5. Kartengeschichtliches Kolloquium

5. Kartengeschichtliches Kolloquium

Organisatoren
Ute Schneider, Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Duisburg-Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2016 - 11.06.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Lena Thiel, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel

Karten faszinieren und begeistern in ihrer Vielfalt, Form und Ausgestaltung, sie erklären, interpretieren und inszenieren die Welt seit Jahrhunderten. Dies stellte zum nunmehr fünften Mal das Kartengeschichtliche Kolloquium heraus, das am 10. und 11. Juni in Essen stattfand. Finanziert durch die Dr. Reissner-Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und unter Leitung von Ingrid Baumgärtner, Ute Schneider und Martina Stercken, hatten NachwuchswissenschaftlerInnen die Möglichkeit, ihre Qualifikationsarbeiten vorzustellen und zu diskutieren. Gerade diese Kontinuität, wie Gastgeberin Ute Schneider in ihrer Einführung betonte, kennzeichnet das Kolloquium, welches erstmals 2011 in Zürich stattfand und seitdem bereits in Kassel, Essen und Paris tagte. Die Veranstaltung bietet jungen WissenschaftlerInnen eine expertisenreiche Plattform zur Präsentation und Diskussion ihrer Qualifikationsarbeiten. Ein kulturgeschichtlicher Ansatz verbindet die epochen- und disziplinübergreifenden Themen, die gerade erst in dieser Kombination Synergieeffekte entstehen lassen.

Zu Beginn widmete sich OLIVER KANN (Erfurt / Essen) der Kartografie während des Ersten Weltkriegs. In seinem Dissertationsprojekt kontrastiert er die kartografische Praxis an der Westfront mit den Konzepten und Inszenierungen dieses Raumes als Kriegs-Schauplatz für die sog. Heimat. Kann zeigte auf, dass die Verschiebung vom Bewegungs- zum Stellungskrieg auch auf kartografischer Ebene eine neue Phase einleitete: Gefragt waren nun nicht mehr die noch aus Vorkriegszeiten stammenden Aufsichten, sondern möglichst eng gefasste und detailreiche Raumerfassungen. Diese höchst geheimen Karten bildeten einen neuen Typus, der eng mit den Akteuren der Kriegsschauplätze verknüpft war. Ziel war es, über Details wie verschiedene Zäune oder die Lage von Kampfgräben, die Soldatenperspektive möglichst praxisnah zu generieren. In der sogenannten Heimat wurde wiederum der Krieg im Kartenbild inszeniert. Dies verdeutlichte Kann eindrucksvoll am Beispiel des Schulunterrichts, der Karten in konkreten Lehrsituationen einsetze. Diese sollten nicht nur das Territorium visualisieren, sondern den Krieg in der gemeinsamen aktiven Gestaltung mit den Schülern veranschaulichen und zugleich attraktiv machen. Ein und dasselbe Medium diente demnach sowohl als Hilfsmittel der Soldaten im Stellungskrieg wie auch zur Inszenierung eines entindividualisierten theatre of war in der Heimat.

Um Gefahrenzonen ging es auch im Vortrag von MORDECHAY LEWY (Frankfurt am Main): Am Beispiel von acht mittelalterlichen Weltkarten, namentlich der Münchner Isidorkarte, der Sawley- und der Vercelli-Karte, der Londoner Psalterkarte, der Hereford-, Ebstorf- und Aslake-Karten sowie einer Higdenkarte, fokussierte der Vortrag eine eschatologische Region im Südosten, nämlich am Horn von Afrika. Lewy stellte sie der bekannten Sperrzone der Völker Gog und Magog im Nordosten gegenüber. Er zeigte zunächst die negative Semantisierung des Nordens in ihrer biblischen und literarischen Begründung sowie deren weltkartografische Repräsentation als Gog und Magog, die hinter der Kaspischen Pforte eingeschlossen sind. Lewy argumentierte, dass die von ihm untersuchten Karten auch eine südöstliche Endzeitregion aufwiesen, die auf den fünften Kreuzzug und den Fall Akkons im Jahr 1291 zurückginge. Vier der analysierten Karten, die nach diesem Ereignis entstanden, assoziierten eine abgetrennte, eschatologisch aufgeladene Halbinsel in Afrika mit der Kaspischen Pforte (Caspiarum simile). Die anschließende Diskussion nahm diese innovative Auslegung mit regem Interesse auf, erinnerte aber auch daran, die Individualität jeder Karte und ihren Entstehungszusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, was gerade bei der kartenübergreifenden Fokussierung auf einzelne Elemente leicht geschehen könne.

