Gemeinschaftsformen der Moderne - Mechanismen eines Konstrukts

Gemeinschaftsformen der Moderne - Mechanismen eines Konstrukts

Organisatoren
Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen; SFB 923 "Bedrohte Ordnungen"; Deutsch-Amerikanisches Institut Tübingen (d.a.i.); Förderverein für Geschichte an der Universität Tübingen e.V.
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2016 - 24.06.2016
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Von
Maude Williams, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität / Paris-Sorbonne (Paris IV); Daniel Hadwiger / Agnès Vollmer, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Wie werden Gemeinschaften konstruiert? Dieser Frage ging der interdisziplinäre Workshop „Gemeinschaftsformen der Moderne-Mechanismen eines Konstrukts“ vom 22.–24. Juni 2016 an der Universität Tübingen nach. Der Workshop, gefördert durch die Graduiertenakademie der Universität Tübingen, wurde in Kooperation mit dem Seminar für Zeitgeschichte, dem Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“, dem Deutsch-Amerikanischen Institut Tübingen (d.a.i.) und dem Förderverein für Geschichte an der Universität Tübingen e.V. durchgeführt. Ziel der Tagung war es, durch die Untersuchung der Prozesse von Vergemeinschaftung nach Möglichkeit spezifische Mechanismen herauszuarbeiten, die zur Konstruktion von „imagined communities“ führen.

Die erste Sektion des Workshops, Medien und Gemeinschaftsbildung, wurde vom Soziologen Boris Nieswand (Tübingen) moderiert und beschäftigte sich mit der Frage des Einflusses von Medien unterschiedlicher Natur bei der Bildung von Gemeinschaften.

CORRIE EICHER (Frankfurt am Main) untersuchte in ihrem Beitrag die Rolle des „Forums“ als neuartige Kommunikationsform in alternativen Lebensgemeinschaften. Mithilfe von ethnographischen und qualitativen Methoden analysierte sie die Techniken, die im Rahmen des „Forums“ angewendet wurden, um zur Vergemeinschaftung zu führen. Dabei konnte sie feststellen, dass das „Forum“ der Freisetzung bisher verschlossener Lesarten in Sozialbeziehungen diente und sich durch eine hohe Selbstdarstellungsverpflichtung auszeichnete. Wichtig für diesen Prozess der Vergemeinschaftung ist die Schlüsselposition der Leitung des „Forums“, die durch die Schaffung einer positiven Stimmung die Freisetzung von Gefühlen ermöglichen soll.

In seinem Vortrag trug CHRISTIAN ZIMMMERMANN (Frankfurt am Main) die These vor, dass bürgerschaftliches Engagement für Angelegenheiten maßgeblich von massenmedialer Produktion von Nichtinformation, bzw. von Informationsunsicherheit bestimmt wird. Diese These bezog sich reflexiv auf die Beobachtung eines 'Wir-Gefühls'. Diese Reflexion lässt sich laut Zimmermann allerdings durch Massenmedien nicht vollständig auflösen, weil das Publikum durch Massenmedien von einer direkten Kommunikation ausgeschlossen ist. Die Faszination für Engagement ergibt sich demnach aufgrund von Irritationserfahrungen durch Massenmedien, die sich in der Folge in selbstorganisierten Gemeinschaften, Gruppen, Initiativen aussprechen und Handlungsbereitschaft motivieren, deren Erfolg maßgeblich wiederum von massenmedialer Resonanz abhängig ist.

SVEN OLIVER MUELLER (Tübingen) zeigte in seiner Key Note über das Hörverhalten des Konzertpublikums im 19. Jahrhundert die zunehmende Disziplinierung des Publikums in den Konzert- und Opernsälen Europas auf. Waren Konzerte zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein Raum des Austausches und des Gesprächs zwischen den Besuchern, kam es mit der Professionalisierung der Musiker und einem zunehmend bürgerlichen Publikum zur „Erfindung des Schweigens“ und einem disziplinierten Hörverhalten, in dessen Zentrum nun die Musik stand. Dabei wies Sven Oliver Müller auf die Bedeutung von Emotionen bei der Gemeinschaftsbildung hin, die insbesondere in der Musik zum Tragen kämen.

