Mythos und Wissen. Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs

Mythos und Wissen. Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs

Organisatoren
Masterstudiengang "Geschichte als Wissenskultur", RWTH Aachen
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.03.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christina Bröker / Sarah Gatzlik, RWTH Aachen

Am 18. März 2016 fand an der RWTH Aachen die Tagung „Mythos und Wissen. Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs“ statt. Auf der von den Studierenden des Masterstudiengangs „Geschichte als Wissenskultur“ organisierten Veranstaltung diskutierten Nachwuchswissenschaftler über das Verhältnis von Mythen und Wissen und deren Einfluss auf die Wissenschaft. Das Ziel der Tagung war es, Chancen und Probleme dieser hochkomplexen Themenverknüpfung festzustellen und aufzuzeigen.

CHRISTINA BRÖKER und SARAH GATZLIK (beide Aachen) legten in ihrem Eröffnungsvortrag die Basis für die anschließenden Vorträge und die jeweiligen Diskussionen: Sie definierten Mythos als eine dynamische Erzählung mit einem „wahren Kern“. Dem Mythos wohne auf dieser Basis ein kollektives Element bei, das zudem einen identitäts- und sinnstiftenden Charakter habe. Zudem konstatierten die Vortragenden, dass der Mythos an sich veränderbar sei und keine feste Struktur habe; dies mache ihn für jeden Kontext anwendbar und sorge für eine noch höhere Identitätsstiftung. An dieser Stelle verknüpften sie Mythen mit Wissen: Wissen ist in seiner Darstellung seit jeher untrennbar mit Mythen vernetzt. Durch sie werde Wissen verändert und weitergetragen – damals wie heute. Die beiden Referentinnen warfen die Frage auf, ob beide Komponenten je nach Perspektive nicht auch in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen oder sich gar ausschließen würden. Resümierend zeigten sie, dass die Untersuchung der Beziehung von Mythos und Wissen nicht nur Aufschluss über eine nähere Definition des Mythos bieten, sondern auch den Zusammenhang von Mythos und Wissenschaft als Aufgabe der Wissenschaft anregen und hinterfragen kann.

GEORG FRIEDRICH HEINZLE (Köln) thematisierte in seinem Vortrag das Verhältnis von Mythos und Wissen am Beispiel der langfristigen Deutungsgeschichte der Schlacht von Fontenoy (841) in Frankreich. Von einem funktionalen, auf Narrativität abzielenden Mythosbegriff ausgehend, zeichnete er die Entwicklung der Erinnerung an den blutigen Höhepunkt des Karolingischen Brüderkrieges anhand von Beispielen aus dem Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert nach. Die Darstellung der Schlacht in den Grand Chroniques de France und die Errichtung eines Denkmals am Schlachtort im Jahr 1860 zeigten die Umdeutungen und Neuerzählungen, durch die aus der Katastrophe des 9. Jahrhunderts der Mythos von der in Fontenoy erfochtenen Freiheit Frankreichs entstand. Dass sowohl im 13. als auch im 19. Jahrhundert trotz verbreiteten Wissens über die Quellen nicht das eigentliche Geschehen von 841, sondern seine funktionale Umdeutung im Mittelpunkt standen, verdeutlicht das Nebeneinander von Mythos und Wissen und die Eigenständigkeit des Mythos als historisches Phänomen.

Im anschließenden Vortrag fragte TOBIAS HIRSCHMÜLLER (Eichstätt-Ingolstadt), ob die Revolution von 1848/49 als reales Vorbild für ein demokratisches Deutschland gelten kann oder diese Annahme allein durch den entsprechenden Mythos entstand. In der politischen und gesellschaftlichen Erinnerungskultur der Bundesrepublik habe sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, dass die Revolutionsjahre 1848 und 1849 unter dem Motto „Einheit in Freiheit“ der Beginn der Demokratiegeschichte in Deutschland gewesen seien. In diesem Zuge wurde der historische Mythos konstruiert, dass die Westdeutschen 1948/1949 im Parlamentarischen Rat und die Ostdeutschen durch die „Friedliche Revolution“ 1989 das vollendeten, was im März 1848 mit den Barrikadenkämpfen begonnen hatte. In der politischen Erinnerungsdimension des wiedervereinigten Deutschlands wurde zudem der europäische Charakter der Revolution hervorgehoben. Der Referent zeigte jedoch durch seine wissenschaftliche Analyse der entscheidenden Akteure der Provisorischen Zentralgewalt, dass „Revolution“ nicht in affirmativer Weise gebraucht wurde, sondern stattdessen ein entschiedenes Bekenntnis zur Monarchie und Vorbehalte gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht vorlagen. Aufbauend auf diesen Analysen dekonstruierte Hirschmüller den Mythos, der sich um die Revolution rankt, entscheidend.

