Funktionäre in drei Gesellschaften

Funktionäre in drei Gesellschaften

Organisatoren
Institut für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.05.2002 - 25.05.2002
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Von
Till Kössler, Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung; renate Hürtgen

Das Institut für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum hatte vom 24.–25. Mai 2002 zu einem Workshop unter dem Titel: „Funktionäre im 20. Jahrhundert – Anatomie eines Sozialtypus“ geladen. Man traf sich im durchaus zum Thema passenden Haus „Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets“, das sicher schon manchen Funktionär des 20. Jahrhunderts gesehen hat.

Ein entscheidendes Motiv für dieses Arbeitstreffen hatten die Veranstalter Helke Stadtland und Till Kössler (Bochum) bereits in ihrem Einladungspapier erwähnt. Sie konstatierten eine, trotz spezialisierter Einzelforschungen, „überraschend unterentwickelte Historiographie“ und fehlende „übergreifende Zusammenschau“ des „Funktionärs als Sozialtypus“. Um diese Bestandsaufnahme und Zusammenführung neuerer Erkenntnisse und Ergebnisse zur „Funktionärsforschung“ in drei verschiedenen Herrschafts- und Gesellschaftssystemen sollte es auf dem Workshop dann auch gehen. Wer meint, ein solches Thema könne nur trocken und funktionärsbürokratisch abgehandelt werden, der irrt. Vielleicht lag es an der Offenheit des Themas selbst, vielleicht daran, daß keinerlei Zwänge zur Konformität das Arbeitstreffen belasteten. Die Neugierde auf das, was der/die Kolleg/in aus der anderen Forschungsrichtung zu erzählen hatte, war groß; die Lust, in These und Gegenthese zu einem verallgemeinerbaren Ergebnis zu kommen, ebenso. Von Anfang an stand zudem die spannende Frage im Raum, ob die Geschichte inzwischen nicht längst über den „Funktionär“ hinweggegangen sei, das Phänomen sich also erledigt habe und ein neuer Begriff für die Sache gefunden werden müsse.

Nach einer Begrüßung durch Klaus Tenfelde, Leiter des Instituts für Soziale Bewegungen, führte Helke Stadtland (Bochum) in das Thema ein. Überprüft werden solle, inwiefern sich über eine Untersuchung des Funktionärs als möglicherweise der sozialen Figur des 20. Jahrhunderts schlechthin neue systemübergreifende Perspektiven auf die jüngere deutsche Geschichte eröffneten. Dabei beziehe sich die Untersuchung auf einen Zeitraum, in dem der Funktionärsbegriff häufig pejorativ verwendet oder ganz vermieden wurde. Während den Nationalsozialisten zufolge Funktionäre als Teil der marxistischen Arbeiterbewegung der Vergangenheit angehört hätten, sei in der Bundesrepublik selbst die SPD 1954 zum Funktionärsbegriff auf Abstand gegangen, während die CDU diesen von Anfang an für sich vermieden habe. Und im Kaderstaat der DDR seien Funktionäre dermaßen allgegenwärtig geworden, daß die Trennschärfe dieser Bezeichnung erst einmal fraglich erscheinen möge. Dennoch zweifele kaum jemand ernsthaft an der Existenz und Bedeutung von Funktionären, die sich zunächst einmal minimalistisch beschreiben lassen würden als solche, denen – nach Rekrutierung durch Auswahlverfahren – eine Funktion übertragen wird und die Interessen organisieren, die sie nicht notwendigerweise selbst besitzen. Tatsächlich würden aber mit einer solchen Definition noch viele Fragen offenbleiben: Sollen sowohl hauptamtliche wie auch ehrenamtliche Funktionäre betrachtet werden, sind neben den mit konzeptionellen Arbeiten Betrauten auch die ausführenden bzw. kontrollierenden Organe einzubeziehen, und in welchem Zusammenhang steht die im allgemeinen von Funktionären geleistete Vertretung partieller Gruppeninteressen mit ihrer in der Regel aufs Gemeinwohl ausgerichteten Rhetorik? Lassen sich bestimmte Phasen in der Entwicklung dieses Sozialtypus feststellen? Handelt es sich beim Funktionär eher um ein westliches oder doch um ein systemübergreifendes Phänomen?

Die erste Sektion: Zwischen Bewegung und faschistischem Staat. Die Entwicklung nationalistischer Funktionärsgruppen von den zwanziger Jahren bis Kriegsende, bestritten Jan-Eric Schulte (Dortmund) und Armin Nolzen (Bochum).

Schulte sprach zur „Verschmelzung von Partei- und Staatsaufgaben“: Das Führungskorps der SS im „Dritten Reich“. Dabei unterschied er zwei Phasen. Die „Kampfzeit“ 1925 bis 1933, während der „die haupt- und ehrenamtlichen Führer (der Allgemeinen SS) den typischen, partikulare Interessen vertretenden Funktionär einer (militärisch strukturierten) Parteiformation“ repräsentierten. Diese SS-Führer waren jung, stammten zu etwa 40% aus dem Arbeitermilieu und 50% aus dem Mittelstand, waren meist Volksschulabgänger und hatten eine militärische Sozialisation hinter sich. Die Zugkraft für die Funktionsübernahme könne wohl vor allem aus Aufstiegsmotiven aus einer sozial unterprivilegierten Situation erklärt werden. In der Phase der „Machtergreifung“ 1933 sei ein sozialer Wandel und politischer Bedeutungsverlust für die Funktionäre eingetreten. Gleichzeitig verdoppelte sich der Anteil der Akademiker und des gehobenen Mittelstandes im Funktionärskorps. Vor allem Personen aus dem Bildungsbürgertum übernahmen gern ehrenamtliche Funktionen, deren Motivation jetzt nicht immer aus ideologischen Gründen als vielmehr aus Opportunismus und Karrieregründen sowie einem ausgeprägten, aus dem Rassismus geborenen Elitebewußtsein zu erklären sei. Mit dem „Staatsschutzkorps“, das eine Zusammenführung von staatlicher Sicherheitspolizei, Parteinachrichtendienst und den dort tätigen Beamten und Funktionären im Reichssicherheitshauptamt darstellte, konnte Jan-Eric Schulte auf ein auf dem Workshop wiederholt diskutiertes Phänomen der unscharfen Trennung zwischen Funktionär und Beamtem hinweisen. Eine weitere SS-Funktionärselite machte er in der 1934 errichteten SS-Verfügungstruppe aus, in der sich eine Verzahnung von Partei- und Staatsdiener überdeutlich abgezeichnet habe. Es sei das Anliegen gewesen, die „fachliche Befähigung des traditionellen Beamten und politische Parteinahme des Funktionärs (...) im neuen SS- und Polizeiführungskorps“ zusammenzuführen. Zugleich trat neben das partikulare Interesse der Organisation ein übergeordnetes, dem Willen des „Volkes“ folgendes Gemeininteresse.

Armin Nolzen thematisierte den „Kreisleiter der NSDAP im ,Altreich‘, 1932/33 bis 1945 als Funktionär in einer faschistischen Partei. Der Funktionärstyp der NSDAP sei bislang kaum untersucht, obwohl es nach 1933 mehr als eine halbe Million Funktionäre dort gab, 99% von ihnen waren ehrenamtlich tätig. (Ob damit der Nationalsozialismus tatsächlich die meisten Funktionäre hervorgebracht hatte, stand später noch zur Diskussion). Allein die Kreisleiter, die die mittlere Ebene zwischen den Parteigauen bildeten, seien inzwischen recht gut erforscht. In seiner Ausgangsthese behauptete Nolzen, daß sich die NSDAP seit der „Machtergreifung“ von einer charismatischen zu einer bürokratisch verfaßten sozialen Bewegung entwickelte. Analog dazu lasse sich eine Substituierung der alten bürokratischen Apparate anhand der Kreisleiter gut dokumentieren, die immer mehr Aufgaben übernahmen, welche traditionell der staatlichen Verwaltung zukamen. Dennoch wandte sich Nolzen gegen eine einfache Übernahme des Funktionärs- oder auch Beamtenbegriffs, wenn nicht zugleich die Kriterien ihres Handelns, die Zielrichtung und die Art der Realisierung einbezogen würden. Denn erst „durch eine praxeologische Erweiterung der Weberschen Herrschaftssoziologie“ ließe sich die Funktion der Kreisleiter analytisch fassen. Im folgenden bestimmte er diese und stellte fest: „Es war ihre faschistische soziale Praxis, symbolisiert im permanenten Zusammenfallen von Propaganda und Gewalt, die sie von allen anderen Funktionären des 20. Jahrhunderts unterschied.“

In einer zweiten Sektion: Funktionsträger der Wirtschaft in Diktatur und Demokratie. Wirtschaftsinteresse und -mentalitäten nach 1933, schlugen Christoph Boyer (Frankfurt/M.) und Werner Bührer (München) den Bogen vom Nationalsozialismus zur DDR und zur BRD.

Christoph Boyer verglich Wirtschaftsfunktionäre der DDR und des Nationalsozialismus nach den Bedingungen ihres Agierens, ihren Leitbildern und Programmen, ihrer Praxis, ihrem Sozialprofil sowie Habitus und Mentalität. Für die DDR konzentrierte er sich dabei auf die Funktionäre der Staatlichen Plankommission und den Zeitraum der fünfziger Jahre. Zusammengefaßt konstatierte er, daß der idealtypische Kader der „regimeeigenen“ Schicht von Wirtschaftsplanern in der DDR sich durch eine Kombination von technisch-administrativer Kompetenz, administrativ-organisatorischen Fähigkeiten, marxistisch-leninistischer Schulung, politischer Loyalität und klassenmäßigem Verhalten auszeichnete. Das Leitbild sei die kleinbürgerliche Wohlanständigkeit der „sozialistischen Moral“ gewesen. Die alten bürokratischen Untugenden von Ineffizienz, Formalismus und Verantwortungsscheu hätten sich nach kurzer Zeit aufgrund struktureller Gegebenheiten eines stark zentralisierten Wirtschaftsapparates herausgebildet. Demgegenüber existierten im NS weder eine derartige Kaderpolitik „aus einem Guß“ wie in der DDR noch eine derart monokratisch angelegte Wirtschaftsorganisation, was dann auch zu einem eher polymorphen, uneinheitlichen Charakter der NS-Funktionäre geführt hätte. Ursache dafür seien die Strukturdifferenzen zwischen beiden Gesellschaften, über die auch ihre prinzipielle Gemeinsamkeit – der unbeschränkte Primat der Politik über die Ökonomie – nicht hinwegsehen lassen kann.

Werner Bührer widmete sich den Funktionären im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Zu den Besonderheiten dieses Typus gehöre, daß hier die Ehrenamtlichen eher repräsentative Aufgaben wahrnehmen und in der Mehrzahl zugleich Eigentümer-Unternehmer sind, die Hauptamtlichen dagegen die eigentliche Verbandsarbeit zu leisten haben. Beiden sei eigen, daß sie sich äußerst widerwillig als „Funktionäre“ bezeichnen wollen; der „bloße Funktionär“ war (und ist) eine durchaus abfällige Bezeichnung unter ihnen. Der „freie, eigenverantwortliche Unternehmer“ dagegen sei das (homogene) Leitbild sowohl für den ehrenamtlichen als auch hauptamtlichen Funktionär im BDI. Während im DIW der DDR der „Staatsunternehmer“ saß, repräsentierte der BDI den Mittelstandsunternehmer. Dennoch sei das Selbstverständnis vor allem der Hauptamtlichen geprägt von einem professionell-„dienendem“ Amtsverständnis, also einem Funktionärsverständnis im klassischen Sinne, zudem sei es äußerst homogen im oben benannten Verständnis. Bührer beschrieb im folgenden die ausgeprägte Organisationstreue und den geringen Austausch von Funktionären zwischen 1949 und 2002 sowie die geringe innerorganisatorische Modernisierungsneigung und Veränderungslust, von einigen episodischen Ausnahmen in der Ära Henkel abgesehen. Der offensichtlich im BDI früherer Jahre bevorzugte Begriff des „Wirtschaftsbeamten“ ließ die Diskussion um eine Abgrenzung zum „Funktionär“ unter den Teilnehmern des Workshops wieder aufleben.

Die dritte Sektion: Kader und Manager. Zwei Wege von Funktionsträgern der Arbeiterbewegung? verblieb in der SBZ/DDR und in der Bundesrepublik. Thema waren die Gewerkschaftsfunktionäre beider Gesellschaften.

Helke Stadtland (Bochum) widmete sich in ihrem Beitrag Gewerkschaftsfunktionäre im „Kaderstaat“. Soziale Zusammensetzung, mentale Strukturen, Selbstbilder und Kommunikationsmuster der Zeit bis etwa 1955. Sie stellte fest, daß zu einer entscheidenden Bedingung für das Erscheinungsbild (und Funktionieren!) des neuen Kaderstamms des FDGB die soziale Herkunft, die in der Sozialisation zuvor erworbenen Vorstellungen, Mentalitäten oder Handlungsoptionen der Funktionäre waren, aber auch deren innerorganisatorisches Zusammenwirken. Für die soziale Zusammensetzung konstatierte sie einen spätestens 1952/53 weitgehend durchgesetzten Generationswechsel vom Funktionär alten Typs mit sozialdemokratischer Tradition hin zu einem eher jungen, ohne eine solche Tradition herangewachsenen Funktionär, nicht selten parteilos oder ehemaliges Mitglied der NSDAP. Sein Bildungsstand und seine Qualifikation waren gering, die einsetzende ideologische Schulung durch den FDGB konnte diesen Mangel kaum beheben. Als vorherrschende mentale Disposition machte Stadtland für diese Funktionärsgeneration solche in der HJ- oder BDM-Zeit erworbenen und im neuen DDR-Staat durchaus kompatibel einsetzbaren Denk- und Verhaltensweisen aus wie politisches Desinteresse, Konzentration aufs Private und die Karriere, aber auch Leistungsbereitschaft, Pflichtbewußtsein und Gehorsam. Die Referentin beschrieb dann die ungeheure Ausweitung des Funktionärsstatus im FDGB und deren widersprüchliches Verhältnis zur „Masse“, welche sie zu vertreten vorgaben. Anders als Boyer und Nolzen, die die Organisation als den eigentlichen Formierungsort des Funktionärstypus ausmachten, verwies Stadtland damit stärker auf die Sozialisationszeit vor der Übernahme der Funktion als entscheidend für spätere Typisierungen. Ihre Beschreibung der innerorganisatorischen Kommunikation konnte allerdings gleichfalls deutlich zeigen, wie hoch die Bedeutung der jeweiligen Organisationsstruktur für die Herausbildung des Funktionärstyps ist, die in der DDR zu einer beinahe „geschlossenen“ Gesellschaft führte, in der ein eigener Sprachstil ausgebildet wurde.

Renate Hürtgen (Potsdam) konnte fast nahtlos mit ihrem Beitrag Vertrauensleute des FDGB in den siebziger und achtziger Jahren: Keine Funktion mehr für den Funktionär der Gewerkschaften? an dem vorherigen anknüpfen. Die Weichen waren in vielem für die kommenden Jahrzehnte in der DDR gestellt, der von Stadtland beschriebene Funktionärstyp des FDGB schien bereits 1950 seine endgültige Ausprägung erhalten zu haben. Allerdings gab es wichtige Unterschiede, die auf eine veränderte Strukturbedingung hinweisen. Zum einen ist signifikant, daß die betriebliche Gewerkschaftsarbeit, namentlich die des hier behandelten Vertrauensmannes, zunehmend Sache der Frauen wurde, die sogar viele Vorsitzendenfunktionen übernahmen. Der Typus der parteilosen Angestelltenfrau der mittleren Generation prägte das Bild der Gewerkschaften. Diese brachten zahlreiche in einer typischen Frauensozialisation erworbene Eigenschaften und Verhalten in diese Funktion ein: Sie verstanden sich als unpolitisch, vermieden gerne jeden Konflikt, polarisierten nicht, kamen mit allen gut aus, waren ausgleichend, gesellig und für Gerechtigkeit. Dies „paßte“ genau zum Inhalt der Funktion, die der Vertrauensmann verstärkt in den siebziger und achtziger Jahren als „rechte Hand des Leiters“ und Verteiler kleiner Dienste und Güter hatte. Die Referentin vertrat die These, daß in einem Selektionsprozeß genau jener Funktionärstyp die Funktion eingenommen hatte und seinerseits nun die Strukturen prägte, der die besten Voraussetzungen für dieses Amt mitbrachte. Wie rasch dieser Typ ins Abseits geriet, wenn er nicht mehr „gebraucht“ wurde, ließe sich an der Entwicklung nach 1989 gut nachvollziehen.

Karl Lauschke (Dortmund) ging am Beispiel von Vorsitzenden ausgewählter bundesdeutscher Gewerkschaften der Frage nach, ob diese sich vom Funktionär zum Manager entwickelt hätten. Seinen Ausführungen lägen noch keine eigenen empirischen Untersuchungen zugrunde, sie seien eher hypothetisch, zumal in der empirischen Eliteforschung, in der der Gewerkschaftsführer eher eine „Außenseiterrolle“ einnähme, auch kaum Ergebnisse vorlägen. Lauschke hob die schwierige Doppelrolle des Gewerkschaftsführers hervor, der sich ständig zwischen Professionalität und „Wertegemeinschaft“ zu bewegen hätte, da Gewerkschaften zwei konkurrierenden Strukturprinzipien folgten: Dem einer sozialen Bewegung und dem einer Arbeitsorganisation. So blieben die Funktionäre „bei aller Eigenständigkeit organisatorisch wie normativ stets an ihre Basis gebunden“. Diese Rückkopplung zu den Mitgliedern sei existenznotwendig, ihr „Stallgeruch“ (der nicht zuletzt auch aus ihren Herkünften resultiere) ein wichtiges Bindeglied. Trotz aller Rationalität ihres Tuns blieben sie Funktionäre, die vom Wohlwollen ihrer Organisation und vor allem von der Anerkennung durch die Mitgliedschaft abhängig seien.

In der vierten Sektion: Abschied vom Funktionär? Funktionsträger in den „klassischen“ Funktionärsparteien SPD und KPD der Bundesrepublik, sprach Julia Angster (Tübingen) über Die „Westernisierung“ der Sozialdemokratie, 1940–1965. Sie konstatierte einen um 1960 sich vollziehenden, tiefgreifenden politischen Wandel in der SPD – und wenige Jahre später auch in den Gewerkschaften – hin zu westlich-liberalen Wertvorstellungen. In ihrer Begründung für diese Neuorientierung konzentrierte sich Angster auf die Rolle von Spitzenfunktionären namentlich der SPD in diesem Prozeß. Sie machte eine Gruppe von in die westlichen Länder emigrierten Politikern aus, die ihre dort gesammelten Erfahrungen mit einer liberalen Wirtschaft und Politik einerseits und der gleichzeitigen Desillusionierung mit dem Kommunismus andererseits dazu veranlaßt hätte, die westlich-liberalen Ordnungsvorstellungen nunmehr mit Vehemenz und einem deutlichen Antikommunismus nach Deutschland zu transportieren. Zu diesem Zweck installierten sie ein feingesponnenes Netz von informellen Strukturen sowohl zu den im Exil Verbliebenen und Organisationen etwa in den USA (transatlantische Zusammenarbeit), als auch zu Reformpartnern im Land selbst („Zehnerkreis“). Indem diese Funktionäre Ordnungsvorstellungen aus anderen Ländern in die westdeutsche Arbeiterbewegung übertrugen – so ein Kerngedanke der Referentin – sind sie zu Protagonisten des Wertewandels aufgrund ihrer biographischen Prägung geworden. Seitdem gäbe es nicht nur neue Werte in der Sozialdemokratie, sondern auch einen neuen Funktionärstyp.

Es waren die gleiche Zeit und der gleiche Ort, die Till Kössler (Bochum) in seinem Beitrag über die Grenzen der Kaderpartei. Die Kreissekretäre der KPD 1945–1956 zugrunde legte, dennoch schienen die Themen Welten zu trennen. Kössler beschrieb die Konflikte um den Funktionär und die Funktionärsrolle in der Nachkriegs-KPD, die in eine zähe Auseinandersetzung um den richtigen politischen Kurs der Partei eingebunden waren. Während die Parteiführung aus einem technokratischen Politikverständnis heraus ein Korps anonymer und vielseitig verwendbarer Avantgarde-Kader schaffen wollte, der die neue national ausgerichtete Parteilinie gegen Widerstände vor Ort durchsetzen sollte, dominierte an der Parteibasis ein in der Arbeiterbewegung der Weimarer Jahre verwurzelter Funktionärstyp, der sich als lokaler Arbeiterführer verstand und auf einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber der Parteizentrale beharrte. Die heftigen Konflikte, die sich aus dieser Interessendivergenz ergaben, suchte die Ostberliner Parteizentrale durch eine Modernisierung des Funktionärskörpers „von oben“ auf autoritäre Weise zu lösen. Durch den Einsatz sehr junger, nicht im kommunistischen Parteimilieu verwurzelter Kader sollte gegen lokale Widerstände eine vollständige Übernahme der eigenen Zielvorgaben erzwungen werden. Die Maßnahmen erwiesen sich jedoch als kontraproduktiv, da sie in ihrem technokratischen Zugriff die soziale Verankerung kommunistischer Politik mißachteten und letztendlich eine Zerstörung der lokalen personellen Basis der KPD bewirkten. Die Basisfunktionäre hingegen waren einem ständigen Konflikt zwischen verinnerlichter Parteidisziplin und Resistenz gegenüber ihnen unverständlichen Anforderungen ausgesetzt, der vielfach in einen resignierten Rückzug aus der aktiven Parteiarbeit mündete.

Die fünfte Sektion: Funktionär wider Willen? Die Erben der konfessionellen Milieus vor neuen Herausforderungen, thematisierte zum einen die Sozialgeschichte der hauptamtlichen CDU-Mitglieder durch Frank Bösch (Göttingen), zum anderen die Funktionäre im Katholizismus durch Christian Schmidtmann (Bochum).

Mit dem Beitrag von Bösch war das Problemfeld „Wie definiere ich den Funktionär?“ wieder explizit angesprochen, denn der Referent stellte eine Partei vor, für die – wenigstens in ihren Anfängen nach 1945 – der Funktionär ein „Schreck- und Vorbild“ war. Schreckbild, weil der hauptamtliche Parteiarbeiter nicht einem Vertretungsanspruch des gesamten Volkes entsprach und nicht dem bürgerlichen Selbstverständnis individueller Freiheit. Zudem war die Beziehung zum „sozialistischen Kollektivismus“ für die CDU im Funktionärsbegriff evident. Vorbild, weil auch die frühe CDU nicht ohne einen funktionierenden Organisationsapparat auskam und die Wahlerfolge der SPD auch als Resultat eines effektiven Funktionärskörpers gesehen wurden. Allerdings konnte sich die CDU in ihrer Regierungszeit auf die Hilfe von Kirche und Wirtschaft verlassen. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war die CDU dann auch gezwungen, ihr vornehmlich ehrenamtliches Vereins- und Verbandsvorfeld, darunter auch die eher unqualifizierten Kreisgeschäftsführer, durch hauptamtliche Parteimanager zu ersetzen. Dies wurde vom Referenten als wirkliche Modernisierung der Organisation beschrieben, die auch von einem Generationswechsel begleitet war und eine deutliche Professionalisierung des Apparates zur Folge hatte. Nunmehr rückte die Flakhelfergeneration auf die Posten, die verstärkt eine Parteikarriere damit verbanden. Zwar sollte das Ressentiment gegen den Funktionär bestehenbleiben, der starke Apparat aber wurde auch in der CDU positiv sanktioniert.

Auf eine andere Weise wurde der Funktionärsbegriff in Christian Schmidtmanns Beitrag über die katholischen Vereine und Verbände, die auch als Reaktion auf verlorengegangene ständisch-organisierte Gemeinschaften seit dem vorigen Jahrhundert entstanden, problematisiert. Der Referent spannte den Bogen von den im 19. Jahrhundert die Kirchenarbeit deutlich prägenden Verbänden und Vereinen, mit vielen haupt- und ehrenamtlichen Funktionären, die weitgehend unabhängig von der zentralen Kirchenhierarchie ein eindrucksvolles Verbandsleben organisierten und sich im besten Sinne als Interessenvertreter ihrer Mitglieder verstanden, über eine bereits vor 1933 einsetzende, wieder stärker an die Kirche gebundene Gegenbewegung mit einem starken Konzentrations- und Konformitätsdruck bis zu den fünfziger Jahren, in denen der hauptamtliche „Allroundfunktionär“ mit einer hohen Qualifikation zum bestimmenden Typ im katholischen Bereich werden sollte. Vor allem die nun veränderte Funktion, immer mehr auch Dienstleistungen in professioneller Art anzubieten, ließen den lebensweltlich verankerten Funktionär in den Hintergrund geraten. Das Problem einer funktionärszentrierten Perspektive, welches sich Schmidtmann im Zusammenhang mit seinem Forschungsgegenstand stellt, ist die Frage, wie sich die tendenzielle Auflösung der institutionellen Strukturen und damit der etablierten Funktionärsrolle erfassen lasse, wenn nicht auch „informelle Integrationsmechanismen, fluide Gruppenbildungen und disparate Vergesellschaftungsformen“ in den Blick genommen werden.

Im Laufe des Workshops hatte es verschiedentlich spontane „Angebote“ einer Begriffsbestimmung gegeben. Sie reichten von der Eingrenzung auf den hauptamtlichen Funktionär über die Ausschaltung von Staatsfunktionären bis zur Definition des Funktionärs als leitende Person. Während man sich schnell einigen konnte, den Funktionär nicht nur als hauptamtlichen oder leitenden zu fassen, mußte die Reduzierung auf das Amt in einer Nichtregierungsorganisation oder Partei anläßlich der gerade beschriebenen Verschmelzung von Staats- und Parteifunktionen in den Diktaturen einige Diskussionen auslösen. Es lag nahe, daß gerade Christoph Boyer auf einer sehr weiten Definition insistierte, die den Funktionär ganz allgemein als Träger von in industriell komplexen Gesellschaften geschaffenen Apparaten verstanden wissen wollte.

Die Abschlußdiskussion machte noch einmal deutlich, daß der Funktionär zunächst vor allem in den von der Arbeiterbewegung gegründeten Parteien, Organisationen und Verbänden zu einer wichtigen Figur einer pluralen Industriegesellschaft werden sollte. Dort diente er – und unterschied sich damit vom Beamten oder Angestellten – vor allem den Zielen seiner jeweiligen Organisation; er war ein notwendiger Vermittler zu den Mitgliedern und entscheidender Träger von Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Die rasch einsetzende pejorative Verwendung machte jedoch genau diesen Aspekt der Partizipation bald unkenntlich. In den sechziger und siebziger Jahren lassen sich entscheidende Zäsuren in der „Funktionärsgeschichte“ feststellen, die wesentlich mit der Bedeutungszunahme informeller Strukturen und der Massenmedien zusammenhängen. Diese machen es notwendig, nicht den „Funktionär“ aus der Forschung zu verbannen, sondern den eingetretenen Strukturwandel und die daraus resultierende veränderte soziale Rolle des Funktionärs in den Blick zu nehmen, wie Till Kössler in seinen anregenden zusammenfassenden Bemerkungen formulierte.


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