Health is Wealth? Ökonomische Aspekte im Umgang mit Gesundheit und Krankheit

Health is Wealth? Ökonomische Aspekte im Umgang mit Gesundheit und Krankheit

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.04.2016 - 15.04.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Jacqueline Martinelli, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Lehrstuhl für Medizingeschichte, Universität Zürich; Thomas Rohringer, International Max Planck Research School for Moral Economies of Modern Societies, Max Planck Institute for Human Development, Berlin

Vom 12. bis 15. April 2016 fand am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung das 35. Stuttgarter Fortbildungsseminar statt. Erneut versammelte das Fortbildungsseminar Nachwuchswissenschaftler/innen und Expert/innen aus dem Bereich Medizingeschichte und verwandten Disziplinen, um im Rahmen des diesjährigen Themas „Health is Wealth? Ökonomische Aspekte im Umgang mit Gesundheit und Krankheit“ ihre Forschungsarbeiten zu präsentieren und zu diskutieren. Die insgesamt 15 Beiträge wurden in vier Sektionen eingeteilt: 1) „Versorgungsstrukturen“, 2) „Unternehmen im Gesundheitssektor“, 3) „Gesundheit und Arbeitsfähigkeit im sozioökonomischen Kontext“ und schließlich 4) „Krankheit als Kostenfaktor: Gegensteuerung durch Prävention“. Die beiden zeitlichen Schwerpunkte der Vorträge lagen in der Zeitgeschichte und dem frühen 20. Jahrhundert, wobei sich ein Beitrag auch mit dem Mittelalter befasste. Die thematische Gliederung der Sektionen erlaubte es, Kontinuitäten und Unterschiede im Umgang mit Gesundheit und Krankheit herauszuarbeiten und somit dem Ziel des Fortbildungsseminars, die gegenwärtigen Trends der Ökonomisierung von Gesundheit und Krankheit zu historisieren, gerecht zu werden.

Die erste Sektion wurde von HANNES WALTER (Berlin) mit einem Vortrag zur Suchtmedizin im Kaiserreich und der Weimarer Republik eröffnet. Anhand des Diskurses über den Kokainismus zeigte er zunächst, wie anhand der Konstruktion „des Süchtigen“ als mehrfach deviantes Subjekt bürgerliche Moralvorstellungen aufrechterhalten wurden und wie sich diese in der Begründung der Krankhaftigkeit des Kokainsüchtigen zugleich mit volkswirtschaftlichen und rassenhygienischen Theorien verbanden. In einem nächsten Schritt untersuchte Walter die Therapieformen für Kokainsüchtige und hob hervor, wie diese Vorstellungen im Zusammenspiel mit den Finanzierungsschwierigkeiten des Gesundheitssystems der Weimarer Republik die Behandlungsbedingungen negativ beeinflussten.

AARON PFAFF (Stuttgart) und ESTHER WAHLEN (Florenz) befassten sich in ihren Vorträgen mit jeweils unterschiedlichen Entstehungsbedingungen präventiver Gesundheitspolitik. Pfaff beschäftigte sich in seinem Beitrag damit, wie das (west-)deutsche Gesundheitssystem von den 1960er-Jahren bis 2010 mit der Verschiebung des Krankheitsbildes des Diabetes mellitus von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit umging. Dabei hob er den Zusammenhang der Problematisierung als „Kostenexplosion“ im Gesundheitssystem und der damit einhergehenden Bewertungsmaßstäbe mit der Herausbildung eines auf Selbstkontrolle basierenden Patientenbildes hervor. Wahlen hingegen untersuchte anhand einer Kampagne zur gesunden Ernährung im spätsozialistischen Rumänien, wie sich dieses Regime nicht nur repressiver Maßnahmen, sondern gerade auch der Erziehung der Bürger/innen zu einem „präventiven Selbst“ bediente und hinterfragte damit die gängige Vorstellung, dass individualisierte Gesundheitsprävention und die Subjektivierung als selbstverantwortliche Konsument/innen an liberale Demokratien und Kapitalismus gekoppelt seien.

Die zweite Sektion begann mit dem Vortrag von MATHIAS SCHMIDT (Aachen) zur Person Friedrich Hauptmeyers und seiner Rolle bei der Entwicklung von Zahnprothesen aus nichtrostendem Stahl durch die Firma Krupp. Schmidt untersuchte dabei die keineswegs spannungsfreie Verflechtung philanthropischer mit betrieblichen Interessen in der Herstellung dieser neuartigen Zahnprothesen, die Krupp nach der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion neue Absatzmöglichkeiten und eine Monopolstellung sicherten, während Hauptmeyer vor allem nach einer kostengünstigen und beständigeren Alternative zu den bestehenden Zahnprothesen gesucht hatte.

JACQUELINE MARTINELLI (Zürich) und KLAUS ANGERER (Gießen) befassten sich in ihren Vorträgen auf unterschiedliche Weise mit dem Zusammenhang zwischen Wissensproduktion und der Herstellung medizinischer Produkte. Martinelli zeigte in ihrem Beitrag anhand der Antibabypille auf, wie sich nach dem Contergan-Skandal die Praxis der Arzneimittelzulassung veränderte. Da die Antibabypille als Verhütungsmittel nicht der Behandlung eines pathologischen Zustandes diente, mussten für sie neue Zulassungskriterien entwickelt werden. Die daraus resultierende Verschiebung von der Beurteilung der Wirksamkeit hin zum neuen Kriterium „Verlässlichkeit“ beeinflusste wiederum die Entwicklung neuer Formen der Antibabypille. Aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung untersuchte Angerer in seinem Beitrag die Wertschöpfungsprozesse in einem deutschen pharmazeutischen Naturstoffunternehmen. Um diese Naturstoffe in pharmazeutisch verwertbare Materialien umzuwandeln, mussten diese, so Angerer, als valide Objekte der Wissensproduktion und Verarbeitung von synthetisierten Wirkstoffen abgegrenzt werden. Dies begründe, gemeinsam mit der Standardisierung des organischen Ausgangsmaterials im Zuge der Verarbeitung, das wissenschaftliche und wirtschaftliche Potenzial des Endprodukts (Reinsubstanz), mit dem es an Industrieunternehmen verkauft werden kann.

MANUEL SCHAPER (Göttingen) setzte sich in seinem Vortrag aus medizinethischer Sicht mit kommerziellen Gentestangeboten auseinander, sogenannten Direct-to-Consumer Gentests. Dazu untersuchte er die Webauftritte von verschiedenen Anbietern und eruierte, ob und wie darin ethische Aspekte thematisiert werden. Solche Gentestangebote unterscheiden sich von klinischen Anwendungsformen, sind nach Schaper aber trotzdem bzw. gerade deswegen von medizinethischer Relevanz. Die weite Verbreitung solcher Angebote und die relative Anonymität der Anbieter erschweren eine ethische Regulierung. Schaper interessierte an dieser Situation, ob die Kommunikationspraktiken der Anbieter im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlicher Logik und medizinethischen Normen letzteren gerecht würden.

Die dritte Sektion wurde von SEBASTIAN KNOLL-JUNG (Stuttgart) eröffnet, der in seinem Beitrag untersuchte, wie sich die Einführung der Unfallversicherung 1884 auf die Gesundheit der Arbeiter/innen auswirkte. Die Analyse der Praxis des wirtschaftlichen und unternehmerischen Handelns bezüglich Unfallverhütung führte ihn zu einer Neubewertung des Forschungsstandes. Wie Knoll-Jung betonte, können diverse Maßnahmen wie die Einführung von Unfallverhütungsvorschriften, das Bereitstellen von Erste Hilfe-Material, die Ausbildung von Fabriksanitätern und der Aufbau von Unfallkrankenhäusern zwar als Produkte ökonomischen Kalküls betrachtet werden, auf die Arbeitergesundheit wirkten sich diese dennoch durchaus positiv aus.

OLIVER FALK (Berlin) und THOMAS ROHRINGER (Berlin) beschäftigten sich beide mit der Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit durch Arbeitstherapie. Falk untersuchte in seinem Beitrag das Konzept der Arbeitstherapie im 1931 gegründeten Diabetikerheim Garz auf Rügen und stellte sich dabei die Frage, in welchem Verhältnis die Begriffe „Produktivität“ und „Fürsorge“ gedacht wurden. Diabetes mellitus stellte für die Ärzte auf Rügen ein soziales und arbeitswirtschaftliches Problem dar und Arbeitsfähigkeit bzw. Produktivität war ein entscheidendes Behandlungsziel. Falk erläuterte, wie sich der Ansatz der „produktiven Fürsorge“ im Rahmen der Arbeitstherapie im Heim dabei nicht nur auf ökonomische Überlegungen stützte, sondern auch positive psychosomatische Effekte von Arbeit als Therapie betonte. Gegenstand von Rohringers Beitrag war die Re-Integration kriegsbeschädigter Soldaten zwischen 1914 und 1918. Die Re-Integrationsmaßnahmen für Kriegsbeschädigte im Ersten Weltkrieg verbanden in der Bemessung der Gesundheitsschädigung, der medizinischen Behandlung, insbesondere durch Arbeitstherapie und Arbeitsprämien eine Ökonomisierung des Körpers mit der moralischen Erziehung der Kriegsbeschädigten mit dem Ziel der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit.

SIMON DUCKHEIM (Gießen) setzte sich in seinem Beitrag mit den jüngsten Forschungsergebnissen und Theorien zur Genese der NS-„Euthanasie“ auseinander. Auswertungen der Krankenakten von Opfern der „Aktion T4“ ergaben, dass die Arbeitsfähigkeit das gewichtigste Selektionskriterium darstellte. Diese These wurde immer wieder als „ökonomistischer Ansatz“ kritisiert, in welchem die biologisch-rassischen Motive der Nationalsozialisten vernachlässigt würden. Duckheim zeigte in seinem Beitrag auf, dass gerade das dialektische Ineinander von Biologismus und Ökonomie von entscheidender Bedeutung für die historische Genese der NS-„Euthanasie“ war und dass das Kriterium der Arbeitsfähigkeit gerade deshalb für die Selektion eine so große Bedeutung hatte.

Die vierte Sektion wurde von JANA MADLEN SCHÜTTE (Stuttgart) mit einem Beitrag zur mittelalterlichen Diätetik eröffnet. Ernährung war im Mittelalter sowohl aus präventiver Sicht, wie auch als Mittel bei akuter Gesundheitsgefährdung wichtig. Zentrales Ziel der mittelalterlichen Diätetik war stets die Gesundheit. Schütte zeigte auf, wie sich die Qualität und der Preis der Nahrung, sowie die theoretischen Ernährungsvorschriften je nach Platz in der Ständeordnung veränderten.

STEFAN OFFERMANN (Leipzig) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der Prävention von Herzkreislauferkrankungen in der DDR und der BRD. Das Ende der 1960er-Jahre eingeführte Risikofaktorenmodell fokussierte neu auf das individuelle Verhalten als risikorelevant, wodurch das Individuum verstärkt zum Subjekt der Prävention wurde. Diese Situation untersuchte Offermann anhand der Analyse von Gesundheitsaufklärungsfilmen der 1960er- und 1970er-Jahre. Dabei interessierten ihn die komplexe Verschränkung von Selbst- und Fremdführung und die narrative Inszenierung von Körperwissen.

