstun als Haltung“ zunächst die Integration von kreativen und gegenkulturellen Selbstpraktiken in den heute neoliberal durchdrungenen Gesellschaften, in denen „Nichtstun“ als Disziplinierungs- und Normalisierungsprozess inkorporiert sei. „Nichtstun“, wie Robel in ihrer Untersuchung des historischen Wandels medialer Narrative von „Verweigerern“ bzw. „Aussteigern“ anhand von Presse- und Filmbeispielen seit den 1960er-Jahren zeigte, bewegte sich zwischen passiver Haltung von Randgruppen und aktiver, subjektorientierter Tätigkeit. Erst seit den 1980er-Jahren sei die individuelle Figur des „Nichtstuers“ als politisch verstandene Reizfigur signifikant geworden.

JÖRG REQUATE (Kassel) stellte in seinem Kommentar heraus, dass für die bürgerliche Moderne ein linear verstandenes Zeitregiment, das die Erfüllung einer geplanten Zukunft verspreche, spezifisch sei. Ein Ausstieg sei nicht nur ein Bruch mit Zugehörigkeiten, sondern auch Teil eines Zeitregiments, in dem der temporäre Ausstieg einen notwendigen Aspekt des Vorankommens darstelle. Ausstiege seien nicht eindeutig freiwillig, vielmehr neigten bürgerliche Selbstentwürfe dazu, sich als autonom handelndes Subjekt zu inszenieren und daher in der Aneignung von Brüchen in der Lebensführung bzw. in der Aneignung des „Scheiterns“ das Moment der „Freiwilligkeit“ zu betonen.

Das zweite Panel zum Thema „Beziehungen“ leitete MONIKA WIENFORT (Wuppertal) ein, die mit ihrem Vortrag zu Ehescheidungen in der Bundesrepublik die Kontinuitäten in den Scheidungsziffern in Deutschland seit dem Kaiserreich betonte. Der Grad der Akzeptanz für Scheidungen werde jedoch erst durch eine Analyse des sozial- und kulturwissenschaftlichen Wandels verständlich. In Bundesrepublik und DDR sei eine zunehmende Akzeptanz der Scheidung als Konfliktlösung in Ehebeziehungen festzustellen, die sich unter anderem durch Wandel von Milieus, von Erwerbstätigkeit, von Geschlechterentwürfen und Erwartungen an die Ehe erklären lasse. BENNO GAMMERL (Berlin) vertrat in seinem Beitrag zu ruralen Lebensgemeinschaften Homosexueller die These, dass angesichts ihrer fortdauernden Stigmatisierung Homosexueller in der Bundesrepublik die Differenz zwischen selbstgewählter Existenz als „Aussteiger_innen“ und fremdbestimmter Existenz als „Außenseiter_innen“ stärker betont werden müsse. Gammerl verwies auf historische Versuche des Ausstiegs aus dem Stigma mittels der Propagierung distinkter, „homophiler“ Werte und der Gründung von Landkommunen. Dabei blieb der Ausstieg durch ambivalente Versuche der Vergemeinschaftung im Rahmen ruraler Gesellschaften ein prekärer und letztlich kurzlebiger Versuch, das Stigma abzulegen. KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) widersprach der Einordnung der vorgetragenen Fälle als Ausstiege, da sie keine grundsätzliche Infragestellung der Ehe bzw. der heteronormativen Matrix darstellten. Sie entsprächen der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenz, von Versuchen, den gesellschaftspolitischen Bruch zu suchen, abzusehen und stattdessen individuelle Lebensstile zu verfolgen. Die Akzeptanz für die Pluralität von Selbstentwürfen, Optionen und Entscheidungen habe die Möglichkeiten für genuine Ausstiege deutlich reduziert.

