Autopsie eines Gesamtkunstwerks: das Chorbuch der Münchner Jahrhunderthochzeit von 1568

Autopsie eines Gesamtkunstwerks: das Chorbuch der Münchner Jahrhunderthochzeit von 1568

Organisatoren
Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen, Österreichische Akademie der Wissenschaften; troja, Kolloquium und Jahrbuch für Renaissancemusik
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
21.04.2016 - 23.04.2016
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Von
August Valentin Rabe, Institut für Musikwissenschaft, Universität Wien

Eine „Autopsie eines Gesamtkunstwerkes“ bot das diesjährige Kolloquium zur Renaissancemusikforschung (TROJA), das vom 21.–23. April 2016 im Theatersaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien stattfand. Björn R. Tammen und Nicole Schwindt hatten dafür Vertreter verschiedener Fachrichtungen eingeladen, um die Prachthandschrift 2129 der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Augenschein zu nehmen. In diesem außergewöhnlichen, großformatigen Chorbuch (Folio: 64,1 x 58,9 cm) wird die Motette Gratia Sola Dei von Orlando di Lasso überliefert – umgeben von zahlreichen Textelementen und einem komplexen Bildprogramm alttestamentarischer Thematik. Sogar der Anlass der Komposition und Details über die Aufführung sind bekannt: 1568 erklang das Stück bei einem Bankett der Hochzeit des Wittelsbacher Erbprinzen Wilhelm V. mit Renata von Lothringen. Dem Gegenstand entsprechend konzipierte Organisator Tammen das Kolloquium multidisziplinär, und brachte in zwölf Referaten Musikwissenschaftler/innen, Kunsthistoriker/innen, eine Historikerin, sowie einen Neulatinisten ins Gespräch, um in drei Konferenztagen eine konzentrierte Arbeit sprichwörtlich „am Gegenstand“ zu ermöglichen. Die von langer Hand geplante und durch eigene Forschungen des Organisators vorbereitete Konzeption erwies sich als sehr fruchtbarer Zugang zu einem Objekt, das in vielerlei Hinsicht Rätsel aufgibt und bisher von der Forschung kaum bearbeitet worden ist.

Auf 14 Pergamentblättern, für die aufgrund der Größe der Seiten wohl vierzehn Schafe ihr Leben lassen mussten, erstreckt sich auf mittig angeordneten Feldern die Notation der Motette im Chorbuchformat, umgeben von Bild-, Text- und Ornamentfeldern, Wappen, Drolerien und Zierleisten. Durch den detaillierten Bericht des Hofmusikers Massimo Troiano sind wir heute über die Feierlichkeiten und auch über Art, Ort und Zeitpunkt der Aufführung von Lassos Gratia Sola Dei informiert: Als die Motette beim Tafeln erklang, blieben den Zuhörenden die „Bissen im Halse stecken“ und die Musik rückte unerwartet ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Durch dieses Ereignis wurde das Stück wohl für die besondere Ausgestaltung in der uns heute überlieferten Form qualifiziert.

Zum sinnlichen Auftakt der Tagung erklang die Motette, aufgeführt durch das Wiener Ensemble „Company of Music“ unter der Leitung von Johannes Hiemetsberger. In einleitenden Beiträgen führten sodann NICOLE SCHWINDT (Trossingen) und BJÖRN R. TAMMEN (Wien) in die Besonderheiten des Gegenstands ein und warfen grundlegende Fragen auf, die im Laufe der Tagung durch die zahlreichen Impulse aus unterschiedlichen Disziplinen und Denkrichtungen immer wieder neu aufgegriffen und diskutiert wurden. Was für eine Art der Konzeption steht wohl hinter dem vorliegenden Chorbuch? Wurde es von dem auf der ersten Doppelseite als Schreiber ausgewiesenen Richard von Genua konzipiert? Oder vom ebenfalls genannten Lasso? Welche Funktion erfüllte das Pracht-Chorbuch? Entsteht ein Mehrwert durch den komplexen Medienverbund? Hat das Bildprogramm einen Einfluss auf die ausführenden Musiker? Wie hat man sich die Rezeption vorzustellen?

Angeregt durch diese Impulse und Fragen bot sich dem Publikum die Gelegenheit, das Stück ein zweites Mal zu hören. Zugleich wurde mit zwei Projektoren die jeweilige Chorbuch-Doppelseite über dem singenden Ensemble projiziert. Dies ließ die Teilnehmer/innen eintauchen in die mediale Welt des Chorbuchs mit seiner überbordenden Fülle an Inschriften, Beischriften, Bebilderungen unterschiedlichster Größe und Formate, Wappen und der musikalischen Notation. Schade war, dass das Ensemble selbst sich nicht an dem intermedialen Chorbuch-Experiment beteiligte, sondern dem Schlag des selbst nicht singenden Dirigenten folgend, aus modernen Übertragungen musizierte. Im Anschluss an diese sinnliche intermediale Kontaktaufnahme mit dem Forschungsgegenstand wurde der Fokus wieder geweitet und die Historikerin HARRIET RUDOLPH (Regensburg) bot im Abendvortrag eine Verortung der Fürstenhochzeit in die politische Geschichte und den Kontext zeitgenössischer Festkultur. Dabei erhielt das Auditorium ebenso Einblick in die Bedeutung und die Konsequenzen der Verbindung der Brautleute wie auch einen Überblick über das übrige Festgeschehen im Rahmen der zehn Tage währenden Feierlichkeiten. Hier beobachtete Rudolph das Fehlen einer übergeordneten Konzeption für die zahlreichen Bankette, Jagden, Turniere und übrigen Ereignisse zur Kurzweil der Gäste. Dieser eher additiven – als konzeptionell durchdachten – Abfolge von Ereignissen entsprechend, sah sie auch in der Handschrift eine Reihung von Text- und Bildelementen. Des Weiteren entwickelte sie die These, dass das Chorbuch nicht in Auftrag gegeben, sondern vielmehr von den Künstlern selbst initiiert worden sei.

In einem erfreulich produktiven und angeregten Diskussionsprozess wurden im Laufe der folgenden eineinhalb Tage die Ausgangsfragen weiter ausdifferenziert, ergänzt und immer wieder neu gestellt und bewertet.

Eine Einordnung der Motette in den musik- und gattungsgeschichtlichen Kontext bot das Referat von ANDREAS PFISTERER (Würzburg). Pfisterer unterzog das Stück vom Text ausgehend einer eingehenden Betrachtung, wobei er auch andere zeitgenössische Hochzeitsmotetten als Vergleichsbeispiele heranzog. Das Plenum schloss sich in der Diskussion seinem Fazit an, dass es sich um eine eher unspektakulär komponierte Motette handle, die den Text nur zurückhaltend musikalisch ausdeutet.

ANDREA GOTTDANG (Salzburg) erweiterte als Kunsthistorikerin die Perspektive und ihr gelang im Zuge einer gründlichen „Sezierung“ des Layouts und der Bildfelder der Nachweis zahlreicher Bildvorlagen. Schreiber und Zeichner Richard von Genua wurde als hervorragender Kopist erkannt, der Bild- und Dekorelemente zum größten Teil aus zeitgenössischen Vorlagenbüchern entnommen haben muss. Des Weiteren zeigte sie, dass Arbeitsökonomie wohl den Schaffensprozess bestimmte, die Handschrift in wenigen Monaten entstanden sei, und sie bestärkte aus kunsthistorischer Warte die These, dass wohl die Künstler selbst für die Konzeption und Umsetzung der Handschrift verantwortlich gewesen seien.

Daran anschließend bot DAGMAR EICHBERGER (Heidelberg/Trier) ebenfalls Einblicke in den Produktionsprozess der Handschrift, indem sie Vorlagen aus zeitgenössischer niederländischer Druckgrafik identifizierte und über eine Analyse von Bild-Paratexten zeigte, dass eine Bestimmung des Chorbuchs für Wilhelm V. sehr wahrscheinlich ist.

BERNHOLD SCHMID (München) nahm Lassos mutmaßliches Zitat von Didier Lupis Susanna un jour zu Beginn der „Tertia Pars“ als Ausgangspunkt für eine Untersuchung weiterer Hochzeitsmotetten, welche die – damals überaus bekannte – Susannen-Chanson zitierten. Der von Schmid beobachtete Zusammenhang zwischen dem Susanna-Zitat in der Musik und dem wenig später bildlich aufbereiteten Susannen-Stoff wurde kontrovers diskutiert und warf zudem die Frage nach Lassos Beteiligung an der Konzeption des Bildprogramms auf.

Einen Denkanstoß in eine ganz andere Richtung gab das Kurzreferat von BIRGIT LODES (Wien). Troianos Bericht über eine Commedia dell'arte-Aufführung am vorletzten Abend der Hochzeit zitierend, richtete sie den Blick auf den vielgerühmten Schauspieler Lasso, der – wie viele andere Höflinge – im Rahmen der Feierlichkeiten in unterschiedlichen Rollen agierte. Anhand zahlreicher Briefe rief sie die Leidenschaft des Bräutigams Wilhelm V. für die Commedia dell'arte in Erinnerung und verglich schließlich Drolerien der Handschrift mit dem – mehrere Jahre nach der Hochzeit erstellten – Freskenzyklus der „Narrentreppe“ im Wohnsitz des Brautpaars auf der Burg Trausnitz in Landshut. Frau Lodes lud somit dazu ein, in dem Chorbuch auch die für den Bräutigam offenbar sehr wichtigen spielerisch-improvisatorischen Elemente zu erblicken.

Einen Höhepunkt des Kolloquiums bildete die kodikologische Sondersitzung in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek am Freitagnachmittag. Die gemeinsame Arbeit am Gegenstand war aufschlussreich, und die Quelle ließ sich zusätzlich zu den Erläuterungen der Buchmalereiexpertin MARIA THEISEN (Wien) in ihrer Materialität ein weiteres Mal sinnlich erfahren.

Zurück im Theatersaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eröffnete PHILIPP WEISS (München) den letzten Konferenztag und beschäftigte sich unter dem Blickwinkel der neulateinischen Philologie mit der Textvorlage der Motette. Dabei stellte er fest, dass es sich um den mustergültig durchgeführten Schlussteil eines Epithalamiums handle, der offenbar für die Vertonung gedichtet worden sei.

Der Organisator der Tagung Björn R. Tammen (Wien) erläuterte in seinem Referat die bildlich dargestellte Tobiasgeschichte nebst möglichen Vorlagen und Bezugnahmen auf den Münchner Pracht-Kodex Mus.Ms.B. Dabei zeigte er intermediale Verschränkungen, wechselnde Leserichtungen und verschiedene Wege der Sinnkonstruktion auf.

Durch die Beschäftigung mit Rätselkanons in der Analyse intermedialer Phänomene geübt, widmete sich KATELIJNE SCHILTZ (Regensburg) ein weiteres Mal dem Layout und den sich daraus ergebenden Leseoptionen. Sie konnte herausarbeiten, dass das „Lesen“ dieser Handschrift eher einem hermeneutischen Prozess gleiche, da viele Leserichtungen möglich seien, die jeweils verschiedene Sinnkonstruktionen erschlössen.

In der abschließenden Diskussion wurden noch einmal offene Fragen und gewonnene Erkenntnisse zusammengetragen: Während sich das Plenum einig war, dass die Künstler in Eigenregie an der Erstellung der Handschrift wirkten – und es sich aus verschiedenen Gründen nicht um ein Auftragswerk handeln könne – schlug Nicole Schwindt vor, dass Richard von Genua die Handschrift als „Bewerbung“ auf den Kapellmeisterposten in der Thronfolger-Residenz Landshut erstellt haben könnte, und Lasso selbst über das bloße Zur-Verfügung-Stellen der Musik hinaus nicht mitgewirkt habe. Abschließend wies KLAUS PIETSCHMANN (Mainz) darauf hin, dass ungeachtet der bemerkenswerten Erkenntniszuwächse im Rahmen der Tagung in den teilweise unausgeführten Wappenfeldern – und damit der unklaren Adressierung –, in der noch unerforschten Provenienz und im Fehlen von Vergleichsbeispielen derartig prominent überlieferter musikalischer Einzelwerke drei zentrale Fragen offen sind.

Das diesjährige Kolloquium zur Renaissancemusikforschung zeichnete sich durch lebendige, produktive Diskussionen, eine anregende Atmosphäre, sowie eine konzentrierte Arbeit am Gegenstand aus. Das Konzept einer interdisziplinären „Autopsie“, bei der sich die Sichtweisen von verschiedenen Disziplinen einander ergänzen, erwies sich als sehr ergiebiger Ansatz, um dem außergewöhnlichen, multimedialen Forschungsobjekt zu begegnen. Die Publikation der Beiträge ist im Rahmen des demnächst online erscheinenden Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik vorgesehen.

Konferenzübersicht:

Orlando di Lasso, „Gratia sola Dei“
Company of Music
Leitung: Johannes Hiemtesberger (Bernd Hemedinger, Florian Ehrlinger, Cantus; Alexander Josef Mayer, Altus; Benedikt Blaschek, Helmut Simmer, Tenor; Daniel Gutmann, Bass;)

Grußworte

Thematische Einführungen
Nicole Schwindt (Trossingen)
Björn R. Tammen (Wien)

Orlando di Lasso, „Gratia sola Dei“
Aufführung mit Parallelprojektionen
Company of Music

Abendvortrag
Harriet Rudolph (Regensburg): Die Münchner Fürstenhochzeit von 1568. Politische Rahmenbedingungen und mediale Dimensionen eines Jahrhundertereignisses

Andreas Pfisterer (Würzburg): „Gratia sola Dei“ im musikalischen Gattungskontext

Andrea Gottdang (Salzburg): Formatvorlage, Copy & paste: Richard von Genua und das Layout von Mus. Hs. 2129

Dagmar Eichberger (Heidelberg/Trier): „Icones Illustrium Feminarum Veteris Testamenti“ - tugendhafte Töchter, Ehefrauen, Mütter und Witwen

Bernhold Schmid (München): „Ornamentum Decus Exemplar Et Speculum omnium mulierum Susanna“. Mus. Hs. 2129 und Daniels Erzählung von Susanna

Birgit Lodes (Wien): Richards Drolerien

Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek
Moderation: Björn R. Tammen (Wien)
Arbeit am Original

Impulsreferat
Maria Theisen (Wien): Materialität des Buches

Philipp Weiss (München): Nicolò Stopios „Gratia sola Dei“ im Kontext neulateinischer Epithalamiendichtung

Björn R. Tammen (Wien): Die Erzählung von Tobias und Sara: 'Fragwürdiges' zu Richard von Genua und Mus. ms. B der Bayerischen Staatsbibliothek

Katelijne Schilz (Regensburg): Intermedialität und emblematische Strukturen in Mus. Hs. 2129

Abschlussdiskussion


Redaktion
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