'Stroh oder Gold': Praktiken der Aufwertung, Umwertung, Abwertung in Mittelalter und Neuzeit

'Stroh oder Gold': Praktiken der Aufwertung, Umwertung, Abwertung in Mittelalter und Neuzeit

Organisatoren
International Max Planck Research School for the History and Transformation of Cultural and Political Values in Medieval and Modern Europe
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2004 - 24.09.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Esther Münzberg, Int. Max Planck Research School for History

Der Wertbegriff gehört nach wie vor zu denjenigen Begriffen, die für die Fragestellungen aller historischen Disziplinen grundlegend sind. Denn historische Kulturen und Lebenswelten lassen sich über die Werte und Normen, die in ihnen als gültig angenommen werden, prägnant beschreiben. Dazu werden häufig umfassende und kohärente Wertsysteme extrapoliert, denen handlungsleitende Funktion zugeschrieben wird. In Anbetracht dieser Verwendung, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann, sollte die Göttinger Tagung danach fragen, welche Probleme der Wertbegriff nach den jüngeren kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen ansprechbar macht, und welche Ergebnisse seine Verwendung produziert.

In seiner kurzen Einleitung umriss Claudius Sittig (Göttingen) den vorgeschlagenen Fokus der Tagung. Danach sollte der Blick vor allem – gegen die geläufige Makroperspektive – auf situative Operationalisierungen und Aktualisierungen von Wertsystemen gerichtet werden. Dabei würde insbesondere die Vorstellung von der Handlungsmotivation problematisch. Mit ‚Wertung’ stand außerdem ein Begriff im Zentrum, der dazu aufforderte, nicht nur das Repertoire möglicher symbolischer Formen der Auszeichnungen mitzudenken, sondern auch den Blick auf Prozesse der Auf- und Abwertung zu lenken. Insbesondere der Begriff der „Umwertung“ scheint dabei – ungeachtet des polemischen Tons, den er durch seine nietzscheanische Verwendung gewonnen hat – zur Beschreibung derjenigen historischen Momente brauchbar, in denen die Auffassung durchgesetzt werde, dass der Wert eines Objekts eigentlich nach einem anderen Maßstab bemessen werden muss.

Gilbert Heß (Göttingen) stellte in seinem Vortrag „Formen der Validierung in frühneuzeitlichen Florilegien und Enzyklopädien“ die frühneuzeitlichen Textsorten als konservative Medien eines relativ konstanten abendländischen Wissensbestandes und Wertekanons vor. Gleichwohl ließen sich – am Beispiel der Rezeption der ‚Polyanthea’ des Mirabellius - politische, wissenschaftliche und nicht zuletzt konfessionelle Umbrüche implizit an neuen Dispositionen (Selektion und Anordnung der Materialien) ablesen. Dazu gehörten – so Heß – etwa der Wechsel von einer alphabetischen zu einer systematischen Ordnung der Lemmata, während gleichzeitig das Verweissystem konstant blieb. Wenngleich der Florilegienautor in seiner kompilierenden Tätigkeit nicht durch Kommentare wertend hervorgetreten sei, so könnte aus der Selektion und Präsentation der Beiträge auf die intendierte Rezeption durch den Leser dieser Werke geschlossen werden.

Als Literaturgattung, die im Laufe ihrer Geschichte eine ästhetische Abwertung erfahren hat, stellte Fridrun Freise (Göttingen) die Casualdichtung des 18. Jhs. vor („Es ist ein schriftstellerisches Geziere, so schon ziemlich alt ist…“ Bewertung und Umwertung der literarischen Gattung ‚Gelegenheitsdichtung’ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts). Die Gründe für diese schon zeitgenössische Bewertung machte Freise vor allem in dem für die Literatur so bedeutenden Umbruch literarischer Kriterien im 18. Jahrhundert fest. An Beispielen aus Elbinger Gedichtsammlungen zeigte Freise, dass die traditionelle Formelhaftigkeit und der neue Anspruch auf unverstellte Artikulation von „echter Freundschaft“ und „warmer Empfindung“ kollidierten. Eine mögliche Lösung dieses Dilemmas sei für die Gelegenheitsdichtung die bewusste Formulierung ihrer eigenen Unangemessenheit gewesen. Obwohl sie also diesem künstlerischen Anspruch nur unvollkommen genügen konnte, habe sie nach wie vor eine soziale Funktion erfüllt, die auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr rechtfertigt.

In seinem Vortrag zum „Streit der Fakultäten“ untersuchte Marian Füssel (Münster) die Korrelation zwischen den Diskussionen über die Hierarchisierung der frühneuzeitlichen Fakultäten und dem sozialen Status ihrer Vertreter. Entsprechende disziplinäre Auf- oder Abwertung seien gleichzeitig auch Verhandlungen über die Positionen in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft gewesen. Am Beispiel eines Präzedenzstreits zwischen einem Juristen und einem Philosophen Anfang des 18. Jahrhunderts verfolgte Füssel die Argumente der Akteure, die eingesetzt wurden, um sozialen Status zu behaupten oder neue Ansprüche anzumelden. Der philosophischen Fakultät sei dabei im Laufe der Zeit eine „neue Vorreiterrolle bei der Generierung von Werten“ zugekommen, indem sie Anspruch darauf erhob, Geltungszusammenhänge und Prozesse des Wertens selbst zu diskutieren.

In seinem Vortrag über drei Schriften, die in der Folge der Sizilianischen Vesper entstanden, untersuchte Kai-Henrik Günther (Göttingen) die sprachlichen Strategien zur kommentierenden Rechtfertigung der Bluttat („Moriantur, Gallici, moriantur!“: Die sizilianische Vesper 1282). Um der angedrohten Exkommunikation zu entgehen wurde so etwa mit biblischen Typologien die Herrrschaft Karls von Anjou als ägyptische Tyrannis gebrandmarkt und der Aufstand als legitim dargestellt. Tiefgreifender noch waren aber Argumente, die von ethnischer Minderwertigkeit der französischen Besatzer ausgingen und die Grausamkeit des Gemetzels noch betonten. Die durch Bilder vom Eigenen und minderwertigen Fremden konstruierte Identität der Schwureinung sei schließlich für die Gruppe bis in rechtliche Bestimmungen über Ämtervergabe verbindlich geworden.

Am Beispiel der italienischen Quattrocentomalerei stellte Susanne Kubersky-Piredda (Florenz) zeitgenössische Differenzierungen von Wertbegriffen vor. Anhand einer zeitgenössischen Quelle unterschied sie prezzo als Ausdruck von Material- und Aufwandswert und premio im Sinne von Belohnung und Anerkennung von Kunstfertigkeit, künstlerischer maniera und ingenio.
Bezüglich des monetären Werts konnte sie während des 15. Jahrhunderts statistisch eine gewisse Stabilität im unteren und oberen Preissegment nachweisen, ab 1450 sei jedoch eine deutliche Steigerung der Spitzenpreise zu beobachten, während die eigentlichen Materialkosten tendenziell niedriger veranschlagt wurden (geringerer Einsatz teurer Pigmente, Leinwand statt Holztafeln etc.). Hingegen sei die künstlerische Begabung und inventio mehr und mehr in den Vordergrund gestellt worden, Argumente, die auch im Paragone-Streit gegen die Skulptur ins Feld geführt wurden.

Um die Stellung der italienischen Intarsie im zeitgenössischen System der Künste ging es Thomas Rohark (Göttingen) in seinem Vortrag „’Arte del legname’ – die Bewertung von Handwerk in der italienischen Renaissance“. Mit Intarsien verzierte Möbel hätten zur Blütezeit dieser Kunst als Luxusobjekte schlechthin gegolten: für repräsentative Räume wie Studioli oder Sanktuarien der Kirchen sei diese Form des Decorum adäquat empfunden worden. In der heftig geführten Paragone-Diskussion und in gelehrten Diskursen der Zeit hätten die Intarsienarbeiten mit Malerei und Skulptur gleichberechtigt konkurriert. Erst mit der Stilisierung des Malerberufs – insbesondere durch die einflussreichen Schriften Giorgio Vasaris – sei die bis heute vorherrschende Bewertung als Kunsthandwerk und „arte minore“ erfolgt.

Viola Belghaus (Karlsruhe) stellte in ihrem Vortrag ‚„Heilige ohne Verehrung“: das Beispiel der Elisabeth von Thüringen’ besonders die Diskrepanz zwischen ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung und dem praktizierten Armutsideal heraus. So vertrat Belghaus die These, die Heiligenverehrung sei von der Seite der landgräflichen Familie in eine politisch opportune Richtung gelenkt worden. In diesem Sinne seien ebenso Umbauten der Marburger Elisabethkirche wie auch Bildprogramme zu verstehen, in denen die radikalsten Episoden aus dem Leben der Heiligen nur in gemilderter Form verbreitet wurden. Die Memoria der Heiligen sei bewusst nicht auf eine volkstümliche Verehrung in Form einer Wallfahrt angelegt worden. Mit der besonderen Betonung und Inszenierung der königlichen Abstammung sei die Verehrung Elisabeths als einer Armutsheiligen zwar nicht gänzlich verhindert worden, die historische Person habe jedoch ihre provokativen Konturen eingebüßt.

Mit der Reaktivierung des Märtyrerkultes durch das Tridentiner Konzil beschäftigte sich Claudia Gerken (Rom/Trier) („Umwertung des Märtyrerideals in der Kanonisationspraxis des nachtridentinischen Rom“). Sie beobachtete eine Diskrepanz zwischen propagiertem Ideal und der geringen Zahl tatsächlicher Heiligsprechungen. Nicht die große Zahl zeitgenössischer Märtyrer in Asien und Ozeanien wurde einer Kanonisation für würdig befunden, sondern drei in Italien präsente Personen: Karl Borromäus, Philipp Neri und Ignatius von Loyola. Verantwortlich dafür sei zum einen das Bedürfnis nach individualisierbarer imitatio Christi, die in den Viten der Heiligen besonders hervorgehoben und in bildlichen Darstellungen auf Druckgrafiken weit verbreitet worden sei; zum anderen hätte der lokale Bezug der neuen Heiligen eine Rolle gespielt.

Das Basler Antependium und das Heinrichskreuz stellen wohl die heute noch bekanntesten Kunstwerke des umfänglichen Basler Münsterschatzes dar, der den Gegenstand des Vortrags von Lucas Burkart (Basel) bildete („’Der unsichtbare Schatz’ - Zur Konstruktion und Transformation von Werten eines mittelalterlichen Kirchenschatzes in einer proto-bürgerlichen Gesellschaft“). An zwei Ausschnitten aus der Geschichte des Schatzes untersuchte Burkart dessen verschiedene Wertigkeiten: Obwohl sie in nachreformatorischer Zeit nicht mehr in ihrer Funktion als religiöse Kultgegenstände wahrgenommen wurden, seien die Preziosen im 16. Jahrhundert gleichsam als „politische“ Ikonen weiterhin bei Wahl und Bestätigung der Ratsherren eingesetzt worden, so dass sie die Zeit des Bildersturms unbeschadet überstanden hätten. Eine signifikante Umwertung sei bei der Veräußerung des Schatzes Anfang des 19. Jahrhunderts zu beobachten: Nun seien vor allem Goldschmiede (aus beruflichem Interesse), aber erstmals auch kunsthistorisch Interessierte – allerdings nicht aus Basel, sondern aus Berlin – als Bieter aufgetreten.

Thomas Weller (Münster) erläuterte die in der öffentlichen Repräsentation zur Schau gestellte Wertigkeit von gesellschaftlichen Ämtern im städtischen Kontext („’Ratione praecedentiae kein Parth dem andern weichen wollte’. Präzedenzkonflikte in der frühneuzeitlichen Stadt als Strategien der Aushandlung und Aktualisierung von sozialen Wertzuschreibungen“). Damit verschob er die Aufmerksamkeit, die gewöhnlich dem Zeremoniell am Hof geschenkt wird, auf seine Bedeutung für Konflikte in der Stadt. Am Beispiel Leipzigs arbeitete er die parallele Existenz zweier bisweilen konfligierender Ordnungssysteme heraus: Neben die auf dem Herkommen beruhenden innerstädtischen Rangverhältnisse seien landesherrliche Titel und Ämter als Rangkriterien getreten, was eine deutliche Zunahme der Konflikte verursacht habe. Diese hätten sich erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft gelegt und so trotz landesherrlicher Eingriffe weiterhin die Behauptung von Rangunterschieden in der zeremoniellen Praxis notwendig gemacht.