Das dritte Panel beschäftigte sich mit dem Zusammenhang von Konsum und Ausstieg. BENJAMIN MÖCKEL (Köln) stellte seine Überlegungen zu Konsumkulturen als kulturkritische Gesellschaftsanalyse zwischen 1950 und 1980 vor. Möckel verwies auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Annahme einer gesellschaftlichen Totalität der Konsumlogik und Annahmen über das Potential alternativer Konsumpraktiken als Agenten gesellschaftlicher Transformation. Er zeigte, wie die Fair Trade-Bewegung seit 1970 unter anderem mit Hilfe psychologischer Diskurse das subversive Potential des „Konsumtriebs“ nutzbar zu machen versuchte. ALEXANDER SEDLMAIER (Bangor) beleuchtete in seinem Vortrag, ausgehend von Herbert Marcuses neomarxistischer Gesellschaftskritik, die konsumkritischen Aushandlungsprozesse des Politischen von den „Gammlern“ der 1960er- bis zu den „Autonomen“ der 1980er-Jahre. Dabei folgte Sedlmaier Marcuses Postulat der Grenzen der „offenen Gesellschaft“ und widersprach einer Deutung von alternativen Konsumpraktiken als unpolitisch. Sie seien im Rahmen der sie prägenden Machtasymmetrien zu deuten, welche einen freien Austausch über gesellschaftlichen Alternativen verhinderten. JONATHAN VOGES (Hannover) verwies in seinem Kommentar auf die Popularität von Gesellschaftsentwürfen bei Aussteigern, die einen Rückgriff auf Gesellschaften vor der Konsumgesellschaft darstellten – insbesondere auf Aspekte der Arbeitsgesellschaft und der Subsistenz. Voges widersprach damit der These von der Ablösung der Arbeits- durch die Konsumgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und forderte eine Historisierung des Begriffs „Konsumgesellschaft“ als immanent politischen „cold war term“.

TOBIAS WUNSCHIK (Berlin) leitete das vierte Panel zum Thema „Gewalt“ ein. Er verstand den Ausstieg der RAF-Mitglieder, zunächst aus der bürgerlichen Legalität und später aus der Bundesrepublik in die DDR, als doppelten Einstieg in totalitäre Gesellschaften. Dabei betonte Wunschik die Bedeutung des äußeren Zwangs auf die Aussteigerinnen und Aussteiger sowohl in der RAF und im RAF-Umfeld als auch später in der DDR-Gesellschaft. Trotz ideologischer Übereinstimmungen der Akteure mit der RAF bzw. mit dem DDR-Regime sei der jeweilige Einstieg als massive Anpassungsleistung zu werten. LENA FREITAG (Göttingen) hob mit ihrem Beitrag die politische Geschlechterdimension der Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik und in Österreich hervor. Die Zivildienstleister und Zivildienstbefürworter brachen mit dominanten Männlichkeitsidealen und gesellschaftlichen Erwartungen, die eng mit den außenpolitischen und geschichtspolitischen Orientierungen der beiden postfaschistischen Staaten verwoben waren. In der Bundesrepublik sei ihnen in den 1970ern eine Diskursivierung der Pflegetätigkeit als männliche Arbeit gelungen. In Österreich habe erst die spät einsetzende Ablösung des Mythos vom „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ in den 1980ern die Bedingungen für eine ähnliche Akzeptanz für den Zivildienst geschaffen. MARTIN GEYER (München) richtete in seinem Kommentar den Blick auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Agenturen der Inklusion und sozialen Kontrolle und ihre (Un-)Fähigkeit, ab den 1970er-Jahren einen „inneren Konsens“ herzustellen. Mit Ralf Dahrendorf ließe sich ein Ende des inneren Konsenes um 1980 konstatieren, der neue Modi der sozialen Kontrolle und des Ausstiegs hervorbrachte. Institutionen wie Wohlfahrtsstaat, Militär, Arbeitsgesellschaft oder Parteien müssten stärker in den Blick genommen werden, um zu klären, wer aus welcher Position über Männlichkeitsideale, Gewalt, Normalität und politischer Devianz spreche und welche Reichweite diese Diskurse hatten.