Den zweiten Tag des Kolloquiums mit Workshopcharakter eröffnete die Islamwissenschaftlerin NADJA DANILENKO (Berlin / Essen) mit ihrem Vortrag zu einem geografischen Traktat des 10. Jahrhunderts, dem Book of Routes and Realms von al-Iṣṭaḫrī. Dabei referierte Danilenko über Inhalt und Struktur des bis ins 19. Jahrhundert hinein in immer wieder neuen Abschriften überlieferten Werks, bevor sie dessen Kartenkonzept analysierte. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die verschiedenen Regionalkarten wie bei einem Puzzle aneinandergefügt werden können, wodurch ein Raum entsteht, der sich durch seine Homogenität, Flexibilität und einheitliche Ästhetik auszeichnet. Ziel sei somit die Vorstellung und Memorierung von Raum gewesen. Der abschließende Fokus auf die Manuskripttradition der insgesamt 50 überlieferten und zudem zu zwei Dritteln auf Persisch verfassten Handschriften aus dem Zeitraum 1173–1893 zeigte die geringen Veränderungen bei den Kopiervorgängen. Dies animiert wiederum dazu, den Blick auf genau diese feinen Unterschiede zu richten. Dazu gehören politische Akzentuierungen, wie die Betonung von Mekka als Zentrum, ebenso wie scheinbar rein ästhetische Modifikationen.

Die Individualität von Karten trotz vermeintlich großer Ähnlichkeit stand im Zentrum des Vortrags zu den Polychronicon-Karten. CORNELIA DREER (Kassel) präsentierte ihre Überlegungen zu Entwurf und Produktion der Weltkarten im Werk des Benediktiners Ranulph Higden, das in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand und in mehr als einhundert Abschriften überliefert ist, von denen insgesamt fünfzehn eine Weltkarte enthalten. Diese Weltdarstellungen sind entweder oval oder mandelförmig und erstrecken sich in den vergleichsweise kleinformatigen Codices über eine oder zwei Seiten. Dreer widmete sich zunächst der Vermittlung geografischen Wissens und räumlicher Vorstellungen im Text des Polychronicon, ehe sie die Karten und ihre Machart miteinander verglich. Dabei erläuterte Dreer ihre These, wonach die Skizzenhaftigkeit darauf zurückzuführen sei, dass die bei der Lektüre mental entstehenden Raumvorstellungen anschließend in das Kartenformat überführt würden. Demnach basieren die Polychronicon-Karten nicht etwa – wie von der Forschung lange Zeit behauptet – auf visuellen Vorlagen, sondern sind vielmehr die jeweils individuelle Skizzierung eines Raumes aufgrund von Gedächtnisleistung und Vorstellungskraft. Die Karten in ihrem kodikologischen Kontext stehen somit für einen zeitgenössischen Umgang mit Wissen, der für das Verfassen eines Textes, das Zeichnen einer Karte und die Rezeption beider ähnliche Fähigkeiten erforderte.