Das anmaßende Verhalten und die damit verbundene Selbstaufwertung der Stadt Lübeck bildeten die Schwerpunkte Iwan Iwanovs (Göttingen) in seinem Vortrag „Kommunikative Rollenspiele und Wertkonflikte auf den hansischen Tagfahrten im frühen 17. Jahrhundert: Brüche in der ‚gesamthansischen’ Identität?“. Das Agieren der Lübecker Delegation im Umfeld einer Gesandtschaft nach Moskau habe den Städtebund in eine Krisensituation gebracht, die fast mit dem Ausschluss der Travestadt geendet habe. Eine Gesandtschaft zum alleinigen Vorteil der Stadt Lübeck, die aber aus Hansemitteln finanziert worden sei, habe an sich schon einen Verstoß gegen geltendes Hanserecht dargestellt. Kritisiert worden seien darüber hinaus sowohl restriktive Informationspolitik als auch undurchsichtige Finanzführung und verletzender Tonfall. Doch unter Überführung in eine Debatte um Gemein- und Eigennutz sei der Vorwurf des Alleingangs entschärft worden. So sei es trotz der sprichwörtlich gewordenen eigennützigen Züge ihrer Politik („der Lubeschen art“) den Lübeckern durch geschickt taktierendes Handeln letztlich gelungen, ihr Verhalten in ein für die gesamte Hanse erfolgreiches Unternehmen umzumünzen und damit die Eskalation der Krise abzuwenden.

Als Kontrapunkt zu den meist der Frühen Neuzeit entnommenen Themen analysierte Carsten Zorn (Erlangen) den „Fall ‚Flexibilität’“ als heute zunächst scheinbar unangefochten positiv konnotierten „Wert“ („Der Fall ‚Flexibilität’. Zur Systemtheorie von Werten und Wertungspraktiken in der modernen Gesellschaft“). Flexibilität, die Eigenschaft des Biegsam-Verformbaren, des Instabilen, biete zwar u.a. durch ihre Ambiguität und den inflationären (oft gedankenlosen) Gebrauch eine besonders breite Angriffsfläche für Abwertungsversuche, etwa durch die Neoliberalismus-Kritik R. Sennets. Anhand der populären Präsentation von Flexibilität (wie Casting- und Containershows), in denen schonungslos die negativen Auswirkungen der Flexibilität dargestellt würden, zeigte Zorn aber, wie unangreifbar sie im heutigen Wertkanon tatsächlich sei, so dass letztlich nur eine Umwertung bliebe, wie sie z.B. im Empire-Projekt (Hardt/Negri) im Sinne einer Überwindung des Empire mit seinen eigenen Mitteln versucht worden sei. Der Erfolg der Flexibilität schließlich sei in Anknüpfung an Luhmann dadurch zu erklären, dass sie als „perfekte moderne Ideologie“ geradezu als einziger Wert übrig bliebe.

Hubertus Büschel (Göttingen) äußerte anhand von Marc Blochs „Die Wundertätigen Könige“ und Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ Vorbehalte an der wissenschaftlichen Praxis, aus Präsentationsformen von „Werten“ auf Urheberintentionen sowie zeitgenössische Rezeption und Akzeptanz zurückzuschließen. („Die Konstruktion der historischen Kategorie ‚Wert’ als ‚master narrative’ der deutschen Universalgeschichte und der französischen Mentalitätsgeschichte zwischen 1900 und 1930“). Er forderte in Anknüpfung an Überlegungen zum Konzept der „Meistererzählung“ eine verstärkte Reflexion des wissenschaftlichen Schreibvorganges. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass Historiographie immer auch Autobiographie sei. Insbesondere bei der Erforschung von Werten und Wertewandel plädierte Büschel angesichts des quellenbedingt problematischen Zugangs zur Wahrnehmung historischer Akteure für die Kenntlichmachung von Zweifeln an der Eindeutigkeit auch scheinbar unproblematischer Zeichen.

Die hier nur verkürzt wiedergegebenen Vorträge aus verschiedenen Bereichen der kulturhistorischen Forschung zeichneten ein facettenreiches Bild der gegenwärtigen produktiven, aber auch problematischen Verwendung des Begriffs Wert. Ausgehend von den „Statusdifferenzen“, die sich als Praktiken der Auf- und Abwertung beschreiben lassen, reichten die Überlegungen weit über Systematisierungsversuche, etwa in der Gegenüberstellung materieller versus postmaterieller Werte, hinaus. Die Relevanz der Diskussion um Werte und Wertewandel zeigte sich – handlungsbezogen und mit Blick auf die historischen Akteure – für konkrete Situationen wie auf wissenschaftstheoretischer Ebene.


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