Im fünften Panel zu „Subjektverhältnissen“ widmeten die Beiträger sich Selbstführungen und -techniken religiöser Subjekte nach „68“. MAIK TÄNDLER (Jena) beschrieb ausgehend vom 1979 als „Tagebuch eines Aussteigers“ beworbenen Erfahrungsbericht des ehemaligen Stern-Redakteurs Jörg Andrees Elten die Anhänger Bhagwans als Protagonisten eines doppelten Ausstiegs: Sie sahen sich als Aussteiger aus einer repressiven Mehrheitsgesellschaft und aus den Politik- und Lebensformen der desillusionierten politischen Linken. Anknüpfungspunkte fanden die Aussteiger bei den seit „68“ boomenden psychotherapeutischen Selbstbefreiungspraktiken. PASCAL EITLER (Berlin) brachte mit seinem Vortrag über das „New Age“ den Begriff der „Konversion“, der insbesondere den Aspekt der Selbstverhältnisse und -führung der Aussteiger betont, in die Diskussion ein. Der Ausstieg sei von New Age-Konvertiten ständig neu vor sich selbst und der Gesellschaft thematisiert worden. Dabei habe „New Age“ eine große Bandbreite an Ausstiegs-Modi hervorgebracht, denen jedoch erstens eine Konzentration auf Körper als Vehikel des „Aufstiegs“ und zweitens das Verständnis der religiösen Konversion als Ausgangspunkt politischer Transformation gemein war. ANNELIE RAMSBROCK (Potsdam) konstatierte in ihrem Kommentar, dass weder Bhagwan-Bewegung noch „New Age“ als zeithistorische Sonden für die „offene Gesellschaft“ und ihre Grenzen taugen, da es sich um privilegierte und von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend tolerierte Randgruppen gehandelt habe. Ramsbrock machte die Begriffe „Inklusion/Exklusion“ für eine Analyse der „offenen Gesellschaften“ stark, um soziale Marginalisierung und diskursive Grenzziehungen in diesen sichtbar zu machen.

Im abschließenden Panel zu „Arbeit“ widmeten PHILIPP MILSE und DANIEL SCHMIDT (beide Leipzig) ihre Beiträge relativ jungen sozialen Bewegungen, deren politischer Bezug auf Arbeit von den TagungsteilnehmerInnen kontrovers diskutiert wurde. Milse spannte in seinem Vortrag einen Bogen von der radikalen Verweigerung des Tuns zum „do it yourself (d.i.y.)“ als die beiden, bis heute aktuellen Pole des Punks. Autonome Fahrradwerkstätten und „urban gardening“ verstand Milse als Versuch einer radikalen, zukunftsorientierten Graswurzelbewegung des „Anarchopunk“. Schmidt hingegen spürte romantischen Idealen in der „Occupy Wallstreet“-Bewegung von 2011 nach. Dabei konstatierte Schmidt eine Tradition der Subjektivierungsstrategien, die ausgehend von den literarischen Figuren Robinson Crusoe und Rosseaus Émile, über Henry D. Thoreaus Inszenierung seines Protestes aus den Wäldern Massachusetts um 1850, auch die Platzbesetzung von „Occupy“ prägte. Kern dieser Subjektbildungen sei der Versuch, das eigene Leben ohne Fremdbestimmung zu beherrschen. BRITTA-MARIE SCHENK (Kiel) setzte die beiden Referate in den Kontext sozioökonomischer Entwicklungen seit 1970. Die Deregulierung der Finanzmärkte und die Entstehung von Massenarbeitslosigkeit vor allem um 1980 habe massiv zum Zerfall der Arbeitsgesellschaft beigetragen. Sowohl das „d.i.y.“ im Rahmen des Punk als auch die „Occupy“-Bewegung reihten sich, so Schenk, in die vielfach ambivalenten Bezüge von Aussteigern auf die Krise der Arbeit ein.

Die Abschlussdiskussion wurde durch Beiträge von DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) und BERND WEISBROD (Göttingen) eingeleitet. Siegfried hob in seinem Beitrag die Bedeutung temporärer Versuche von Ausstieg und Opposition nach 1945 hervor, die für diese Epoche weit signifikanter seien als maximalistische Ausstiegskonzepte. Konstitutiv für die Zunahme von Lebensstil-Experimenten sei die Post-Adoleszenz seit den 1960er-Jahren, die sich durch einen Zuwachs an Freizeit, höherer Bildung und späterem Eintritt junger Erwachsener in feste Arbeitstätigkeit und Familiengründung auszeichnete. Weisbrod verwies in seinem Beitrag hingegen darauf, dass Sondergesellschaften und Gegenentwürfe als Elemente gesellschaftlicher Selbstentwürfe schon weit vor der bürgerlichen Moderne konstitutiv waren. Er stellte für die Bundesrepublik die Pluralisierung der Modi des Sich-Ausprobierens und der Selbst-Entwürfe sowie insbesondere die Option, nach dem Ausstieg zurückzukehren, als Kennzeichen „offener Gesellschaft“ heraus.

DIRK SCHUMANN (Göttingen) schlug in der anschließenden Diskussion vor, mit mikrohistorischen Perspektiven Ausstiege als relationalen Prozess in Milieu, Stadtteil/Ort oder Familie zu untersuchen, um deutlicher zwischen radikalen Brüchen, partiellen Verweigerungen und Transgressionen sowie Phänomenen wie dem Sabbatical zu unterscheiden.

Drei Aspekte wurden meines Erachtens auf der Tagung zu knapp verhandelt. Ein Defizit der Tagung, darauf verwies auch Terhoeven, stellte die weitgehende Beschränkung auf männliche Aussteiger dar. Die Geschlechterdimension des Ausstiegs müsste jedoch etwa mit Fragen nach dem Verhältnis von zeitgenössisch unsichtbar gemachter weiblicher Arbeit zu den weiblichen Verweigerungen und Ausstiegen beleuchtet werden. Zweitens sollten Machtasymmetrien in den „offenen Gesellschaften“ und Grenzen für alternative Selbst- und Gesellschaftsentwürfe stärker in den Blick genommen werden. Protestpraktiken, wie etwa alternativer Konsum oder Kriegsdienstverweigerung, verwiesen mit ihrer transnationalen Orientierung auf die Konstitution globaler Herrschaft, die auch nach 1945 vielfach durch imperialistische Hegemonie und die militärische Durchsetzung von Politik geprägt war. Drittens muss die erste Bedingung des Ausstiegs, nämlich die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, stärker untersucht werden. Ein vergleichender Blick auf Ausstiege Zugehöriger und auf Einstiegsversuche gesellschaftlicher Randgruppen, die – wie etwa ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge, SexarbeiterInnen, Schwarze Deutsche sowie arme, behinderte und alte Menschen – mit rassistischer, sexistischer, klassistischer, behindertenfeindlicher und vielfach intersektionaler Diskriminierung konfrontiert wurden, kann viel über die Diskurs- und Normverschiebungen, aber auch über Kontinuitäten in der Bundesrepublik, verraten.

Den TagungsveranstalterInnen und -TeilnehmerInnen ist es insgesamt gelungen, verschiedene Diskussionsstränge der Kulturgeschichte, der neuen Politikgeschichte und der Subjektivierungsforschung zusammenzufügen und weiterzuentwickeln. Eine Fortführung und Vertiefung der Diskussion im Rahmen einer zweiten Tagung oder in Form eines Sammelbandes wäre ein Gewinn für die zeithistorische Debatte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Dirk Schumann/Cornelia Rauh

Einführung: Petra Terhoeven

Panel I: Mediale Rahmungen

Tobias Weidner: “The horror I found was too great to comprehend”. George Rodger und der Ausstieg aus der Kriegsfotografie nach 1945

Yvonne Robel: Nichtstun als Haltung – Mediale Diskurse seit den 1950er Jahren

Kommentar: Jörg Requate

Panel II: Beziehungen

Monika Wienfort: Enttäuschung, Scheitern, Neuanfang. Ehescheidung in der Bundesrepublik 1950-1980

Benno Gammerl: Raus aufs Land? Homosexuelle und der Ausstieg aus dem urbanen Leben (1960-1990)

Kommentar: Kirsten Heinsohn

Panel III: Konsum

Benjamin Möckel: Ausstieg in die Konsumgesellschaft? Gesellschaftskritik als Konsumpraxis in den 1950er bis 1980er Jahren

Alexander Sedlmaier: Ausstieg aus der Konsumgesellschaft? Die bundesrepublikanische radikale Linke im Kalten Krieg

Kommentar: Jonathan Voges

Panel IV: Gewalt

Tobias Wunschik: Extreme biografische Zäsuren durch extreme politische Entscheidungen. Die RAF-Aussteiger in der DDR (1980-1990)

Lena Freitag: Aussteigen – Staatlich legitimiert und doch unerwünscht. Zur Etablierung des Zivildienstes im Zeichen sich verändernder Geschlechtervorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich

Kommentar: Martin Geyer

Panel V: Subjektverhältnisse

Maik Tändler: „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“. Bhagwan und der therapeutische Ausstieg aus der Gesellschaft.

Pascal Eitler Politische Transformation und religiöse Konversion. "Aussteigen" und "Aufsteigen" im "New Age" (1970-1990)

Kommentar: Annelie Ramsbrock

Panel VI: Arbeit

Philipp Milse: Das emanzipatorische „Nein!“. Do-It-Yourself und Punk zwischen Gegenkultur und Ausstieg

Daniel Schmidt: Aussteigen als (romantisches) Experiment: Eine (Ideen)Geschichte der Occupy-Bewegung

Kommentar: Britta-Marie Schenk

Schlusskommentar
Detlef Siegfried, Bernd Weisbrod


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