Die Einbindung von Karten in ein wiederum eigenes Bildformat stand im Zentrum des Vortrags von ANDREA SCHERER (Zürich). Scherer rückte Plakate Palästinas, die kartografische Darstellungen integrieren, in den Fokus und fragte, inwiefern die zionistische Bewegung diese einsetzte, um eine kollektive Identität zu konzipieren. Die Referentin erörterte drei Poster aus den Jahren 1925 und 1947, die allesamt in einer Kombination aus Bildern, Texten und Karten die Rückkehr in eine verlorene Heimat inszenieren. Als erstes Beispiel diente ein Spendenaufruf des Jüdischen Nationalfonds (KKL) von 1925, der mit seiner Darstellung Palästinas vor der Aufteilung des Nahen Ostens für einen Rückkauf des Landes warb. Dieses Ziel verfolgte das Plakat auf mehreren Ebenen: Erstens zeigt es die Spendendose des KKL, auf der selbst wiederum eine Karte abgebildet ist. Zweitens hebt es die KKL-finanzierten Siedlungen im Vergleich zu den privaten besonders hervor. Drittens stellt das Poster das de facto bereits von arabischer Seite besiedelte Gebiet bewusst als nahezu leere Wüste dar, um weitere Spenden zu akquirieren. Die beiden anderen Plakatbeispiele, eines für die Ausstellung des Nahen Ostens in Tel Aviv (1925), ein zweites, doppelseitiges von ca. 1947, das vor der Diaspora warnte und die Siedlungen im Palästina als Oasen inszenierte, untermauerten Scherers These, dass die Plakate das Medium Karte nutzten, um den Aufbau des Staates zu sanktionieren, zu bejubeln und somit eine zionistische Identität zu festigen.

Abschließend rückte REBEKKA THISSEN (Kassel) den Katalanischen Weltatlas von 1375 und seine Raumpraktiken ins Zentrum, die sie wiederum anhand von zwei Mustern erläuterte: erstens die Welt zu erfahren und zu erschließen, zweitens die Welt zu erklären und zu eröffnen. Für das erste Beispiel diente ihr die Iberische Halbinsel, in der das über ein Kreuz markierte Granada zum Symbol einer christlichen Sehnsucht wird, da die Stadt zur Entstehung des Atlas de facto unter muslimischer Herrschaft war. Thissen bezog dies auf die Reconquista, da die religiös motivierte Rückeroberung und zugleich die Herrschaftsaneignung als eine „Dialektik von Macht und Ohnmacht“ erscheinen. Im zweiten Beispiel schuf Thissen den Bezug der Atlastafeln mit astronomisch-kosmologischen Texten und Diagrammen zu den politischen Implikationen der kartografischen Darstellung. Unter Hinzuziehung der Texteintragungen veranschaulichte sie, dass der Ärmelkanal, im Hundertjährigen Krieg eine besondere Gefahrenzone, den Ausgangspunkt für die Berechnungen in einem Gezeitendiagramm bildet, das – obwohl nicht genuiner Inhalt der kartografischen Darstellung selbst – gleichsam den politischen Raum absicherte. Der Umstand, dass der Atlas ein Geschenk der aragonesischen Krone an den französischen König war, stützt und betont diese politische Komponente.

Die abschließenden Gespräche verdeutlichten die weiterführenden Ergebnisse der Tagung, die sich vor allem in angeregten Diskussionen und der regen Beteiligung der Anwesenden niederschlugen. Die Vorträge aus unterschiedlichen Epochen und Disziplinen ließen vielfach wechselseitige Anknüpfungspunkte zu, wie etwa die Bedeutung der politischen Dimension von Karten. Das Kolloquium unterstrich somit nochmals den Wert eines kontinuierlichen Austausches unter young professionals, weshalb das nächste Treffen dieses Netzwerks für Juni 2017 in Zürich vorgesehen ist.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Ute Schneider

Sektion I
Moderation: Ute Schneider

Oliver Kann (Erfurt/Essen): Die Kartierung der Westfront. Kriegsvermessung und Kartographie 1914-1918

Mordechay Lewy (Frankfurt am Main): Bekannte und unbekannte Ecken der Endzeit in Mappe mundi zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert

Sektion II
Moderation: Timo Celebi

Nadja Danilenko (Berlin/Essen): Picturing the Islamicate World in the Tenth Century. The Book of Routes and Realms and its Reception

Cornelia Dreer (Kassel): Das Weltbild zur Chronik: Entwurf und Reproduktion von ‚Polychronicon’-Karten

Sektion III
Moderation: Nils Bennemann

Andrea Scherer (Zürich): Kartographische Konzeption kollektiver Identität: Plakate Palästinas zwischen 1920 und 1948

Rebekka Thissen (Kassel): Die Welt erklären, erfahren und erschließen – der Katalanische Weltatlas


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger