Gotland – Kulturelles Zentrum im Hanseraum

Gotland – Kulturelles Zentrum im Hanseraum

Organisatoren
Böckler-Mare-Balticum-Stiftung; Universität Uppsala; Netzwerk Kunst und Kultur der Hansestädte
Ort
Visby
Land
Sweden
Vom - Bis
31.08.2015 - 01.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Kaja v. Cossart, Drechow

Die von der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung jährlich durchgeführten „Homburger Gespräche“ fanden, passend zum Tagungsthema, im Museum Gotlands Fornsal in Visby auf der Ostseeinsel Gotland statt. Über die Jahrhunderte wurde auf Gotland ein reicher Schatz an Kirchen und ihren Ausstattungen bewahrt. Die einst im Zentrum der ostseeländischen Fernhandelswege liegende Insel erlebte seit dem 11. Jahrhundert eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit, die sich noch heute in den Kirchen und ihren Ausstattungen in seltener Vollständigkeit ablesen lässt. Nachdem ab circa 1250 aus verschiedensten Gründen die Bedeutung der Ostseeinsel und damit auch die Einnahmen stetig sanken, wurden die vorhandenen Ausstattungen zwar immer wieder auch um Neues ergänzt, doch konservierte der wirtschaftliche Abschwung letztlich auch den mittelalterlichen Bestand. Der nur langsam vollzogene Übergang zum Protestantismus lutherischer Prägung war in diesem Zusammenhang – wie auch in anderen Gegenden, die zum Luthertum übertraten – ein weiterer, für den Erhalt wesentlicher Faktor. Dem interdisziplinären Ansatz der Tagung entsprechend, gliederte sich deren Programm in fünf Sektionen, die sich der historischen Bedeutung der Insel aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln näherten.

Die erste Sektion „Gotland – Handelszentrum im Mittelalter“ eröffnete ROLF HAMMEL-KIESOW (Lübeck) mit einem Vortrag über die Bedeutung Gotlands für die Hanse. Er zeichnete, eingebettet in die bis heute nachwirkende, nationalsozialistisch gefärbte Rezeptionsgeschichte der Hanseforschung, anhand der Quellen die wirtschaftlichen und rechtlichen Eckpunkte der Entstehung der kaufmännischen Bündnisse nach und machte deutlich, dass es, entgegen der älteren Forschungsmeinung, keine klaren „Entwicklungslinien“ gab. Vielmehr muss dieser Prozess als langfristiges Ausprobieren der verschiedenen Möglichkeiten der Kaufleute und Städte, ihre Fernhandelsziele zu erreichen, beschrieben werden. Aufgrund seiner günstigen wirtschaftsgeografischen Lage kam Gotland anfänglich während dieses Prozesses eine zentrale Rolle zu.

Mit den vielfältigen gotländischen Handelsbeziehungen beschäftigte sich JAN VON BONSDORFF (Uppsala) in seinem Vortrag. Wie weitreichend diese waren, zeigte eine Kartierung der noch heute existierenden Fünten aus gotländischem Kalkstein in Europa. Dass dieser Austausch neben dem Export auch den Import von Kunstobjekten oder sogar Künstlern umfasste, konnte von Bonsdorff anhand zahlreicher Beispiele verschiedener Gattungen zeigen. Im letzten Vortrag der Sektion untersuchte IWAN IWANOW (Göttingen / Gießen) den im Zusammenhang mit dem zunehmenden Handel erfolgten Kulturtransfer im Nordosten Europas. Gotländische („gutnische“) Kaufleute kamen schon ab dem 11. Jahrhundert in kleinen, aber seetüchtigen „Lodien“ bis nach Novgorod, wo sie einen eigenen Hof besaßen, wie umgekehrt auch russische Kaufleute in Visby. Anhand der Ergebnisse archäologischer Grabungen konnte er zudem konstitutionelle, finanzielle und religiöse Fragen der Organisation der ausländischen Handelsniederlassungen in Novgorod erläutern.

Die zweite Sektion: „Künstlerische Austauschprozesse – Gotland als Spiegel der europäischen Kultur“ wurde durch den Vortrag von DAN CARLSSON (Visby) eröffnet. Er stellte die Ergebnisse der jüngst durchgeführten Grabungen auf dem Areal der Kirchenruine St. Olav in Akergarn vor. Indem er die überlieferten Schriftquellen mit den neuen archäologischen Befunden verband, konnten ausstehende Fragen der ursprünglichen Konstruktion, Datierung und Nutzung der Kirche gewonnen werden. TOMASZ TORBUS (Danzig) trug für sein Referat nicht nur zahlreiche Quellen und Beispiele des mittelalterlichen Exports und der Verwendung gotländischen Kalksteins im Deutschordensland zusammen, sondern konnte zeigen, dass dies in der frühen Neuzeit ebenso auf gotländischen Sandstein zutraf. Allerdings schien den Zeitgenossen die Anfälligkeit des gotländischen Sandsteins unbekannt gewesen zu sein, die schon frühzeitig eine Erneuerung der daraus gefertigten Elemente erforderlich machte. Anhand der um 1330 entstandenen, vermutlich aus der Visbyer Marienkirche stammende Marmorskulptur der Hl. Barbara (heute in Gotlands Fornsal) ging TOBIAS KUNZ (Berlin) der Frage nach, wer für den Import dieser äußerst hochwertigen Skulptur verantwortlich gewesen sein könnte. Obwohl diese Skulptur dem Umkreis der Pariser Hofwerkstätten zugeordnet wird, muss sie deshalb (wie schon vermutet wurde) nicht zwangsläufig mit einer königlichen Stiftung in Verbindung gebracht werden. Vielmehr erscheint ihm wahrscheinlich, dass ihre Stifter im Umfeld der weitgereisten und reichen Kaufleute auf Gotland zu suchen sind. Infrage käme beispielsweise der deutschstämmige Ratsherr und Bürgermeister von Visby Hermann Swerting, der 1342 hingerichtet wurde.

Die dritte Sektion „Blicke in Gotlands Kirchen – Architektur und Ausstattung“ beschäftigte sich mit den zahlreich erhaltenen Kirchen Gotlands und deren Architektur und Ausstattung. Zu Beginn stellte AGNESE BERGHOLDE (Marburg / Riga) die jüngsten Forschungsergebnisse zur künstlerischen Herleitung besonders der Architektur der Marienkirche in Visby vor, die auf Gotland und in Livland weitere Bauten beeinflusste. Mit einem ungewöhnlichen ikonografischen Motiv in gotländischen Kirchen beschäftigte sich GERHARD WEILANDT (Greifswald) in seinem Vortrag über die Seelenwägung Kaiser Heinrichs II. Er wies darauf hin, dass sich dort schon aus der Zeit um 1250 Darstellungen der Seelenwägung Kaiser Heinrichs II. erhalten haben. Allerdings gab es nachweislich keine liturgische Verehrung des Heiligen auf Gotland und das Motiv selbst ist erst wieder um 1500 in Süddeutschland nachweisbar. Als Quelle kommt vor allem die im Ostseeraum schon um 1235 verbreitete Sächsische Weltchronik infrage, wie anhand eines Vergleichs der einzelnen, auf Gotland vorkommenden Motive gezeigt werden konnte. JUSTIN E. A. KROESEN (Groningen) stellte in seinem Vortrag die unglaubliche Fülle erhaltener Ausstattung, teilweise noch am originalen Standort, in den 91 noch existierenden gotländischen Kirchen vor. Neben Taufsteinen gehören dazu Nebenaltäre sowie deren Spuren wie etwa gemalte Ciborien und Wandnischen; Triumph- und Scheibenkreuze; Sakramentsschränke, -häuser und Sakramentsnischen in großer Zahl; mehr als 100 Skulpturen, teils mit ihrer originalen Polychromie; Gestühle, Priestersitze und Opferstöcke. Anhand der reichen Überlieferung ist es möglich, Fragen an die Genese der Ausstattungsstücke zu stellen, wie es sonst kaum möglich ist. Im letzten Vortrag der Sektion ging JULIA TRINKERT (Kiel / Düsseldorf) auf das spätmittelalterliche Stiftungsengagement auf Gotland ein. Anders als üblich, können zahlreiche gotländische Stiftungen nicht Adeligen, Geistlichen, Patriziern oder Bruderschaften zugeschrieben werden: vielmehr handelte es sich um bäuerliche Stiftungen. Es gelang ihr zu zeigen, dass die Führungsschichten der gotländischen bäuerlichen Gemeinschaft aus denselben Gründen wie auch die weltlichen und geistlichen Eliten zahlreiche Kunstgegenstände finanzierten.

