Ammianus Marcellinus: Past, Present, Future

Ammianus Marcellinus: Past, Present, Future

Organisatoren
Gavin Kelly, University of Edinburgh / Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2016 - 18.06.2016
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Von
Raphael Brendel, München

Mit dem rapide angewachsenen Interesse an der Spätantike in den letzten Jahrzehnten ist auch die Zahl der Forschungsbeiträge zu dem lateinischen Historiker Ammianus Marcellinus, der vor allem als eine der wichtigsten Quellen zum berühmten Kaiser Julian „Apostata“ ohnehin zu keiner Zeit von der Altertumswissenschaft zu vergessen werden drohte, schwunghaft angestiegen. Die Absicht des von GAVIN KELLY (Edinburgh) veranstalteten und von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Kongresses war es daher nicht, den zahlreichen Einzelstudien ein weiteres Dutzend Beiträge mit spezieller Thematik hinzuzufügen, sondern über die aktuelle Forschungstätigkeit der verschiedenen Generationen der Ammianforscher zu informieren, um auf dieser Basis vielversprechende Forschungsfelder aufzuzeigen und Perspektiven für zukünftige Studien zu schaffen.

Die einführende Sitzung hatte zum Ziel, die unterschiedlichen Ansätze und Methoden der Erforschung des Ammianus durch die einzelnen Teilnehmer kennenzulernen. Hierfür wurden die bisherigen Verdienste derselben um die Ammianusforschung und ihre aktuellen Projekte benannt. In dieser Sitzung stellte zudem RAPHAEL BRENDEL (München) in einem Kurzvortrag die Methodik einer von ihm geplanten Monographie zu Ammianus und dem Christentum vor. Im Rahmen dessen wurde die Frage nach dem Vorhandensein christenfeindlicher Polemik und den religiösen Hintergründen des Ammianus (und Barnes’ These der Apostasie des Historikers) diskutiert.

Die ersten beiden Vorträge behandelten die grundlegende Problematik der Überlieferung des Ammianus: JUSTIN STOVER (All Souls College, Oxford) untersuchte das Verhältnis der beiden frühesten Handschriften, des Codex Fuldensis (auch nach dem Aufbewahrungsort Codex Vaticanus genannt) und des nur fragmentarisch erhaltenen Codex Hersfeldensis, zueinander, die als einzige für die Textkonstitution relevant sind. Mithilfe eines Vergleich mit geographisch und zeitlich nahe beieinander gelegenen Handschriften (etwa der ebenfalls sowohl aus Fulda als auch dem 9. Jahrhundert entstammenden Handschrift der Historia Augusta) und ihrer Traditionen sowie durch eine statistische Auswertung der durchschnittlichen Zeichenzahl pro Zeile konnte er zeigen, dass keine direkte Abhängigkeit beider Handschriften zueinander besteht, sondern es sich um zwei Kopien derselben Vorlage handelt. In der folgenden Diskussion wurde als wahrscheinlicher Grund für die im 9. Jahrhundert angefertigten Abschriften erwogen, dass Ammianus die einzige ausführliche Quelle für die Germanengeschichte des 4. Jahrhunderts darstellte.

GAVIN KELLY (Edinburgh) bot einen Überblick über die ersten sechs Editionen des Ammianus aus den Jahren 1474 bis 1533, wobei der Schwerpunkt auf den Ausgaben des Accursius und des Gelenius (beide 1533) und ihren textkritischen Leistungen lag. Neben kurzen Porträts der beiden Gelehrten thematisierte Kelly die problematischen Einflüsse der vorhergehenden Editionen, die Emendationstätigkeit und die (handschriftlichen sowie gedruckten) Quellen der einzelnen Ausgaben. In seinem Stemma ergänzte er eine Kopie der Bücher 27 und 28 des Beatus Rhenanus als eine der Quellen des Gelenius.

RAPHAEL BRENDEL (München) fragte danach, ob sich bei Ammianus ein Konzept von „Meinungsfreiheit“ nachweisen lässt und ob die Möglichkeit der freien Rede in der Spätantike festzustellen ist. Eine Untersuchung des Ammianus, anderer Autoren theodosianischer Zeit (Pacatus, Libanios und Ambrosius) und der Gesetzgebung führte ihn zu dem Schluss, dass Ammianus tatsächlich ein solches Konzept aufweist und in seinem Werk keinen größeren Einschränkungen unterlag, da sich Theodosius I. um die Möglichkeit offener Rede bemühte. Im Rahmen der folgenden Diskussion wurden die Problematik des modernen Begriffs der Meinungsfreiheit und die Abweichungen gegenüber dem Konzept der parrhesia sowie die Funktion programmatischer Aussagen antiker Historiker als literarisches Mittel besprochen.

ALAN ROSS (Southampton) wies auf die Narratologie und die „spatial dimension“ als ergiebige Forschungsfelder für zukünftige Studien zu Ammianus hin. Deren Umsetzung legte er anhand von einigen Beispielen dar: Ammianus hebe sich von früheren griechischen Historikern (Xenophon und Polybios) durch seine Vorstellung als Handelnder im Rahmen seiner Erzählung ab, weise aber Parallelen zu Prokopios auf. Erste Vorstudien zeigten die Notwendigkeit eines systematischen Vergleiches mit den narratologischen Strukturformen anderer Literaturgattungen, insbesondere der Panegyrik. Die Abneigung des Ammianus gegenüber der neuen Bedeutung Konstantinopels als kaiserliche Stadt äußere sich auch in der geringen Berücksichtigung im Räumlichen, insbesondere im Rahmen des Exkurses zum Schwarzen Meer. In der folgenden Diskussion wurden die möglichen Zusammenhänge zwischen Ammians Figuren Konstantin und Julian und seiner Abneigung gegenüber Konstantinopel genauer beleuchtet.

DANIËL DEN HENGST (Amsterdam) bot einen Überblick über das Problem der möglichen gegenseitigen Beeinflussung des Ammianus und der Historia Augusta. Durch eine erneute Diskussion der einschlägigen Passagen (etwa die, welche den seltenen Begriff carrago verwenden) gelangte er zu dem Ergebnis, dass der Autor der Historia Augusta das Werk des Ammianus benutzte. Die folgende Diskussion versuchte, einen Beitrag zum Problem der unterschiedlichen Formen der Quellenbenutzung (auf Ammianus wird in der Historia Augusta nur in Form versteckter Andeutungen Bezug genommen, Aurelius Victor hingegen unverkennbar herangezogen) und dem der fehlenden Spuren einer Benutzung der ersten dreizehn Bücher des Ammianus in die Historia Augusta zu leisten.

PETER VAN NUFFELEN (Gent), dessen Vortrag das Produkt einer gemeinsamen Forschungstätigkeit mit LIEVE VAN HOOF (Gent) war, konnte anhand eines Vergleiches der Berichte über die Schlacht von Adrianopel und ihre Vorgeschichte zeigen, dass Jordanes in den Getica auf den Bericht des Ammianus in Buch 31 zurückgegriffen und diesen mit einer progotischen Tendenz umgedeutet hat. Begründet sei die Benutzung des Ammianus durch Jordanes in dem Fehlen ausführlicher Parallelberichte, der Umdeutung von dessen prorömischen Ausführungen und der hunnenfeindlichen Haltung des Jordanes, die der Gote in den stark auf Barbarentopik zurückgreifenden Ausführungen des ammianeischen Hunnenexkurses bestätigt gesehen habe. Die folgende Diskussion befasste sich mit der Möglichkeit von Mittelquellen (etwa Cassiodor oder Symmachus) und den Abweichungen der Quellenbenutzung in den Romana des Jordanes.