Um politische Mythen ging es auch im dritten Vortrag, in dem sich EVA MÜLLER (Würzburg) dem Mythos der Kommunistischen Partei Italiens im Kampf gegen den Faschismus zuwandte. Sie definierte Mythen zunächst als Narrative, die aufgrund ihrer einfachen, in sich logischen und aus einer speziellen Perspektive betrachteten Struktur besonders einprägsam sind. Diese Struktur der Mythen stehe im engen Zusammenhang mit ihrer medialen Vermittlung: In Großgruppen müssen sie massenmedial effektiv zu vermitteln sein. Auch bei kleinen Gruppen, zum Beispiel Familien, müssen die Mythen entsprechend strukturiert sein; sie werden bspw. durch das "rituelle" Erzählen der immer gleichen Geschichten vermittelt. Die Referentin zeigte anhand des Beispiels der Kommunistischen Partei, dass Mythen immer eine kollektive und eine emotionale Komponente haben und – nach Ernst Cassirer – immer eine soziale Funktion vor allem bei der Integration von Gruppen erfüllen. Politisch-historische Mythen, so Müller, seien demnach ein wichtiges Kommunikationsmittel innerhalb politisierter Gesellschaften, wobei sie sich eben nicht auf autoritäre oder totalitäre Gesellschaften beschränken. Sie resümierte, dass man hierbei nicht (immer) von einem reinen Sender-Adressaten-Modell ausgehen kann; vielmehr spielen kollektive Prozesse eine Rolle.

CHARLOTTE KIEßLING (Köln) befasste sich im Anschluss mit G.E. Rumphius und analysierte vergleichend die eigene Darstellung seiner Person in seinen naturhistorischen Werken, dem Amboinischen Raritäten-Kabinett (Amsterdam 1705) und dem Herbarium Amboinense (Amsterdam 1741-1755) sowie die allgemeine Darlegung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese Darstellungen bildeten die Grundlage für den späteren Mythos um die Person Rumphius. Nicht nur die Namensänderung, sondern ebenso oder vor allem die Erblindung Rumphius‘ prägte dessen Reputation durch das Hinzufügen von etwas Besonderem und ebenso Unerklärlichem. Diese Darstellung des Wissenschaftlers und seines Mythos’ wurde in Kießlings Vortrag allerdings durch Einbringen weiterer Personenkreise aufgelöst, die Einfluss auf die Wissens- und Textproduktion der Werke hatten, neben Rumphius aber kaum Erwähnung finden. Dabei wurde aufgezeigt, dass die Betonung und Mythisierung Rumphius' als Auswirkung einer kolonialen Machtstruktur verstanden werden könne und die Wissenschaftspraxis im Falle Rumphius' im kolonialen Kontext zwischen Asien und Europa gesehen werden müsse.

In seinem Vortrag zur Abtei Ettal und dem „Mythos des wilden Waldes“ stellte CHRISTIAN MALZER (München) einen narrativ definierten Mythosbegriff zur Diskussion. Dabei ging er zunächst auf die historischen Hintergründe der mittelalterlichen Klostergründung der Abtei Ettal ein, ehe er in einem zweiten Abschnitt Mythen als kollektive, sinnstiftende Narrative mit legitimierender Funktion definierte. In einem dritten Teil griff er diese Definition auf, um die Quellengattung der Klostergründungslegenden zu erörtern und Berührungspunkte mit mythischen Narrativen herauszuarbeiten. Mit Hilfe des Aktantenmodells von Algirdas Greimas konnte Malzer anschließend die Gründungserzählung in narrative Bausteine zerlegen und den „stabilen Kern“ der Fundatio Ettalensis und ihrer Rezeptionsstufen herausarbeiten. Die älteste Gründungslegende aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts führt dabei das Motiv des wilden Waldes ein. Dieses wurde nach Malzer aus der höfischen Literatur entlehnt und zielte nicht auf eine reale Beschreibung des Naturraumes ab. Vielmehr ist der wilde Wald als literarischer Topos zu verstehen, der einen Bewährungsraum konstruiert, in dem die exkommunizierte Stiftergestalt Kaiser Ludwig IV. ihre Tugendhaftigkeit und damit die Legitimität der gesamten Klostergründung beweisen konnte. Der Mythos des wilden Waldes ist hier also als politisches Narrativ zu deuten, das in einer Krisenphase des monastischen Konvents Identität und Legitimität erzeugen sollte.

LENA MOSER (Tübingen) beschäftigte sich mit den Mythen, die sich um die Royal Navy ranken. Dabei beleuchtete sie zwei populäre Mythen, die aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit eigentlich miteinander konkurrieren müssten. Als ersten Mythos erwähnte sie die sogenannte „schwarze Legende“, die sich um tyrannische Kapitäne, Meutereien, Gewalt und Trunkenheit dreht und allgemein am Bekanntesten ist. Demgegenüber stehe die „Legende aurea“, die sich vor allem auf positive Werte, Seehelden, Kameradschaftsgeist und ähnliches fokussiert. Bei der Betrachtung dieser beiden Mythen sei vor allem die unterschiedliche Wahrnehmung von Öffentlichkeit und der Akteure ein Problem. Die Konstruktion der Mythen erfolge so vor allem durch die Erwartungshaltung von Zeitungs- und Romanlesern und gleichzeitig durch die Selbstkonstruktion des Bildes durch die Navy, wie Moser darlegte. Sie zeigte zudem, wie sich beide Mythen, aber vor allem das Bild des Seehelden, auf die Wissenschaft auswirkt. Zahlreiche Publikationen zu James Cook, in denen dieser immer noch honorierend erwähnt wird, zeigen dies. Zusätzlich werde die Popularität von Admiral Nelson verwendet, um Publikationen gleichermaßen populär zu machen, indem er auf unterschiedlichen Covern Erwähnung findet, obwohl sich die Veröffentlichungen nicht speziell mit ihm, sondern nur allgemein mit der Navy beschäftigen.

MATTHIAS GÖRNER (Aachen) schloss die Tagung mit einer Zusammenfassung ab, in der er nochmals die anfangs gestellten Fragen aufgriff und die Gemeinsamkeiten von den Vorträgen sowie die Erkenntnisse aus den Diskussionen im Hinblick auf Mythen und Wissen rekapitulierte: Jede der vorgestellten Mythen stelle einen Prozess dar, sei dynamisch und unterliege der jeweiligen Zeit. Die jeweilige Entstehung der Mythen müsse nicht, könne aber zeitnah sein. Zudem unterschieden sich die jeweiligen Mythen in ihrer Reichweite – sie seien teilweise lokal begrenzt -, haben aber alle einen Kern, der im Kollektiv identitätsstiftend sei. Die Verbindung von Mythen und Wissen sei letztendlich vor allem in der Kommunikation zu sehen, die sich bei allen Vorträgen als verbindender Faktor zeigt. Mythen, so resümierte Görner, können nicht von jetzt auf gleich entstehen. Ihre Entstehung beschreibe einen Prozess, wie es auch bereits in der Einleitung der Tagung deutlich wurde. Sowohl Mythen als auch Wissen seien demnach dynamisch, womit die Verbindung beider Untersuchungsaspekte der Tagung noch deutlicher auf den Punkt gebracht wurde.

Die Abschlussdiskussion brachte auf gleiche Weise die wichtigsten Erkenntnisse der Tagung noch einmal ins Gedächtnis: Der Begriff des „wahren Kerns“ wurde als Grundfragestellung der Tagung hervorgehoben. Hier bestehe noch Klärungsbedarf, um diesen "Kern“ als wichtiges Merkmal des Mythos genauer fassen zu können. Der von Christian Malzer eingebrachte Vorschlag, stattdessen von einem „stabilen Kern“ zu sprechen, trägt dem Charakteristikum des Mythos, neben seiner Dynamik immer bestimmte Bestandteile zu erhalten, Rechnung. Zum anderen sei dieser Begriff weniger wertend. Der Mythos lasse sich nicht auf einen „wahren Kern“ reduzieren, er sei vielmehr eine Verstehenskategorie bzw. eine Auslegung von Wahrheit. Hier wurde die anfangs gestellte Frage aufgegriffen, wie Mythen im Verhältnis zur Wahrheit stehen.

Auch wenn Fragen offengeblieben sind – die Beschäftigung mit dem Thema „Mythos und Wissen“, die Vielfältigkeit der Vorträge sowie vor allem die Diskussionen haben eine Annäherung an ein komplexes Themengebiet möglich gemacht. Gleichzeitig wurden neue Überlegungen und Fragen eröffnet, die in der Einleitung nicht zur Debatte standen, aber große Daseinsberechtigung in diesem Themenfeld haben und in Zukunft von der Forschung verfolgt werden sollten. Durch die sich an die Vorträge anschließenden Diskussionen wurde deutlich, dass über die Dekonstruktion der Entstehungsursachen von Mythen weiterhin debattiert werden sollte. Publikum und Referenten waren sich einig, dass es wichtig ist, die Perspektive zu erweitern und eben nicht nur zu untersuchen, wer oder was den Mythos konstruiert hat. Es zeigte sich zudem, dass es Aufgabe der Wissenschaft sein muss, Mythen zeitlich differenziert zu analysieren und zu überlegen, welcher Mythos in welche Zeit passt und wie jeweils Identität begründet werden kann. Diesbezüglich müssten, so der Tenor der Diskussionsbeiträge, verschiedene Diskursebenen in Mythen betrachtet werden, da diese oft ortsgebunden seien und damit für bestimmte Gruppen ausscheiden - im Gegensatz zu Personenmythen, die ortsunabhängig sind und jedem einen Anknüpfungspunkt bieten können. Allgemein machten die Vorträge und Diskussionen deutlich, dass Mythen einen deutlich diskursiven Charakter haben. Das generelle Geschichtswissen in der Bevölkerung stellte einen weiteren wichtigen Aspekt in der Besprechung der Vorträge dar. Bei einem Vergleich zwischen Neuerer Geschichte und Mittelalter oder Antike fiel auf, dass es bei ersterer viel mehr Quellen als in den anderen Epochen gebe. Hier bleibt zu untersuchen, ob sich dies auch auf die Entstehung von Mythen auswirkt und welchen Einfluss Politiker durch Reden bei Jubiläen auf die Mythenbildung haben. Derjenige, der die einzelnen Texte zum Mythos verschriftliche, habe in jedem Fall auch einen Einfluss darauf, welche Elemente hinzukommen und betont werden.

Zusammenfassend wurde deutlich, wie schwierig es ist, eine eindeutige Definition des Mythos zu geben, die ohne Ausnahmen funktioniert; unter Umständen kann von einem „vorsichtigen“ Mythosbegriff gesprochen werden. Infrage gestellt werden muss allerdings die Gleichstellung mit anderen Begriffen wie zum Beispiel der Legende. Publikum und Referenten schlossen, dass der Mythos kulturell starken Einfluss hat, die Gesellschaft sogar nach ihm verlange. Somit komme ihm eine bedeutende soziale Funktion für die Gemeinschaft zu, er sei aber auch stark medial geprägt und dadurch verkürzt dargestellt. Mythen hätten zusätzlich die Tendenz, nur mit Distanz erkennbar zu sein. Auch seien diese jeweils einfach, aber gleichzeitig sehr komplex, wobei es sich allerdings nicht zwingend um einen Widerspruch handele.

Zuletzt sei noch eine Überlegung zu nennen, die zum Abschluss der Tagung durch das Publikum angeregt wurde: Sollte es einen „mythological turn“ geben? Können mit dem Mythos als Wissenskategorie nicht andere oder gar deutlichere Erkenntnisse gewonnen werden, die sich dem Historiker aus den normalen Methoden und Kategorien entziehen? Allein durch die ständige Anwesenheit von Mythen ist die Legitimation einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema in jedem Fall noch länger gegeben.

Konferenzübersicht:

Christina Bröker & Sarah Gatzlik (Aachen): Begrüßung

Georg Friedrich Heinzle (Köln): „Le souvenir des nos gloires“. Überlegungen zur Schlacht von Fontenoy (841) in der französischen Erinnerung des Spätmittelalters und des 19. Jahrhunderts

Tobias Hirschmüller (Eichstätt-Ingolstadt): Vorbilder für ein demokratisches Deutschland? Die Mythisierung der Revolution von 1848/1849 im Geschichtsbild der Bundesrepublik

Eva Müller (Würzburg): Vom Mythos zur Macht? Die Kommunistische Partei Italiens im Kampf gegen den Faschismus

Charlotte Kießling (Köln): Rumphius, der blinde Seher von Ambon. Vom Mythos des Wissenschaftlers

Christian Malzer (München): Die Abtei Ettal und der Mythos des wilden Waldes. Überlegungen zur mittelalterlichen Klostergründungslegende, ihrer Rezeption und Funktion

Lena Moser (Tübingen): „Our bold British tars?“. Der Mythos der Royal Navy in kollektiver Erinnerung, Fiktion und Wissenschaft


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