Die letzte Sektion der Tagung „Gotlands Mittelalter heute – Zwischen Traditionspflege und Spaßkultur“ war dem Umgang mit dem reichen kulturellen Erbe gewidmet. So stellte MATTIAS LEGNÉR (Visby) ein jüngst abgeschlossenes Projekt vor, bei dem über fünf Jahre hinweg der Einfluss der Klimatisierung in denkmalgeschützten Bauten untersucht wurde. Hintergrund waren die in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgten Zerstörungen historischer Substanz aufgrund der Verwendung von Klimasystemen, die für gänzlich andere Arten von Bausubstanz konstruiert waren. Mit den touristischen Aspekten der von Umberto Eco als „Neo-Mittelalter“ bezeichneten heutigen Spaßkultur beschäftigte sich der Vortrag von PER STRÖMBERG (Uppsala). Gerade die jährlich stattfindenden Mittelalterfestspiele in Visby sind dafür ein gutes Beispiel. Doch Strömberg diskutierte neben der zeitgemäßen Kommerzialisierung mittelalterlicher Themen auch die daraus erwachsende Popularisierung der Beschäftigung mit dem Mittelalter, die letztlich gesellschaftliches Interesse an solchen Themen wecken kann. Die bisher unpublizierten Ergebnisse der vor mehr als vierzig Jahren erfolgten Restaurierung des Scheibenkreuzes der Kirche zur Höhe in Soest stellte die Restauratorin CHARLOTTE KLACK-EITZEN (Hamburg) vor. Indem sie die wichtigen Erkenntnisse über Konstruktion, Arbeitsprozesse und Montage des vielteiligen Kunstwerkes in Verbindung mit dem heutigen Forschungsstand beschrieb, wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den verschiedenen, ähnlich konstruierten gotländischen Ringkreuzen deutlich. ANJA RASCHE (Hamburg / Speyer) untersuchte die nicht immer harmonischen Beziehungen zwischen Lübeck und Gotland. Anhand der historischen Vorgänge während der schweren militärischen Auseinandersetzungen um Visby im Jahr 1525, deren Folgen noch heute an der bis dato uneinnehmbaren Visbyer Stadtmauer ablesbar sind, konnte sie zeigen, wie erbittert noch im Spätmittelalter um die Insel gekämpft wurde.

Mit der faszinierenden Persönlichkeit von Johnny Roosval (1879-1965), der die Erforschung der Kunstgeschichte Gotlands lange Zeit prägte, befasste sich der Vortrag von LARS OLOF LARSSON (Kiel). Roosval führte in die schwedische Kunstwissenschaft die stilkritische Methode ein, wie er sie von seinen Berliner Lehrern Heinrich Wölfflin und Adolf Goldschmidt vermittelt bekam. Zudem erstellte er eine Bautypologie der Denkmäler, deren Paradigmen für lange Zeit schwer zu überwinden waren. Erst 1975 konnte Erland Lagerlöf nachweisen, dass auf Gotland Bauhütten tätig waren, die in engster Verbindung mit norddeutschen Zentren standen und nicht, wie seit Roosval häufiger wiederholt, mit französischen Bauhütten.

Schließlich referierten in der von allen Teilnehmern mit Interesse aufgenommenen „Infobörse“ junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in jeweils 10-minütigen Kurzpräsentationen über die Ergebnisse ihrer jüngsten Forschungen. Wie erhofft, verlagerte sich die Diskussion darüber auf die anschließenden Pausen und bereicherten die Tagung.

Ein Teil der Tagungsteilnehmer konnte sich auf der anschließenden Exkursion durch Gotlands Kirchen, exzellent organisiert und geführt von Erland Lagerlöf und Lars Olof Larsson, von der auf der Tagung vorgestellten Vielfalt und Qualität der Objekte überzeugen.

Sowohl die Vorträge, als auch die anschließenden Diskussionen zeigten deutlich, dass eine wirklich tiefgründige kunsthistorische Erforschung der über viele Jahrhunderte zusammengewachsenen Ostseeregion nur durch den länderübergreifenden wissenschaftlichen Austausch erfolgen kann. Für die Zukunft wäre also auf weitere Tagungen dieser Spannweite zu hoffen!