CHRISTIANE VOGEL (Halle) fragte in ihrem Beitrag nach gesundheitsökonomischen Aspekten in der Gegenwartsliteratur. Sie stellte fest, dass die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitssystems und die damit einhergehenden Konflikte zwischen wirtschaftlichen und ethischen Sichtweisen vermehrt in Sachbüchern und Belletristik aufgegriffen würden. Medizinische Literatur habe in dieser Situation verschiedene Funktionen, so Vogel. Einerseits verweise sie auf Gefahren und Risiken der Medizin und der Technisierung und andererseits könne sie als Anleitung und didaktische Hilfestellung für Pflegepersonal und angehende Mediziner dienen.

Das Stuttgarter Fortbildungsseminar war auch dieses Jahr ein voller Erfolg. Die Beiträge näherten sich den ökonomischen Aspekten im Umgang mit Gesundheit und Krankheit äußerst vielseitig, was sich für die Teilnehmer/innen als sehr fruchtbar herausstellte. In den regen, interessanten und kritischen Diskussionen, welche jeweils auf die Beiträge folgten, wurde immer wieder festgestellt, dass sich Gesundheit selten jenseits von Ökonomie denken lässt. Die Abschlussdiskussion zeigte deutlich, wie schwer sich der Begriff der Ökonomie eindeutig bestimmen und im Hinblick auf seine Historizität schärfen lässt.

Konferenzübersicht

Sektion 1 – Versorgungsstrukturen
Moderation: Christoph Schwamm (Stuttgart/Berlin)

Hannes Walter (Berlin): Suchtmedizin zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Kokainismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik

Aaron Pfaff (Stuttgart): Ökonomische Methoden und Verfahren im Umgang mit chronischen Krankheiten. Die Auswirkungen des Diabetes mellitus auf das deutsche Gesundheitssystem 1960-2010

Esther Wahlen (Florenz): Sozialistische Gesundheitsökonomie? „Rationale Ernährung“, „biologisches Kapital“ und Gesundheitsboom im Staatssozialismus

Sektion 2 – Unternehmen im Gesundheitssektor
Moderation: Pierre Pfütsch (Stuttgart)

Mathias Schmidt (Aachen): Friedrich Hauptmeyer, nichtrostender Stahl und Fortschritte in der Zahnprothetik in der Zwischenkriegszeit

Jacqueline Martinelli (Zürich): Die Ökonomie der Nutzen-Risiko-Abwägung. Arzneimittelzulassung und Antibabypille in den 1960er Jahren

Manuel Schaper (Göttingen): Ethische Aspekte von Direct-to-Consumer-Gentests – Zur normativen Bewertung kommerzieller Gentestangebote

Klaus Angerer (Gießen): Vermitteln. Wertschöpfungsprozesse in der zeitgenössischen pharmazeutischen Naturstoffforschung

Sektion 3 – Gesundheit und Arbeitsfähigkeit im sozioökonomischen Kontext
Moderation: Lisa Peppler (Göttingen)

Sebastian Knoll-Jung (Stuttgart): Ökonomisierung in der Unfallversicherung – eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Arbeitergesundheit

Oliver Falk (Berlin): „Produktive Fürsorge“: Zum Konzept der Arbeitstherapie in der Weimarer Republik am Beispiel des Diabetikerheims Garz auf Rügen

Thomas Rohringer (Berlin): „Reparaturwerkstätte des Menschtums“. Gesundheit, Arbeit und Selbsthilfe in den Diskursen zur Re-Integration Kriegsbeschädigter

Simon Duckheim (Gießen): Zur Dialektik von Ökonomie und Biologismus im Kontext der NS-Euthanasie

Sektion 4 – Krankheit als Kostenfaktor: Gegensteuerung durch Prävention
Moderation: Anne Gnausch (Berlin)

Jana Madlen Schütte (Stuttgart): Ernährung und Gesundheit. Regeln und Praktiken in der mittelalterlichen Diätetik

Stefan Offermann (Leipzig): Aufforderung zur Selbstführung – Gesundheitsaufklärungsfilme zur Prävention von Herzkreislauferkrankungen in der DDR und BRD

Christiane Vogel (Halle): Umkehrung von Zweck und Mittel. Gesundheitsökonomische Aspekte in der Gegenwartsliteratur