JAN WILLEM DRIJVERS (Groningen) bot einen Einblick in die Arbeit am Kommentar der sogenannten „Quadriga Batavorum“ zu Buch 31 des Ammianus am Beispiel des Hunnenexkurses. Diesen Exkurs charakterisierte er als eine von Herodot inspirierte Kompilation aus verschiedenen Versatzstücken ethnographischer Berichte über andere Barbarenvölker, die nicht das Ziel hatte, einen zuverlässigen Bericht über die Hunnen zu bieten und somit auch nicht als historische Quelle für selbige herangezogen werden darf. Im Anschluss legte er die Vorarbeiten für den Kommentar zu einigen Passagen vor.

HANS TEITLER (München) untersuchte die Rekrutierung der Goten durch Valens im Kontext des spätantiken Militärwesens. Er zeigte, dass die Aufnahme der Goten in das Reich durch Valens das Ziel hatte, neue Rekruten zu erlangen und wies nach, dass es sich bei dem aurum tironicum bereits um eine unter Constantius II. bestehende Einrichtung handelte, die folglich nicht erst unter Valens neu geschaffen wurde. In der folgenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass der genaue Sprachgebrauch des Kirchenhistorikers Sokrates dennoch auf eine Neuerung des Valens hindeute, deren Hintergrund möglicherweise eine größere Änderung des Rekrutierungssystems durch Valens gebildet habe.

NOEL LENSKI (Yale University, New Haven) wertete die Barbarenansiedlungen der ersten sechs nachchristlichen Jahrhunderte und die Einordnung der Ansiedlung von Goten durch Valens in diesem Kontext aus. Hierzu untersuchte er vier Aspekte; erstens die Häufigkeit: Trotz weitgehender Gleichmäßigkeit stieg die Zahl der Barbarenansiedlungen im 4. Jahrhundert stark an (und umgekehrt nahm die der abgelehnten Gesuche deutlich ab), was sowohl der zunehmenden Barbarenproblematik als auch der Bemühung um die Lösung militärischer Probleme geschuldet war; zweitens Ort und Entfernung: Die meisten Ansiedlungen weisen weniger als 500 Kilometer Entfernung von der früheren Heimat auf und sind vor allem im Donauraum und daneben in Gebieten mit Bedarf an Arbeitskräften festzustellen; drittens der Nutzen: Ziel war eine Erweiterung des Reservoirs an Rekruten und Arbeitskräften im landwirtschaftlichen Bereich; und viertens Häufigkeit des Scheiterns: Das römische Reich war sich der damit einhergehenden Probleme bewusst und traf Maßnahmen, um Aufstände zu verhindern, die damit aber manchmal gerade erst ausgelöst werden konnten; die Ereignisse von 376 erweisen sich somit nicht als einzigartig. In der folgenden Diskussion wurde versucht, die Frage zu lösen, ob die Barbaren in solchen Fällen auch ihr Vieh mit sich führten, wofür sich keine Beweise, allerdings einige Indizien vorbringen lassen.

ÁLVARO SÁNCHEZ-OSTIZ (Navarra) bemühte sich um eine stilistische Einordnung von Buch 31 in den Kontext des Gesamtwerkes Ammians. Er zeigte die Kontinuitäten in der Schlusscharakteristik des Valens und denen der früheren Kaiser sowie die Intratextualität zwischen Buch 31 und den früheren Büchern auf. Neben der von Ammianus geschilderten Autopsie fänden sich auch einige Allgemeinplätze, die auf eine griechische Quelle antiochenischer Herkunft zurückgingen. Die These Kulikowskis, Buch 31 sei zunächst eine eigene Monographie in griechischer Sprache gewesen1, erweise sich mit der Einschaltung dieser Quelle nicht als widerlegt, aber als unnötig.