Die Sektion „Volksgemeinschaft“ unter der Moderation von Julia Torrie (Fredericton) am folgenden Tag eröffnete NIKOLAS LELLE (Berlin) mit einem Beitrag zu Vergemeinschaftungsprozessen am Beispiel von „deutscher Arbeit“. Arbeit wird dabei als gemeinschaftsstiftender Dienst an der Volksgemeinschaft verstanden und der Einzelne danach bewertet, was er für die Gemeinschaft leiste. Wichtig sei dabei weniger, was der Einzelne arbeite, sondern vielmehr, wie er es leistet – uneigennützig und opferbereit für die Gemeinschaft. Widersprüchlich bleibt dabei jedoch die Absage von Eigenverantwortung, die ein Verantwortungsgefühl für Andere erst erzeugen könne.

TORBEN MÖBIUS (Bielefeld) untersuchte am Beispiel der nationalsozialistischen Industriebetriebsgemeinschaft insbesondere anhand von inkludierenden Elemente wie eine (Arbeits)Gemeinschaft kreiert werden sollte. Der Arbeiter sollte langfristig an den Betrieb gebunden werden, Programme wie Kraft durch Freude oder Reichsberufswettkämpfe sollten die Arbeitsmotivation beflügeln. Möbius appellierte dabei, mehr auf die „weichen“ Strukturen wie Arbeitsatmosphäre und die Zusammenarbeit in den Betrieben zu achten als nur auf Lohnstrukturen. Die anschließende Diskussion hob die Wahrnehmung von Zwangsarbeit und Arbeitslagern für die „deutsche Arbeit“ hervor und fragte nach spezifischen Prozessen der Gemeinschaftsbildung während des Nationalsozialismus. Zudem sei ein Vergleich zwischen Angestellten und Arbeitern sowie eine pragmatischere Entwicklung der NS-Betriebsgemeinschaft mit Beginn des Zweiten Weltkrieges interessant zu untersuchen.

Die Frage nach der „Nation“ als Form der Gemeinschaft war Gegenstand der dritten Sektion, die Daniel Hadwiger (Tübingen) und Johannes Grossmann (Tübingen) moderierten.

THOMAS NOLTE (Tübingen) lieferte eine Analyse der im Werk von Ferdinand Raimund, Der Alpenkönig und der Menschenfeind angewendeten Strategien des „Nation building“ in der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und der 1848er Revolution. Anhand der dem Wiener Volkstheater zugehörigen Komödie von Ferdinand Raimund konnte er herausarbeiten, dass die dabei angewandten Ordnungsmechanismen sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Nationalismus, Staat und Ökonomie bewegen. Die Nation wird vor allem durch Symbole der Metternich-Ära und hauptsächlich durch die Figur des Alpenkönigs konstruiert und vermittelt.

In dem historischen Prozess des „Nation building“ fokussierte sich DANIELA SIMON (Tübingen) auf die Hybridität und Gemeinschaftsbildung in Istrien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie untersuchte die Prozesse der habsburgischen Herrschaftssicherung und Kategorisierungen der Bevölkerung. Sie stellte heraus, dass die Multikulturalitätspolitik der Habsburger auf die Homogenisierungsbestrebungen der nationalen Bewegungen der Italiener und Slawen stieß. Die Hybridität war in diesem Zusammenhang, je nach Perspektive eine positive oder negative Ressource im Gemeinschaftsbildungsprozess. Für die Habsburger konnte zunächst die Hybridität einer Gesellschaft bewahrt werden, und wurde noch in den 1880er-Jahren als eventuelles Erfolgsmodells eines multikulturellen Habsburgerreiches gesehen. Anschließend sollte jedoch auch die Bevölkerung Istriens aus der Sicht Österreichs nationalen Kategorien zugeordnet werden. Auch andere nationalen Bewegungen im istrischen Raum lehnten zusehends diese Hybridität ab und plädierten für eine stärkere Identifizierung beispielsweise durch die Sprache.

Zum Schluss der Sektion untersuchte JOHANNES SCHUETZ (Dresden) die Konstruktion des Nationsdiskurses in der DDR durch die SED am Beispiel Dresdens und die darauffolgende Reaktion der Bevölkerung. Er stellte fest, dass die SED ein eigenes Verständnis der Nation in die DDR-Gesellschaft einzuschreiben versuchte, wonach Deutschland in zwei Nationalverbände getrennt sei: eine kapitalistische Nation im Westen und sozialistische Nation im Osten. Der Diskurs, die DDR als eine sozialistische Nation darzustellen, sprach die Bürger nicht an, insbesondere familiäre Ost-West-Beziehungen passten nicht in das neue Nationsverständnis. Die Bevölkerung Dresdens fühlten sich nicht von diesem Diskurs angesprochen und entwickelte in Reaktion darauf ein Gegenbild, das sich noch stärker auf eine nationale Gemeinschaft bzw. die deutsche Nation konzentrierte, die auf ethnischer Homogenität basierte.

Unter der Moderation von Maude Williams (Tübingen/ Paris) wurde im vierten Panel „Kommunismus und Gemeinschaft“ – ähnlich wie bei den vorhergehenden Sektionen zur Volksgemeinschaft und zur Nation – ebenfalls die Wirkmächtigkeit einer Idee für eine Gemeinschaft untersucht.

AGNÈS VOLLMER (Tübingen) zeigte am Beispiel der 1966 gegründeten World Anti-Communist League (WACL) die Rolle von antikommunistischen Medien bei der Vergemeinschaftung unterschiedlicher Länder auf. Die WACL wurde dabei zu einer transnationalen Plattform des Austauschs zwischen sehr unterschiedlichen Akteuren, die jedoch in der heraufkommenden Zeit der Détente in den 1970er-Jahren den Kommunismus für unterschätzt hielten und gemeinsam auf die „rote Gefahr“ hinweisen wollten. In der Diskussion wurde nach einer hierarchischen Rangordnung bestimmter Länder innerhalb der WACL gefragt, das Ende der Organisation mit dem Zusammenbruch des Kommunismus sowie sein Fortbestehen in Asien diskutiert.

Zum Abschluss des Konferenztages hielt GILES SCOTT-SMITH (Leiden) die zweite Key-note des Workshops. In seinem Beitrag thematisierte er die Bedeutung des Exils als Teil von Gemeinschaftsbildung. Dabei ging er auf die Rolle von (ost-)europäischen Exilanten- und Emigrantengruppen in den USA für die transatlantischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, insbesondere während des Kalten Krieges, ein. Er erörterte die Frage, inwiefern diese Exilantengruppen einen besonderen Raum für einen (transatlantischen) intellektuellen Austausch bildeten und wie es dazu kam, dass diese Gruppen und ihre Akteure zu politischem Einfluss in den USA gelangen konnten. Dabei wurde vor allem auf die Rolle des Antikommunismus als verbindendes Element innerhalb der Exilgemeinschaften, aber auch zwischen der US-Regierung und den einzelnen Gruppen verwiesen. Im Anschluss wurde die eigenartige Dynamik zwischen den Exilantengruppen untereinander, aber auch mit der US- Regierung, sowie die Bedeutung des Exils für die amerikanische Politik während des Kalten Krieges diskutiert.

Den Auftakt zum dritten Konferenztag bildete unter Moderation von Silke Mende (Tübingen) der Beitrag von ROBERT TROSCHITZ (Dresden). Er analysierte in seinem Vortrag den Wandel und die Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs für die englische Universität seit den 1940er-Jahre bis in die Gegenwart. Ausgehend von dem in den Colleges von Oxford und Cambridge geprägten Ideal der Universität als Lebens- und Wertegemeinschaft, zeichnete er in seinem Beitrag nach, wie sich Studenten, ab den 1960er-Jahren immer weniger mit der eigenen Bildungsinstitution identifizierten und sich zunehmend als Teil einer (inter-)nationalen Gemeinschaft verstanden, jedoch vor allem in Krisenzeiten eine universitäre Solidargemeinschaft neu entstehen ließen. Dabei untersuchte er insbesondere, inwiefern Vergemeinschaftung auch als Instrument der Legitimation von Macht und Autorität galt.

Im Anschluss daran thematisierte UWE DÖRK (Dresden) die Rezeption der begrifflichen Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft (Ferdinand Tönnies) innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) während der Weimarer Republik. Er beleuchtet einerseits den Zusammenhang zwischen Epistemologie und Geselligkeitskonzepten und zeigte andererseits, dass dieser Konnex je nach Akzentsetzung auf Gesellschaft oder Gemeinschaft unterschiedlich gestaltet wurde, mit jeweils weitreichenden politischen Implikaten. Diese fächerten sich in einem inkohärenten Prozess während der 1920er-Jahre in ein Spektrum von völkisch- gemeinschaftlichen, kommunistisch- kommunitären und liberalen gesellschaftsorientierten Konzeptionen auf.

Den letzten Vortrag des Workshops hielt CHRISTIAN WEVELSIEP (Bochum). In diesem abschließenden Beitrag unter Moderation von Maude Williams setzte er sich mit modernen Erinnerungskulturen auseinander. Er thematisierte die Schwierigkeit der Begründung transnationaler Erinnerungspolitik, die sich an verschiedenen Widersprüchen wie dem Vorbehalt der Unübertragbarkeit von Primärerfahrungen und dem Zweifel an Meisternarrativen „abarbeiten“ müsse. In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere die Rolle von Erinnerung als Mechanismus der Vergemeinschaftung für Opfer- und Tätergemeinschaften besprochen. Zudem wurde über die Schwierigkeiten der Erinnerungspolitik unterschiedlichen und konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften gerecht zu werden, nachgedacht.

In der Abschlussdiskussion des Workshops wurden die verschiedenen Instrumenten von Vergemeinschaftung zusammengefasst. Neben Emotion, einer Idee (Nation, politische Ideologie, Religion) ist es nicht zuletzt Sprache, die ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln kann oder zu Abgrenzungen nach außen führt. Insbesondere Personen des „Dazwischen“ oder hybride Zugehörigkeiten eignen sich, um nationale oder ideelle Eigenarten deutlicher herauszuarbeiten. Dies wurde insbesondere in dem Beitrag von Daniela Simon zu Istrien im 19. Jahrhundert oder Giles Scott Smiths Beitrag zu Exilanten während des Kalten Krieges deutlich.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Medien und Gemeinschaftsbildung

Corrie Eicher (Frankfurt am Main), Leitung in Selbsterfahrungsgruppen–eine empirische Analyse

Christian Zimmermann (Frankfurt am Main), Faszination für Engagement. Bürgerinitiativen als Faszinationsgemeinschaften

Key Note
Sven Oliver Müller (Tübingen), Die Erfindung des Schweigens. Hörverhalten als Gemeinschaftsbildung im Konzertpublikum des 19. Jahrhunderts.

Sektion II: Volksgemeinschaft

Nikolas Lelle (Berlin), Deutsche Arbeit und Volksgemeinschaft im Dritten Reich und (früher) Nachkriegszeit

Torben Möbius (Bielefeld), Arbeit für die „Volksgemeinschaft“. Die soziale Praxis der Vergemeinschaftung in der NS-Betriebsgemeinschaft

Sektion III: Nation building

Thomas Nolte (Tübingen), Gerahmte Strategien des nation building in Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind

Daniela Simon (Tübingen), Hybridität und Gemeinschaftsbildung in Istrien, 1870-1914

Johannes Schütz (Dresden), Dresden bleibt deutsch? Die Nationsimaginationen in der DDR am Beispiel des Bezirks Dresden 1969-1990

Sektion IV: Kommunismus und Gemeinschaft

Agnès Vollmer (Tübingen), Uniting in the “gallant struggle”. Intercultural communication strategies in anti-Communist media and the formation of a global anti-Communist community during the period of Détente

Key Note: Giles Scott-Smith (Leiden), Exiles on Main Street. Cold War Intellectuals, Diasporas, and the Transatlantic Community

Sektion V: Schule als Gemeinschaftsorte

Robert Troschitz, (Dresden) Eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden? Die englische Universität zwischen Autonomie, Wohlfahrtsstaat und Markt

Uwe Dörk, (Dresden) Erkenntnis- und Verhaltenslehren einer Wissenschaftscommunity: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

Sektion VI: Erinnerung und Gemeinschaft

Christian Wevelsiep (Bochum), Zwischen Standardisierung und Authentizität. Wege zu einer globalen Erinnerungskultur


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