Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Europa (19. und 20. Jahrhundert)

Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Europa (19. und 20. Jahrhundert)

Organisatoren
Hugo-Preuß-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.05.2016 - 28.05.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Felicia Kompio, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Konferenz unter dem Titel „Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Europa (19. und 20. Jahrhundert)“ befasste sich mit der Entwicklung von Wahlrecht in europäischen Staaten und den USA und versuchte vor allem die jeweils zeitgenössischen Konfliktlinien und -felder offenzulegen. Dabei kristallisierten sich drei wichtige Punkte heraus: die Frage des Frauenwahlrechts, das Verhältnis von Theorie und Praktikabilität bzw. von Ideen und Strukturen, sowie die Frage, ob Wahlrechtsvorstellungen und -ordnungen von oben oder von unten gewollt waren.

STEFAN GRÜNER (Erlangen-Nürnberg) begann die Länderstudien mit einem Überblick zur französischen Wahlrechtsgeschichte zwischen 1848 und 1946. Er konnte herausarbeiten, dass das allgemeine Wahlrecht in der französischen Geschichte stark emotional besetzt war und in Debatten häufig mit der republikanischen Staatsform und der Republik als historischer Erscheinung in eins gesetzt wurde. Daneben wurde die französische Entwicklung vor allem dadurch geprägt, dass die bedeutenden Wahlrechtsdebatten stets mit politischen und/oder sozialen Umwälzungen auf einer weit größeren Skala verbunden waren: Wahlrecht war eine revolutionäre Frage.

In ihrem Blick auf Großbritannien konzentrierte MONIKA WIENFORT (Wuppertal) sich vornehmlich auf den Diskurs zur Frage des Frauenwahlrechts. Dabei machte sie zunächst deutlich, dass sich die englische Forschungsperspektive von der kontinentalen unterschied und in allen Wandlungen doch immer eine positive Nationalgeschichte des Wahlrechts erzählte. Dies wurde erst langsam in den 1970er-Jahren durch feministische Ansätze aufgebrochen. Eine daran angelehnte Diskursgeschichte zeigte die Codierung des Lokalen als unpolitisch, den mühsamen Übergang von der Repräsentation von Gruppen zum individuellen Wahlrecht und die Verbindung von geheimer Wahl und dem Rückgang gewaltsamer Wahlbeeinflussung auf.

DIAN SCHEFOLD (Bremen) bot einen ereignisgeschichtlichen Abriss der Wahlrechtsfrage in über 150 Jahren italienischer Verfassungsgeschichte. Diese war von den konkurrierenden Regionen, einem langwierigen Überhang der Honoratiorenpolitik und schließlich, nach dem Zweiten Weltkrieg, von diversen Wahlreformen innerhalb einer nicht eindeutigen Verfassung geprägt. Besonders stellte Schefold die Gegenüberstellung von exekutiv gelenkter Verwaltung und demokratischen Institutionen heraus, die nicht zuletzt fortgesetzte Wahlbetrugsdebatten beförderte.

Im Gegensatz dazu machte der Staat sich im Deutschen Kaiserreich durch Eingriffe in die Wahlen zum Akteur, wie PETER STEINBACH (Berlin) in seinem Vortrag verdeutlichte. Der Staat wurde zunehmend als Partei wahrgenommen und so angreifbar. Diese und andere Entwicklungen machten deutlich, dass Wählen erst einmal gelernt werden wollte. Die Reichstagswahlen waren darüber hinaus von schwankender Politisierung geprägt, unter anderem da die Haushalts- nicht mit der Legislaturperiode übereinstimmte. Insgesamt stieg die Wahlbeteiligung im Kaiserreich stark an, ein Hinweis darauf, dass der Lernprozess voranschritt.

In Österreich versuchten die alten Eliten die Wirksamkeit der Demokratisierung durch ein indirektes Kurienwahlsystem bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts einzuschränken. KARL UCAKAR (Wien) stellte im Anschluss die Debatten um Mehrheits- und Verhältniswahlrecht in der Ersten Republik dar und betonte, auch in seinem Blick in die Zweite Republik, die enge Verbindung zwischen der Parteien- und der Wahlrechtsentwicklung.

GEORG KREIS (Basel) konzentrierte sich in seinem Blick auf die Schweiz auf das Frauen- und Ausländerwahlrecht und konnte herausarbeiten, dass beide Gruppen mit ähnlichen Hindernissen zu kämpfen hatten. Kreis betrachtete die stark föderale Struktur als ein Hindernis, die direkte Demokratie, die dazu führt, dass die Wähler durch eine Erweiterung der Wählerschaft ihre eigene Stimme schwächen, als ein weiteres. Außerdem waren die Debatten in beiden Fällen durch die Frage geprägt, was die neuen Wählergruppen beizutragen hätten (und etwa – angeblich – keine Steuern zahlten) und nicht um ein Grundrecht aller Ansässigen.

Im erkenntnisreichsten, weil thesenstärksten Vortrag der Konferenz, stellte HEDWIG RICHTER (Greifswald) die Frage nach dem Siegeszug der Massenwahlen. Mit vergleichendem Blick auf Preußen und die USA konnte sie zeigen, dass Wahlen als Disziplinierungsinstrument und Instrument der Staatsbildung durchaus stark im Interesse der Eliten lagen und keineswegs nur von „unten“ gefordert wurden. Durch Wahlen konnte der Staat seinen Zugriff auf das Individuum verstärken, da sie als Zensus genutzt wurden. Kriminalistik, Steuererhebung, geographische Durchdringung profitierten davon. In konservativer Perspektive waren Wahlen allerdings darüber hinaus Mittel, um performativ die soziale Hierarchie zu bestätigen, den Nationalismus zu befördern und die Eliten in ihren angestammten Machtpositionen zu legitimieren.

Zurückkehrend zu den staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Fragen, zeigte KATHRIN GROH (München) in den Debatten zum Wahlrecht in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik das rahmengebende Spannungsfeld zwischen Theorie und Praktikabilität auf, aus dem das personalisierte Verhältniswahlrecht Deutschlands zu erklären ist.

Zum Abschluss bot HOLGER CZITRICH-STAHL (Berlin) einen Überblick zu Wahlrechtsauseinandersetzungen im Preußen des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, überwiegend aus Sicht der SPD und mit Blick auf die speziellen Probleme des Dreiklassenwahlrechts. Auf diese Weise konnte er die Emanzipationsfunktion des Wahlrechts für die deutschen Arbeiter herausarbeiten, die sowohl in den organisierten Aktionen zu seiner Erlangung als auch in seiner Ausübung bestand.

Insgesamt bot die Konferenz einen Überblick zum Thema, quer durch Europa und zwei Jahrhunderte. Deutlich wurde dabei, dass in den untersuchten Konflikten jeweils wesentlich mehr ausgehandelt wurde, als die Frage der Wahlberechtigung oder des -modus. Dieser Umstand macht Wahlen zu einem lohnenden Untersuchungsgegenstand gerade dann, wenn medien-, kommunikations-, geschlechter- und wahlhistorische Fragen verbunden und in einer vergleichenden oder transnationalen Perspektive betrachtet werden. Auf dieser Konferenz standen die einzelnen Beiträge noch unverbunden nebeneinander.

Leider weitgehend unbeachtet blieben Motive wie das Misstrauen gegen Unterschichten für direkte und indirekte Wahlrechtseinschränkungen zu verschiedenen Zeitpunkten, ebenso wie eine Kontextualisierung des Wahlrechts als ein Element sozialer Praxis unter anderen Praktiken der Partizipation, des Ausschlusses und der Hierarchisierung/Rollenzuweisung ausblieb. Hier hätte sich auch ein Gegenwartsbezug angeboten, der leider nur in Ansätzen aufgenommen wurde.

Konferenzübersicht:

Monika Wienfort (Wuppertal): Diskursgeschichte des Wahlrechts in Großbritannien

Stefan Grüner (Erlangen-Nürnberg): Wahl- und Stimmrechtskonflikte in Frankreich von der Dritten bis zur Fünften Republik

Dian Schefold (Bremen): Italienisches Wahl- und Stimmrecht zwischen Regierbarkeit und politischer Gleichheit

Peter Steinbach (Berlin): Wahlkämpfe und Wahlrechtskonflikte im Deutschen Kaiserreich

Karl Ucakar (Wien): Wahlrechtskonflikte in Österreich vom späten Habsburgerreich bis in die Zweite Republik

Georg Kreis (Basel): Wahl- und Stimmrechtsdebatten in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung des Frauen- und Ausländerstimmrechts

Hedwig Richter (Greifswald): Das Interesse der Obrigkeit am Wahlrecht. Preußische Städtewahlen im Vergleich mit den USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Holger Czitrich-Stahl (Berlin): Preußische Wahlrechtskämpfe vor dem Ersten Weltkrieg – das Dreiklassensystem als Gegenstand öffentlichen Protests

Kathrin Groh (München): Wahlrechtsdiskussionen in Deutschland. Von der Weimarer Republik in die frühe Bundesrepublik