Konferenzübersicht:

Jan von Bonsdorff (Uppsala) / Kerstin Petermann/Anja Rasche (Hamburg/Speyer): Begrüßung und inhaltliche Einführung

I. Gotland – Handelszentrum im Mittelalter

Moderation: Juliane von Fircks (Mainz)

Rolf Hammel-Kiesow (Lübeck): Die Bedeutung Gotlands für die Hanse

Jan von Bonsdorff (Uppsala): Import&Export – Gotlands Trade Relations

Iwan Iwanow (Göttingen/Gießen): Kaufleute, Kirchen und ein paar Schachfiguren. Von Handel und Kulturtransfer im Nordosten Europas

II. Künstlerische Austauschprozesse – Gotland als Spiegel der europäischen Kultur
Moderation: Kerstin Petermann (Hamburg)

Dan Carlsson (Visby): The archeological excavations of St Olav Church on the Island of Gotland

Tomasz Torbus (Danzig): Bauskulptur im Deutschordensland Preußen – Beispiele des gotländischen Importmaterials

Tobias Kunz (Berlin): Hochmittelalterliche Skulpturenimporte auf Gotland

III. Blicke in Gotlands Kirchen – Architektur und Ausstattung
Moderation: Lars Olof Larsson (Kiel)

Agnese Bergholde (Marburg/Riga): St. Marien in Visby – Abbild und Vorbild

Gerhard Weilandt (Greifswald): Die Seelenwägung Kaiser Heinrich II. in gotländischen Kirchen

Justin Kroesen (Groningen): Das Einrichtungsensembles: Gotlands einzigartigen mittelalterlichen Kirchenausstattungen

Julia Trinkert (Kiel/Düsseldorf): Gotland und Dithmarschen. Zum spätmittelalterlichen Stiftungsengagement in ländlichen Kontexten

Infobörse – aktuelle Forschungen
Moderation: Ulrike Nürnberger (Berlin) und Doetmar Popp (Marburg)

Thekla Hansen (Kiel): Die Ikonografie der Seelengeleiter in Kreuzigungsdarstellungen des Mittelalters. Überlegungen zur Verbreitung und Bedeutung eines Bildmotivs

Miriam Hoffmann (Kiel): Das Lütjenburger Retabel von 1467. Eine Lübecker Werkgruppe

Benjamin Irkens (Kiel): Die wikingerzeitlichen Hinterlassenschaften aus Martebo Moor in ihrem topografischen Kontext

Ieva Kalnača (Riga): Orientalische Einflüsse in der lettischen Architektur und Innenausstattung: vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Michael Meichsner (Greifswald): Gotland as a Borderland in the Baltic Sea Region during the Period of the Kalmar Union between Denmark and Sweden

Christiane Stöckert (Greifswald): Exposé zu dem interdisziplinären Projekt: Historischer Stadtraum interaktiv. Ein digitales Raum-Zeit-Modell für vernetzte Forschung am Beispiel Nürnberg

Greger Sundin (Uppsala): A Matter of Amusement – The Material Culture and Pastimes in princely European Collections 1550-1750

Katri Vuola (Turku): Polychrome Wooden Sculpture in the Medieval Diocese of Turku ca 1250-1400: Production and Acquisition

Kaja von Cossart (Drechow/Berlin): Die Erstausstattung des Hochchores der Doberaner Zisterzienserklosterkirche um 1300

IV: Gotlands Mittelalter heute – Zwischen Traditionspflege und Spaßkultur
Moderation: Jan von Bonsdorff (Uppsala)

Matthias Legnér (Visby): The Conservation of Medieval Swedish Churches since the Nineteenth Century, with regard to the Indoor Climate

Per Strömberg (Uppsala): The Life and Death of Arn. Neo-medievalism in the Creative Industries: Some Swedish Examples

IV. Nach dem Mittelalter – Erhalten und Erforschen des kulturellen Erbes
Moderation: Gerhard Weilandt (Greifswald)

Charlotte Klack-Eitzen (Hamburg): Das Scheibenkreuz in der Kirche Maria zur Höhe in Soest. Die Restaurierung

Anja Rasche (Lübeck): Lübeck und Gotland – Eine schwierige Beziehung?

Lars Olof Larsson (Kiel): Johnny Roosval und die mittelalterliche Kunstgeschichte


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts