Die "Produktion" von Räumen im östlichen Europa

Die "Produktion" von Räumen im östlichen Europa

Organisatoren
Stephan Rindlisbacher, Universität Bern; Kristina Offterdinger, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
13.05.2016 -
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Von
Fabian Lüscher, Historisches Institut, Universität Bern

Der spatial turn als Paradigmenwechsel hat sich seit den 1990er-Jahren fest in der Geschichtswissenschaft etabliert. Im Gegensatz zur älteren Raumforschung, die den geographischen „Raum“ als etwas Gegebenes und Statisches betrachtet hat, wird „Raum“ nun als wesentliches Element von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen verstanden, das sozial „produziert“ und medial vermittelt wird. Am 13. Mai 2016 wurden in Bern verschiedene Raumtheorien anhand von laufenden Forschungsprojekten zur osteuropäischen Geschichte diskutiert. Der Workshop bot ausserdem die Gelegenheit, Schlüsseltexte der historischen Raumforschung mit den als discussants eingeladenen Expert/innen Béatrice von Hirschhausen (Berlin), Julia Richers (Bern) und Benjamin Schenk (Basel) zu besprechen und für die einzelnen Fallstudien fruchtbar zu machen.

Der Workshop zeichnete sich durch inhaltliche Breite der Beiträge aus und verdeutlichte die Vielfalt möglicher Anwendungsbereiche von Raumkonzepten für geschichtswissenschaftliche Forschung. Anhand der vorgestellten Projekte konnte nachvollzogen werden, dass die soziale „Produktion“ von Räumen (Henri Lefebvre) als Perspektive nicht an eine spezifische historische Epoche gebunden ist. 1 Während einige Vorträge die territoriale und kartographische Ebene von Räumen stärker betonten, wurden in anderen Beiträgen eher die mentalen und imaginierten Ebenen hervorgehoben.

Während des Russischen Bürgerkriegs 1918–1920 glich die heutige Ukraine einem Flickenteppich, der sich durch eine höchst komplexe Struktur von sich gegenseitig überlagernden Ordnungsräumen auszeichnete. DIMITRI TOLKATSCH (Freiburg i. Br.) erläuterte die stetig wechselnden Frontverläufe und ging besonders auf die Frage des Machtvakuums während der Kriegsjahre ein, das in ländlichen Regionen nicht selten dazu führte, dass die Dorfbevölkerung zu unterschiedlichen Selbstverwaltungspraktiken griff. Dörfer und Dorfkonglomerate bildeten in der unübersichtlichen Bürgerkriegssituation oftmals selbständige politische Einheiten, die sich teilweise dem Zugriff übergeordneter Ordnungsmächte erfolgreich zu entziehen vermochten. Für die Bürgerkriegszeit in der Ukraine können dementsprechend gerade ausserhalb der urbanen Zentren deutliche Unterschiede zwischen konzipiertem und gelebtem Raum festgestellt werden.

Eine ganz andere Raumkategorie nahm KRISTINA OFFTERDINGER (Freiburg i. Br.) in ihrem Beitrag zum Kosmos als soundscape (Raymond Murray Schafer) in der Berichterstattung des sowjetischen Radios in den Blick. 2 Dabei interpretierte sie den Kosmos als sozialen Raum und damit auch als Herrschaftsmittel. Mithilfe zahlreicher akustischer Quellenbeispiele konnte sie zeigen, wie der Kosmos zu einem festen Bestandteil einer Klangwelt der späten sowjetischen Geschichte wurde und welche zentrale Bedeutung dem Medium Radio dabei zukam. Die umfangreichen Reportagen zum sowjetischen Weltraumprojekt öffneten eine spezifische soundscape, wobei beispielsweise durch Gesprächsschaltungen in den Kosmos ein Kontinuum zwischen Erde und Weltraum geschaffen wurde.

MARTIN JESKE (Basel) präsentierte sein Forschungsprojekt zu fragmentierten Räumen im Russischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts. Dabei orientierte er sich an kartographischen Projekten und wies unter anderem auf den Quellenwert von Landkarten hin. Für das 19. Jahrhundert stellte der Referent einen wachsenden staatlichen Appetit auf Karten fest, was er darauf zurückführte, dass die klare Definition von Territorien zunehmend zu einer entscheidenden Voraussetzung für staatliche Souveränität wurde. Exemplarisch wertete der Referent eine Karte aus dem Rigaischen Gouvernement aus. Dabei konnten Wechselwirkungen zwischen Raumwahrnehmung, Raumproduktion und Raumabbildung für diesen Fall sichtbar gemacht werden.

Auch der Vortrag zum Erdbeben von Spitak in Armenien 1988 widmete sich Zusammenhängen zwischen geographischen und mentalen Räumen. KATJA DOOSE (Tübingen) erörterte die Auswirkungen internationaler Hilfe in der „Erdbebenzone“ auf die Entwicklung von Entfremdungs- und Nationalisierungsprozessen in Armenien selbst, aber insbesondere auch in der armenischen Diaspora. Die „Erdbebenzone“ wirkte als neu entstandener Interaktionsraum mit neuen Machtverhältnissen und beeinflusste die armenische Nationalbewegung entscheidend mit. Weil im Zuge dieser Katastrophe erstmals Hilfegesuche an die armenische Diaspora und damit an Personen und Institutionen ausserhalb des sowjetischen Raums gerichtet wurden, schaffte das Erdbeben für Angehörige der armenischen Diaspora die Gelegenheit, ihren „long-distance Nationalismus“ (Benedict Anderson) neu auszurichten. 3

Der Vortrag von STEPHAN RINDLISBACHER (Bern) beschäftigte sich mit Territorialisierungsprozessen in der frühen Sowjetunion. Aus diesen Grenzziehungen gingen grundsätzlich nicht nur territoriale Ordnungen von Räumen hervor; sie waren auch eine Manifestation von Machtverhältnissen, die wiederum der Stabilisierung von Ordnung dienen sollten. Anhand zweier dörflicher Fallbeispiele, Znob’ im ukrainisch-russischen Grenzgebiet und dem von Armeniern bewohnten Baškend in Azerbaijan, untermauerte der Beitrag die These, wonach Grenzziehungen im Sowjetstaat in den 1920er-Jahren primär von ethnographischen, ökonomischen und administrativen Prinzipien geleitet waren, wobei historische und strategische Argumente – anders als etwa bei den Grenzziehungen im Nachfeld der Friedensordnung von Versailles – formal vom Diskurs ausgeschlossen waren.

In einer abschliessenden Diskussion, die sich an einem Standardtext zur Raumproduktion von Henri Lefebvre orientierte, wurden zahlreiche Verknüpfungspotentiale zwischen den einzelnen Fallstudien extrapoliert. Dabei zeigten sich diverse Möglichkeiten, das Theorieangebot von Lefebvre produktiv in die laufenden Forschungsprojekte einfliessen zu lassen.

Konferenzübersicht:

Dimitri Tolkatsch (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., Deutschland): Flickenteppich Ukraine. Niedergang des Staates, Fragmentierung des Raums und Vielzahl der Ordnungsräume während des Bürgerkriegs 1918-1921

Kristina Offterdinger (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., Deutschland): Der sowjetische Kosmos als Weltraum und Soundscape in der Berichterstattung im sowjetischen Radio

Martin Jeske (Universität Basel, Schweiz): Fragmentierte Räume. Zur kartographischen Raumwahrnehmung im Zarenreich des 19. Jahrhunderts

Katja Doose (Eberhard Karls Universität Tübingen, Deutschland): Natur schafft Räume. Das Erdbeben in Armenien 1988 und die Entstehung neuer mental maps in Sowjetarmenien

Stephan Rindlisbacher (Universität Bern, Schweiz): Territorialisierungsprozesse im frühen Sowjetstaat

Discussants: Béatrice von Hirschhausen (Berlin, D), Julia Richers (Bern, CH), Benjamin Schenk (Basel, CH)

Anmerkungen:
1 Henri Lefebvre, La production de l’espace, 4. Aufl. Paris 2000 (1. Aufl. 1974), S. 35–57.
2 Raymond Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester 1994.
3 Benedict Anderson, The Spectre of Comparisons. Nationalism Southeast Asia, and the World, London 1998, S. 58–74.


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