SIGRID MRATSCHEK (Rostock) leitete die Schlusssitzung, in der sie die Essenz der einzelnen Vorträge nochmals mit Blick auf die zukünftige Ammianusforschung zusammenfasste und dadurch auf eine Reihe wichtiger Forschungsfelder hinwies. Aus ihren Ausführungen und denen der folgenden Diskussion sind vor allem folgende Desiderate zu nennen: Notwendig sind eine neue Edition und eine begleitende Übersetzung, womit die problematische Überlieferung (STOVER, KELLY) verbessert werden kann, was mit der derzeit in Vorbereitung befindlichen Oxford-Ausgabe von Gavin Kelly realisiert wird. Das politische Denken des Ammianus (BRENDEL) kann nur in Zusammenhang mit seiner Rhetorik und Topik verstanden werden. Somit bedarf es auch einer Untersuchung der literarischen Interaktion des Ammianus mit allen klassischen Autoren (etwa Cicero, Sallust und Tacitus), um seine Darstellung der jüngeren Vergangenheit verstehen zu können. Auch eine ausführliche Untersuchung zur Rezeption und Erforschung des Ammianus von der Spätantike bis in die Neuzeit (DEN HENGST, VAN NUFFELEN) steht noch aus, wobei auch literarische Auseinandersetzungen (etwa zwischen Christentum und Heidentum oder zwischen Römern und Barbaren) zu berücksichtigen sind. Die bereits gut erforschten geographischen und ethnographischen Exkurse sollten erneut, aber in Bezug auf ihre Rhetorik und Narratologie (ROSS, DRIJVERS) in den Fokus gerückt werden. Raum für weitere Forschungen ist auch in Bezug auf die Interaktion zwischen Rom und den Barbaren (TEITLER, LENSKI). Lohnenswert wäre zudem ein Blick auf das Werk des Ammianus als Ganzes (SÁNCHEZ-OSTIZ), angefangen mit der Datierung und Erfassung des Entstehungsprozesses bis hin zur Intratextualität. Weitere mögliche Projekte sind eine Aktualisierung der Kommentare zu den frühen Büchern (mindestens bis Buch 19), eine Untersuchung zur Regierungszeit Constantius’ II., eine Verknüpfung des Ammianus mit anderen Quellengattungen (vor allem Münzen, Inschriften und Papyri sowie Epik und Panegyrik) und eine Untersuchung des Prosarhythmus. Insgesamt hat die Tagung somit nicht nur Beiträge zur Lösung einiger Einzelfragen beitragen, sondern auch neue Wege für die Erforschung des Ammianus aufzeigen können; das gesetzte Ziel ist somit ohne Einschränkung als erreicht anzusehen.

Konferenzübersicht:

Justin Stover (All Souls College, Oxford), The earliest manuscripts of Ammianus Marcellinus

Gavin Kelly (Edinburgh), The editions of Accursius and Gelenius (1533)

Raphael Brendel (München), Meinungsfreiheit im Geschichtswerk und im politischen Denken des Ammianus Marcellinus

Alan Ross (Southampton), Future directions for Ammianus: narrative, space and place

Daniël den Hengst (Amsterdam), Ammianus Marcellinus and the Historia Augusta: a shadow play

Peter Van Nuffelen (Gent) [und Lieve Van Hoof (Gent)], Jordanes, an early reader of Ammianus

Jan Willem Drijvers (Groningen), Commenting on the Res Gestae: Ammianus’ portrayal of the Huns

Hans Teitler (München), Ammianus and the recruitment of Goths for the Roman army. Some comments on Ammianus 31.4.4

Noel Lenski (Yale), The Gothic Uprising of 376 in Light of the Roman Tradition of Refugee Resettlement

Álvaro Sánchez-Ostiz (Navarra), Loose ends: On some stylistic continuities in Ammianus’ Book 31

Sigrid Mratschek (Rostock), Summary/Response

Anmerkungen:
1 Michael Kulikowski, Coded polemic in Ammianus book 31 and the date and place of its composition, in: Journal of Roman Studies 102 (2012), S. 79–102.


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