Schriftlose Vergangenheiten. Der Umgang mit nicht schriftlich dokumentierten Geschehnissen

Schriftlose Vergangenheiten. Der Umgang mit nicht schriftlich dokumentierten Geschehnissen

Organisatoren
Lisa Regazzoni, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutsches Historisches Institut Paris, Gerda Henkel Stiftung
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
16.03.2016 - 18.03.2016
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Von
Annett Schyschka, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; David Spieker; Anja Westphale

Die internationale Tagung fand vom 16. bis 18. März am Deutschen Historischen Institut Paris statt. Im Mittelpunkt der von LISA REGAZZONI organisierten Veranstaltung stand die epistemologische Frage, wie historisch arbeitende Gelehrte und Wissenschaftler/innen – von der Frühen Neuzeit bis in unsere Gegenwart – mit Ereigniskomplexen und Kulturen umgingen bzw. umgehen, über die keine oder nur unzulängliche schriftlichen Zeugnisse tradiert worden sind.

Sektion I begann nach Grußworten und Einleitung von THOMAS MAISSEN (Paris) mit einem einführenden Vortrag Lisa Regazzonis (Frankfurt am Main). Sie verwies zunächst auf die Entstehung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als akademische Disziplin mit eigenen Regeln, Methoden und Forschungsfeldern, die sich in Abgrenzung zu den schriftlosen Vergangenheiten etablierte. In einem Längsschnitt durch die Entwicklung derselben im 19. und 20. Jahrhundert zeigte sie auf, wie Historiker/innen immer wieder auf nichtschriftliche Quellencorpora rekurrierten, um Fragen der Kultur- und Alltagsgeschichte zu beantworten sowie die Geschichte von schriftlosen oder nicht zu Wort gekommenen Menschengruppen zu erkunden. Dabei betonte Regazzoni, dass jegliche Auswahl und Epistemologie historischer Quellen dem Politischen nicht fernstehe und dass sie stets die bestehenden Machtverhältnisse – mittelbar oder unmittelbar – ausdrücken.

Die Beiträge der Sektion I untersuchten die frühneuzeitliche Auseinandersetzung mit Völkern, die entweder in geographischer Entfernung von den europäischen Ländern angesiedelt waren oder in fernen – biblischen oder vorrömischen – Vergangenheiten der europäischen Geschichte lebten. ANTONELLA ROMANO (Paris) widmete sich in ihrem Vortrag der jesuitischen Geschichtsschreibung und ihren epistemologischen Matrices im 16. Jahrhundert am Beispiel der Werke der Jesuiten José de Acosta und Antonio Possevino. Anhand ihrer Schriften schilderte sie die unüberwindlichen Hindernisse, die sich der Verfassung einer Geschichte des „West India“ vor der spanischen Eroberung entgegenstellten. Dies aufgrund der damals bereits fast verloren gegangenen mündlichen Überlieferung und der Bestrebungen, die „wilden“ und „ungläubigen“ Völker in die (biblischen) Erzählungen zu integrieren.

IRIS GAREIS (Frankfurt am Main) diskutierte in ihrem Vortrag die Folgen und Auswirkungen des Aufeinandertreffens andiner Oralität und europäischer Schriftlichkeit vom 16. bis 17. Jahrhundert. Sie hob die Diskrepanzen zwischen den beiden Kulturen hervor, wie sie etwa zwischen der absoluten Chronologie der europäischen Historiographie und der relativen Chronologie der andinen Völker bestanden sowie das unterschiedliche Verständnis von Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Des Weiteren problematisierte sie die Frage der mündlichen Überlieferung, die unter Anderem Garcilaso de la Vega als Quelle verwendete. Diese Überlieferung war bereits das Ergebnis von machtbedingten Selektionsprozessen seitens des Inka Adels, der eine wesentliche Rolle in der Anwendung der Schriftlichkeit und Anpassung an den spanischen Sitten spielte.

Am Beispiel des im Jahr 1639 bei Gallehus im Herzogtum Schleswig gefundenen und im 19. Jahrhundert verlorengegangenen goldenen Horn, zu dem keine schriftlichen Zeugnisse vorlagen, widmete sich DOMINIK FUGGER (Erfurt) der Interpretationsgeschichte des Artefakts. Auf dieser Weise zeigte er in seinem Vortrag, wie Zeitgenossen – in primis Ole Worm im Jahre 1641 – mit der Schriftlosigkeit des betrachteten Objekts umgingen und in welche Narrative sie es jeweils einbauten. Dabei skizzierte er den methodologischen Übergang von der allegorischen Deutung eines Worms zu der historischen von Troels Arnkiel einiger Jahrzehnten später sowie ihre Einbettung in das dänische Nationalnarrativ.

Die beiden Referenten der Sektion II beschäftigten sich mit Gegenständen als Trägern schriftloser Vergangenheiten, die bei der Herausbildung moderner Disziplinen wie der Volkskunde, Anthropologie und Paläontologie und ihrer Verselbstständigung von der Geschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten.

ELISABETH TIMM (Münster) machte dies für die Volkskunde deutlich, die sich mittels ihres epistemischen Propriums „Volkskultur“ von den historisch arbeitenden Wissenschaften abgrenzte. Als um 1900 die so genannten „Bärmuttern“ – mit Stacheln besetzte, kugelförmige Votivgaben, die man gegen Frauenleiden verwendete – Eingang in volkskundliche Sammlungen fanden, wurden sie zu Zeugnissen einer ahistorischen populären Religiosität erklärt; die enge Verbindung zur hippokratischen Medizin, der zufolge die Gebärmutter (griech. hystéra) durch den Leib wandert und so Schmerzen verursacht, wurde hingegen nicht mehr erkannt. An den Platz dieser traditionellen Erklärung, die Stachelvotiven und gelehrter Medizin gemein war, trat schließlich der entmaterialisierte Hysterie-Diskurs der Psychoanalyse.

Der Vortrag von MARIANNE SOMMER (Luzern) – vorgetragen von CHARLOTTE BIGG (Paris) – beschäftigte sich mit der (Re)Konstruktion der biohistorischen Menschenwerdung, die Henry Fairfield Osborn (1857–1935) im American Museum of Natural History in New York präsentierte. Organische Überreste wie Fossilien und eigens angefertigte Rekonstruktionen betrachtete Osborn als authentische Zeugnisse der Evolutionsgeschichte. Die Aura der Authentizität ließ sie gegenüber anderen Belegen als epistemisch überlegen erscheinen. Mit seinem Narrativ wollte Osborn die Relevanz der Vorgeschichte für die Gegenwart behaupten und damit zu Diskursen über Gesellschaftsordnungen und Rassen in einer breiten Öffentlichkeit beitragen.

Die Frage ging weiter in der Sektion III mit dem Vortrag von HANS PETER HAHN (Frankfurt am Main), der die Entstehung der Ethnologie als sich von der Geschichte verselbstständigen Disziplin in den Mittelpunkt rückte. Diese definierte sich zunächst über ein Forschungsfeld, das die Geschichtswissenschaft preisgegeben hatte: Die Geschichte der Gesellschaften und Kulturen ohne Schriftzeugnisse. Die Quellen der neuen Disziplin waren vielmehr Artefakte, mit denen die Ethnologen anhand von Klassifizierung und musealer Nebeneinanderstellung globalgeschichtliche Entwicklungs- bzw. Evolutionsgeschichten zu umrissen glaubten. Dieser historische Ansatz und die Betrachtung der Objekte als historische Quellen verschafften zwar der Ethnologie die Anerkennung als Teil der Humanities, sie waren jedoch zum Scheitern prädestiniert. Die Entwicklung eigener Methoden und vor allem der mündlichen Befragung bedeutete lange nicht das Aufgeben der Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft.

JENS JÄGER (Köln) legte den Mehrwert sowie die methodischen Schwierigkeiten der historischen Bildanalyse dar. Anhand von ausgewählten Beispielen, nämlich im Kolonialkontext entstandene Fotos von Herero-Männern sowie von „Gente de color“ („Farbigen“) in Argentinien im frühen 20. Jahrhundert, untersuchte Jäger die Mechanismen und die spezifischen Funktionen visueller Kommunikation. Als Formen der Inszenierung bzw. der Selbstdarstellung sind diese Bilder nicht als schlichte Illustrationen der Vergangenheit zu betrachten. Vielmehr entfalten sie ihr Potential als visuelle Quellen, indem sie als integraler und aktiver Teil kultureller Formationen und als Erzeuger von spezifischen Geschichts- und Gesellschaftsbildern angesehen werden. Des Weiteren untersuchte Jäger die Eigenheit visueller Narrative, wobei diese im Zusammenspiel mit Text und Schrift entstehen.

Einer weiteren Quellengattung, nämlich der akustischen und der entsprechenden Herangehensweise widmete MELISSA VAN DRIE (Paris) ihren Vortrag. Sie setzte sich mit der Frage auseinander, wie akustisches Wissen vermittelt werden kann und veranschaulichte das am Beispiel der Lehre der Auskultation und der Verwendung des Stethoskops im 19. und 20. Jahrhundert. Auf beeindruckende Weise spielte van Drie die verschiedenen pädagogischen Ansätze vor, die von der vokalen Nachahmung, dem Einsatz von Zeichnungen und Vergleichen mit alltäglichen Geräuschen bis hin zur Aufnahme von Herzschlägen durch Tongeräte den Berufsanfängern diese besondere Form des impliziten Wissens beibringen mussten. Bei dieser Geschichte des Hörens richtete van Drie die Aufmerksamkeit u.a. auf die Frage, wie wissenschaftliche Gemeinschaften jeweils einen Konsens darüber bilden, wie non-verbale, sensorische Erfahrungen zu beschreiben seien.

In Sektion IV ging es um vergangene und gegenwärtige Begegnungen zwischen mündlich überlieferten Vergangenheiten einerseits und schriftdominierten Wissenschaften andererseits.

MONICA CARDILLO (Montpellier) untersuchte die Pläne französischer Juristen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mündlich überlieferten Rechtssysteme der kolonisierten Gesellschaften Französisch-Westafrikas zu studieren und in eine Sammlung von Kodizes, die „coutumiers juridiques“ zu überführen. In der Aushandlung zwischen lokalen Kolonialbeamten, die Fragebögen ausfüllten, und ihren einheimischen Informanten zeigten sich unterschiedliche Vorstellungen von Schriftlichkeit und Recht, aber auch gewisse Handlungsspielräume beider Seiten innerhalb eines scheinbar streng normierten Verfahrens. Die Analyse der Fragebögen von 1897 bis 1937–1938 zeigte zudem, dass sich das historisch-ethnologische Verständnis der autochthonen Kulturen veränderte.

JULES JOSEPH SINANG (Yaoundé) reflektierte die Möglichkeiten einer Geschichte subsaharischer Gesellschaften jenseits der kolonialen Schriftquellen. Er plädierte für die Aufwertung mündlicher Quellen, die nicht nur als Substitut mangelhafter Schriftzeugnisse anzusehen seien, sondern als adäquate Überlieferungsform einer anderen Vergangenheitsvorstellung, die die individuellen Lebensgeschichten eher als Verdichtung eines kollektiven Gedächtnisses verstehe. Dem Vergessen und der Selbstzensur – Gegner und Hindernisse jeder Oral History – könnten nur eine sorgfältige Kritik und die Einbeziehung weiterer mündlicher Quellen entgegenwirken, etwa Sprichwörter, Lieder, Ausrufe, Toponyme, Patronyme sowie Spottnamen.

Im Anschluss an diese Forschungsberichte zeichnete FLORENCE DESCAMPS (Paris) in einem knappen Vortrag Entwicklungen, Grenzen und Chancen der Oral History nach. Als Ergänzung zu einer „kämpferischen“ Oral History, die Geschichte „von unten“ und aus der Sicht der Akteure schreiben wolle, und einer Oral History als „Lückenbüßer“ für unzureichende Schriftquellen sah sie ein „epistemologisches Paradigma“, das Oral History in ihren eigenen Möglichkeiten und Beschränkungen ernstnehme – und zum Beispiel berücksichtige, dass mündliche Quellen meist eigens für die Untersuchung produziert werden und entsprechend die Fragestellung vorgeben.

Ein Beispiel aus der Praxis für die methodische Frage, wie audiovisuelle Quellen produziert werden, zeigten die Historikerin NINA POLLARD (Straßburg) und die Filmemacherin MAGALI ROUCAUT (Paris). Sie präsentierten ihren Film „Souvenirs du Louron“ (2014), der aus dem Projekt hervorging, mithilfe von gefilmten Interviews die Lebenswelten der Bewohner der Arbeitersiedlung im abgeschiedenen Pyrenäental Louron und ehemaligen Beschäftigten des dortigen Wasserkraftwerks (SHEM) zu erschließen. Die Interviews galten zunächst als Zeugnisse einer kaum existierenden Fabrikgeschichte und zweitens als Spuren einer aussterbenden Vergangenheit, die aufzubewahren sei. Audiovisuelle Quellen eignen sich dabei besonders, denn sie verzeichnen neben den Worten, Erzählungen und Dialektausdrücken auch die Mimik, Gestik und die zu dieser Welt gehörenden Gegenstände. Hier und in der anschließenden Diskussion wurde noch einmal deutlich, dass Oral History, indem sie Subjektivität vermittelt, die Geschichtswissenschaft zwar bereichern kann, aber keinen natürlicheren oder unverfälschten Zugang zu vergangenen Realitäten ermöglicht.

Der Beitrag PATRICK GEARYS (Princeton) war als öffentlicher Abendvortrag im Rahmen der Reihe „Les jeudis de l’Institut historique allemand“ gestaltet. Gegenstand war der Dialog zwischen Genetik und Geschichtswissenschaft. Besonders vielversprechend erscheinen die neuen Methoden für die Erforschung jener Ereignisse zwischen Spätantike und Frühmittelalter, die gemeinhin als „invasions barbares“ oder „Völkerwanderung“ bekannt sind und in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Paradigma der Ethnogenese neu bewertet wurden. Patrick Geary plädierte für einen methodisch reflektierten Einbezug genetischer Forschung. In seinem laufenden Projekt untersucht ein internationales Forschungsteam aus Genetikern, Archäologen und Historikern zwei Gräberfelder des 6. Jahrhunderts in Szólád (Ungarn) und Collegno (Italien). Gefragt wird unter anderem nach dem Verhältnis zwischen Individuen, die nach den archäologischen Zeugnissen als „Langobarden“ oder „Römer“ einzuordnen wären. Die Analyse von Zellkern-DNA mithilfe des next generation sequencing soll neue Ergebnisse bringen; mitochondriale DNA und Isotopenanalysen geben weitere Hinweise auf engere Verwandtschaftsbeziehungen und Herkunftsregionen der Individuen. „Fragen des 19. Jahrhunderts“ nach der ethnischen Identität der untersuchten Individuen oder gar nach der Herkunft moderner Populationen erteilte Geary hingegen eine deutliche Absage. In seinem Kommentar unterstützte JACQUES REVEL (Paris) die vorsichtige Beschränkung auf einen kleineren Maßstab und feinere Analysen. Als zentrale Herausforderung für Historiker/innen erschien es, neue Fragen zu formulieren, um den neuen Wein der Genforschung nicht in alte Schläuche zu gießen.

Der letzte Block war den Themen Krieg und Vertreibung gewidmet. Zunächst referierte ANNE MARLE KOLLE (Paris) über Einwanderungen und deren Einfluss im Dreiländereck um Thionville (heute Lothringen) nach dem Dreißigjährigen Krieg. Sie hob auf der einen Seite die stetig abwechselnde politische Herrschaft des Territoriums und auf der anderen dessen relativ homogene Kultur hervor. Um diese kulturelle Identität sowie die Einwanderungsspuren zu rekonstruieren, bediente sie sich einer methodologischen Vorgehensweise, die die Überprüfung von Familiennamen, den Vergleich der ländlichen und kirchlichen Architektur und Artefakte sowie eine Untersuchung der Dialekte umfasste.

NICOLE IMMIG (Jena) widmete sich in ihrem Vortrag der Zwangsvertreibung von griechischen und türkischen Menschengruppen im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge der Bildung sudosteuropäischer Nationalstaaten auf Basis ethnischer Identität. Sie ging der Frage der Rekonstruktion der „schriftlosen Vergangenheiten“ der vertriebenen Gruppen in doppelter Hinsicht nach: Zum einen problematisierte sie die damalige systematische Zerstörung der Schriftzeugnisse über die Vertreibungen, die die heutigen Historiker/innen zum Heranziehen anderweitiger – materieller und urbaner – Zeugnisse nötigt. Zum anderen berichtet sie über die damaligen Versuche der griechischen Neusiedler in Griechenland, ihre eigene (National)Geschichte und Identität anhand von Interviews, mündlichen Selbstzeugnissen und Artefakten zu (re)konstruieren.

Einen weiteren Aspekt zum Umgang mit schriftlosen Vergangenheiten lieferte JEAN CLAUDE FAVIN LÉVÊQUE (Paris), der in seinem Vortrag das Phänomen des Krieges im prähistorischen und ethnografischen Verständnis betrachtete. Er ging zunächst von der Feststellung aus, dass Krieg in der Erfassung prähistorischer Gesellschaften im Gegensatz zu derjenigen historischer Gesellschaften kaum präsent sei. Ob diese Abwesenheit eine methodologische Konsequenz der Asymmetrie zwischen schriftlichen und nicht-schriftlichen Quellen sei, war eine der zentralen Fragen. Daran anschließend ließ er historisch bedingte Vorstellungen prähistorischer Menschen Revue passieren. Mit der „Konfliktarchäologie“ stellte er zum Schluss eine neue Herangehensweise an „schriftlose Kriege“ vor und präsentierte erste Ergebnisse.

In der sechsten Sektion, eröffnet durch eine kurze Präsentation von Lisa Regazzoni, berichteten GIACOMO SFERLAZZO (Lampedusa) und ALIZÉE DAUCHY (Brüssel) über das politische Engagement des Kollektivs Askavusa und deren Museum der Migrationen (Porto M) in Lampedusa. Das Museum beherbergt verschiedene Objekte von Migranten (wie etwa Schuhe, Briefe, Töpfe, Fotos, heilige Schriften etc.), die die Mitglieder von Askausa auf den Mülldeponien zwischen den beschlagnahmten Schiffwracks der Migranten gefunden haben. Die Rettung dieser Objekte und ihre Ausstellung stellt eine Form des Erbarmens gegenüber den Zuwanderern sowie eine Form politischer Erinnerungspraxis dar, die sich jedoch verbittet, die Objekte eindeutig zu interpretieren. Ihr Status als Quellen ist paradox: Sie weisen einerseits auf das kollektive Schicksal hin, entziehen sich jedoch anderseits jeglicher Möglichkeit, individuelle Schicksale zu rekonstruieren und zur Sprache zu bringen. Der Beitrag zeigte damit die Dringlichkeit der epistemologischen Auseinandersetzung mit der Quellenfrage eindrucksvoll.

Anknüpfend diskutierte BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Paris/Gießen) in ihrem Abschlusskommentar nochmals die unterschiedlichen Ansatzpunkte der Vorträge. Sie hob des Weiteren die Frage des Umgangs mit den Spuren der Vergangenheit erneut hervor und wie heutzutage Geschichte zu schreiben sei. Insbesondere plädierte sie für eine nähere Betrachtung der Mechanismen der Produktion, Verbindung, Überlieferung und Übersetzung der Spuren.

Zum Schluss wurden die politischen Implikationen bei der Produktion und der Zusammenstellung von Quellencorpora sowie bei der Bildung des Archivs besonders hervorgehoben. Die Konfrontation der Historiker/innen mit schriftlosen Quellencorpora, an die neue Fragen gestellt werden können, erfordere verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit und öffne so den Blick für neue Erkenntnisse.

Konferenzübersicht:

LISA REGAZZONI (Goethe-Universität, Frankfurt a. M.): Observations préliminaires
ANTONELLA ROMANO (Centre Alexandre Koyré, Paris): Langues, écritures, écritures de l’histoire dans l’expérience missionnaire du XVIe siècle
IRIS GAREIS (Goethe-Universität, Frankfurt a. M.): À la jonction des histoires: La rencontre entre les traditions orales andines et l’historiographie européenne, XVIe-XVIIe siècle
DOMINIK FUGGER (Max Weber Kolleg, Erfurt): Klios Kampf um das Goldene Horn
ELISABETH TIMM (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Hysterische Dinge in Bewegung: aus der Wallfahrtskapelle ins Volkskundemuseum, ca. 1900
MARIANNE SOMMER (Universität Luzern): The American Museum of Natural History under Henry Fairfield Osborn: How Fossils, Images, and Stories Traveld Within Science and Beyond
HANS PETER HAHN (Goethe-Universität, Frankfurt a. M.): L’ethnologie comme science historique. Tentatives de rapprochement et leurs limites
JENS JÄGER (Universität zu Köln): Bilder – alternative historische Narrationen?
MELISSA VAN DRIE (CNRS/THALIM, Paris): Les sens dans l’apprentissage médical : mettre en scène les techniques corporelles de l’auscultation (1950–1990)
MONICA CARDILLO (Université de Montpellier 1): La tradition africaine au regard des juristes européens. Le pouvoir colonial français et l’œuvre de codification
JULES JOSEPH SINANG (Université de Yaoundé 1): Tradition orale et histoire de l’Afrique : à propos de l’oubli et de la censure
NINA POLLARD (Université de Strasbourg) et MAGALI ROUCAUT (réalisatrice de films, Paris): Le film »Souvenirs du Louron«: la valorisation d’un passé ouvrir sans traces écrites (Film à visionner lors de l’intervention); Introduction par FLORENCE DESCHAMPS (EPHE, Paris)
PATRICK GEARY (Institute for Advanced Study Princeton): La redécouverte de l’histoire des peoples sans histoire à travers la recherche génomique; Commentaire: JACQUES REVEL (EHESS, Paris)
ANNE MARLE KOLLE (EPHE, Paris): Influence de l’immigration dans le pays thionvillois après la guerre de Trente Ans?
NICOLE IMMIG (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Flüchtlinge, Vertriebene und unerwünschte Minderheiten: Zum Wiederauffinden schriftloser Vergangenheiten in Südosteuropa
JEAN CLAUDE FAVIN LÉVÊQUE (MNHN, Paris): Quelle place pour les guerres sans traces écrites?
Associazione Askavusa (GIACOMO SFERLAZZO, Lampedusa, et ALIZEE DAUCHY, Bruxelles): Traces migratoires, de la décharge au musée. Le Museo delle migrazioni de Lampedusa comme pratique politique mémorielle


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