Aus der Geschichte lernen? Migration und Flucht nach Niedersachsen

Aus der Geschichte lernen? Migration und Flucht nach Niedersachsen

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2015 -
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Als sich der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen entschloss, sich in einer wissenschaftlichen Tagung mit Migration und Flucht nach Niedersachsen zu beschäftigen, konnte er nicht ahnen, welch besondere Aktualität dieses Thema erhalten würde. Denn zeitgleich zur Arbeitskreissitzung im Historischen Museum Hannover fand der Bundesparteitag der AfD in der niedersächsischen Landeshauptstadt statt. Hannovers Erster Bürgermeister Thomas Herrmann zeigte sich in seinem Grußwort dementsprechend erfreut über das Bestreben, sich wissenschaftlich mit Entwicklungen zu beschäftigen, die Hannover in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatten, als 1950 jeder vierte Einwohner bzw. jede vierte Einwohnerin im zerstörten Hannover Flüchtling gewesen sei. Jetzt seien durch den aktuellen Flüchtlingsstrom neue Herausforderungen auf die Stadt zugekommen, denen sie mit einer Vielzahl von Maßnahmen begegne. Migration und Teilhabe spielten eine wichtige Rolle im Stadtentwicklungsdialog Hannover 2030.

JOCHEN OLTMER (Osnabrück) führte mit dem Vortrag „Migration und Flucht nach Niedersachsen – historisches Phänomen und aktuelle Herausforderung“ in den ersten Themenschwerpunkt „Das Phänomen und seine Wahrnehmung“ ein. Er betonte, bei der aktuellen Diskussion um Migration und Flucht handele es sich um eine Ad-hoc-Thematisierung. Die Debatte werde geschichtsblind und stark auf Deutschland konzentriert geführt. Die Frage, warum die Bundesrepublik und Niedersachsen 2015 zum Ziel globaler Flüchtlingsbewegungen geworden seien, führe zu sechs Punkten. So befänden sich viele Konfliktherde aktuell deutlich stärker in der Nähe Europas, als das bisher der Fall gewesen sei. Zweitens sei hervorzuheben, dass Migration nicht zwischen Räumen, sondern innerhalb von verwandtschaftlichen oder bekanntschaftlichen Netzwerken stattfinde. Weiter sei zu konstatieren, dass die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gerichtete Vorfeldsicherung der Europäischen Union im Zuge der Weltwirtschaftskrise genauso zusammengebrochen sei wie jene der Bundesrepublik, die auf die Anwendung des Dublin-Systems gesetzt habe. Als fünfter Gesichtspunkt sei zu erwähnen, dass die Bundesrepublik zum „Ersatzfluchtziel“ an Stelle von klassischen Aufnahmestaaten wie Großbritannien oder Frankreich geworden sei. Schließlich habe sich die Debatte in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der demographischen Entwicklung bezüglich der Akzeptanz von Migration geändert.

MICHELE BARRICELLI (Hannover) untersuchte das Verhältnis von „Geschichtsbewusstsein und politischer Bildung in der Migrationsgesellschaft“. Er stellte fest, dass in einer Migrationsgesellschaft Geschichte anders erzählt werde als in stabilen Gesellschaften. In einer von Diversität geprägten Welt steuere die Befassung mit Geschichte die bekannten opportunistischen Gedächtnisse und münde in den master narratives. Es gebe eine quantitative Vervielfachung der kursierenden Geschichte und eine qualitative Veränderung. Die Blickerweiterungen in der Migrationsgesellschaft führten zu einer Verschachtelung von Multiperspektivität. Die Geschichten würden in die Individualstruktur des Einzelnen eingebaut und mit Sinn aufgeladen. Die Geschichtsdidaktik stelle sich der Vielfalt. Die didaktischen Zugänge bestünden zunächst einmal in der positiven Thematisierung der Geschichte von Mobilität und Migration – die Migration als Normalfall. In einer Migrationsgesellschaft gelte, was in allen Gemeinschaften gelte, in verstärktem Maße: Man wolle sich unterscheiden und man wolle auch dazugehören. Beständig werde durch Bildung und in Bildungssituationen Erzählstoff kulturell angeliefert, narrativ verwoben und in die Gegenwart eingeführt. So wie es immer schon Aufgabe der Geschichte gewesen sei zu mahnen, nicht an der Welt von gestern zu hängen, müsse sie auch zeigen, auf wie viele Abschiede man sich in einer Migrationsgesellschaft vorbereiten müsse.

Nach der theoretischen Einleitung setzte sich der Arbeitskreis dann mit „Historischen Fallbeispielen“ auseinander. DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hannover) beschäftigte sich mit „Polnischen Arbeitsmigranten in Misburg 1870–1930: Integrationsleistungen und verpasste Chancen“. Schmiechen-Ackermann untersuchte, welche Akteure und welche Institutionen die Zuwanderer bei der Entwicklung einer tragfähigen Lebensperspektive unterstützten, in welchem Verhältnis dabei Assimilationsdruck und Integrationsangebote zueinander standen sowie welche Akteure und Maßnahmen faktisch eine erfolgreiche Integration behinderten. Der Staat habe vor allem den normativen Rahmen des Geschehens definiert. Angesichts der Schwierigkeiten, für die harte Arbeit in der Zementindustrie deutsche Arbeitskräfte zu gewinnen, sei auf Zuwanderer ausgewichen worden. Aber es seien auch restriktive Haltungen z. B. bei Einbürgerungsfragen praktiziert worden. Die kommunalen Akteure seien weniger ideologisch und restriktiv vorgegangen. Sie hätten sich als differenzierungsfähiger als die nach abstrakten Prämissen handelnden staatlichen Akteure erwiesen. Dabei seien im Hinblick auf die eigenen ökonomischen Interessen vorhandene Handlungsspielräume genutzt worden. Im Betrieb seien die Kollegen, die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie von Bedeutung gewesen. Es habe ein sehr widerspruchsreiches Spannungsfeld von Nähe und Distanz bestanden. Gewerkschaften und Sozialdemokratie seien kein Bestandteil der dörflichen Lebenswelt gewesen, aus der die meisten der Zuwanderer gekommen seien. Eine Schlüsselstellung im Hinblick auf die Integration der Migranten sei der katholischen Kirche zugekommen. Sie habe einen intensiven, aber auch schmerzhaften Lernprozess durchlaufen. Erst allmählich habe sie zu einem Ausgleich beitragen können, der der Haltung der polnischen Zuwanderer entsprochen hätte: Auch wenn sie ein gewisses Maß an kultureller Selbstbehauptung und die Pflege von Traditionen gewährleistet wissen wollten, hätten sie sich durchaus kompromiss- und anpassungsfähig gezeigt. Dies hätte sowohl für das kirchliche Leben als auch für die Interessenvertretung im Betrieb und die Politik gegolten.

CARL-HANS HAUPTMEYER (Hannover) stellte „Bemerkungen zur Integration der heimatvertriebenen Schlesier in Niedersachsen“ an. Bis Anfang der 1950er-Jahre seien circa 3,3 Millionen Deutsche aus Schlesien vertrieben worden, von denen über 700.000 Menschen längerfristig bleibend in das Land Niedersachsen gekommen seien. Von den Personen, die in die britische Besatzungszone gekommen seien, hätten allein 600.000 das Flüchtlingslager Mariental bei Helmstedt passiert. 1950 sei in Bad Godesberg die Landsmannschaft Schlesien als bundesdeutscher Dachverband gegründet worden. Noch im gleichen Jahr habe das Land Niedersachsen die bis heute fortbestehende Patenschaft übernommen. Bei einem Festakt zum 60-jährigen Bestehen der Patenschaft habe der Ministerpräsident wiederholt, was üblicherweise über die erfolgreiche Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen erzählt werde, nämlich dass der ökonomische Aufschwung in Niedersachsen nicht ohne das Anpacken dieser Gruppe möglich gewesen wäre. Hauptmeier schloss seine Bemerkungen mit dem Hinweis, dass gerade das Flüchtlingslager Mariental eine Chance für die weitere Forschung biete, da die Listen der Transporte vollständig im Standort Wolfenbüttel des Niedersächsischen Landesarchivs vorhanden seien.

ANDREA GENEST (Berlin) befasste sich in ihrem Vortrag mit den „Integrationserwartungen und -erfahrungen mit DDR-Zuwanderung in den 1950er- und 1960er-Jahren“. In den Jahren von 1950 bis 1961 hätten drei Millionen Menschen aus der DDR den westdeutschen Staat erreicht. Die Erwartung habe im Raum gestanden, dass jeder eingebunden werden könne – wenn er nur wolle. Dies habe ein Paradoxon hervorgebracht: Eine Zuzugsberechtigung hätten eigentlich nur jene gehabt, die bei der Befragung im Flüchtlingslager eine politische Verfolgung nachweisen konnten. Den Wunsch, im Westen zu leben, habe man nicht gelten lassen. Doch mit der Einweisung in eines der Bundesländer sei dann das Interesse an den Erfahrungen in der DDR geschwunden und nur noch die Eingliederungsbereitschaft habe gezählt. Den Zugewanderten sei gleichwohl auch mit Misstrauen und Aversion begegnet worden. Sie hätten in der Gefahr gestanden, gesellschaftliche Stereotypen zu wecken, die aus einer Mischung von fremdenfeindlichen Abwehrreaktionen und zeitgenössischem Antikommunismus erwachsen seien. Auf die von ihr in den Jahren 2000-2012 geführten lebensgeschichtlichen Interviews eingehend zeigte Genest, dass die Wahrnehmungsmuster in der Ankunftsgesellschaft durchaus Einfluss auf die Art und Weise hatten, wie ehemalige Zuwanderer ihr Leben erzählten und ihre Entscheidungen begründeten. In den Interviews werde vor allem die eigene Person als handelnder Akteur in den Mittelpunkt gestellt. Interessanterweise erzähle niemand von sich als Teil eines Massenereignisses. In den Erzählungen blieben die Interviewten singulär als Einzelperson.

MERCEDES MARTINEZ CALERO (Hannover) stellte Ergebnisse ihrer Untersuchung über „Spanische Arbeitsmigraten/-innen in Deutschland (1960/1973) und die Bildungserfolge ihrer Nachkommen“ vor. Betont wurde von Martinez Calero, dass das Netzwerk, das die Spanier in Deutschland aufgebaut hätten, viele Erklärungen für den Bildungserfolg liefere. Die Eltern hätten sehr viel in die Bildung der Kinder investiert, damit es ihnen in Deutschland besser gehe. Dabei sei festzuhalten, dass das deutsche Bildungssystem durch National- und Vorbereitungsklassen lange Zeit diskriminierend gewirkt habe. Auch die Gewerkschaften hätten eine Haltung zwischen Integration und Regulation eingenommen. Sie hätten sich zwar mit den vom Franco-Regime Verfolgten solidarisch gezeigt, eine ansonsten waltende Zurückhaltung aber erst aufgegeben, als ihre Mitgliederzahlen rückläufig geworden seien. Da es neben der großen Gruppe bildungsferner Arbeitsmigranten der ersten Stunde auch eine Gruppe von ins Exil gegangenen Intellektuellen gegeben habe, hätten sich diese für Bildung und die Gründung von Bildungs- und Elternvereinen eingesetzt. In den Elternvereinen seien viele Multiplikatoren ausgebildet worden, die Aufklärung und Information fortgetragen hätten. Daneben hätten sich sozio-kulturelle Vereine für gleiche Rechte und Gleichbehandlung eingesetzt. Diese Strategien hätten Einfluss auf die Bildungspolitik genommen und zu jenem Bildungserfolg geführt, der in der von ihr gemeinsam mit Sigurður A. Rohloff eingereichten Dissertation empirisch nachgewiesen werde.

Das abschließende Panel „Vermittlungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Handlungsfeldern: Schule und Museum“ wurde von STEPHAN SCHOLZ (Oldenburg) eröffnet. Er setzte sich mit „Fotografischen Repräsentationen und Konstruktionen von ‚Flucht und Vertreibung‘ im Schulbuch“ auseinander. Er konstatierte, dass im Zusammenwirken mit anderen Bildmedien die untersuchten Schulbücher vorhandene Geschichtsbilder durch Wiederholung gleicher oder ähnlicher visueller Eindrücke verstärkten, ohne die Schülerinnen und Schüler in den Stand zu versetzen, Fotografien von Flucht und Vertreibung auch kritisch als historische Quellen zu bearbeiten. Stattdessen finde eine visuelle Verengung des komplexen historischen Prozesses der deutschen Zwangsmigration auf die Fluchtphase vor Kriegsende statt, die für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für das Lehrpersonal aufgrund fehlender Bildinformationen gar nicht erkennbar sei. Es werde ihnen daher auch nicht ermöglicht, das Problem des Entstehungszusammenhangs dieser Fotografien zu erkennen und nachfolgend zu reflektieren. Die gewählten sachkontextuellen Platzierungen, Bildensembles und Arbeitsaufträge verfestigten ein deutsches Opfernarrativ, das Flucht und Vertreibung aus dem Kriegsgeschehen herauslöse und zu einem Element deutschen Nachkriegsleids werden lasse, dem Schülerinnen und Schüler mit Empathie begegnen sollen. Fluchterfahrung erscheine somit als eine spezifisch deutsche Nachkriegserfahrung. Bis auf ein einziges Schulbuch aus dem Jahr 2005, in dem das Thema im Sachkontext von Wanderungsbewegungen in der globalisierten Welt behandelt werde, würden visuelle Bezüge zu anderen historischen und aktuellen Migrationsbewegungen bislang überhaupt gar nicht hergestellt.

THOMAS SCHWARK (Hannover) ging auf „Migration als Narrativ im Geschichtsmuseum“ ein. Der 2009 gegründete Arbeitskreis Migration im Deutschen Museumsbund habe in einem Memorandum festgehalten: Migration gehöre zur Geschichte der Menschheit. Sie finde nicht nur aktuell in der globalisierten Welt der Gegenwart statt, sondern kennzeichne alle Epochen. Die Entstehung der Nationalstaaten und Territorien sowie konfessionelle Konflikte hätten seit dem Beginn der Neuzeit die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem, von Grenzen und Grenzüberschreitungen befördert. Für die industriellen und postindustriellen Gesellschaften der globalisierten Welt sei jedoch auch ein hohes Maß von Mobilität konstitutives Element. Migration habe damit einen neuen Stellenwert erhalten. Sie sei der Normalfall in der Geschichte. Dementsprechend müsse es langfristiges Ziel der Museumsarbeit sein, Migration und kulturelle Vielfalt in der Dauerausstellung zu berücksichtigen und Einzelaspekte multiperspektivisch in Sonderausstellungen aufzugreifen. Die Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund sei dabei wichtig. Partizipative Ansätze seien zur Erarbeitung migrationsgeschichtlicher Themen nicht nur hilfreich, sondern in hohem Maße erforderlich, um Wissenslücken zu schließen. Das Thema Migration sollte dabei von einer zu engen Anbindung an die Arbeitsmigration der letzten Jahrzehnte gelöst und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

Die Tagung zeigte, dass sich das, was Gottfried Korff 2005 auf die Museen bezogen feststellte, auf die Geschichtswissenschaft übertragen lässt. Nämlich auch sie hat das Potenzial, „die Gesellschaft als Gesellschaft im Wandel, in Bewegung, in ständiger Transformation zu explizieren, als Gesellschaft, die durch Kulturen im Plural und so durch dauernde Fremdheitserfahrung, durch dauernde Kontakt- und Kontrasterfahrung gekennzeichnet ist.“ Vor einem solchen Hintergrund kann die Frage, ob und was aus der Geschichte gelernt werden könne, in einer multiperspektivischen Betrachtungsweise viele Ansatzpunkte, deren weitere Vertiefung nicht nur wünschenswert, sondern notwendig ist, eröffnen.

Konferenzübersicht:

I. Das Phänomen und seine Wahrnehmung

Jochen Oltmer (Osnabrück): Migration und Flucht nach Niedersachsen – historisches Phänomen und aktuelle Herausforderung

Michele Barricelli (Hannover): Geschichtsbewusstsein und politische Bildung in der Migrationsgesellschaft

II. Historische Fallbeispiele

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover): Polnische Arbeitsmigranten in Misburg 1870-1930. Integrationsleistungen und verpasste Chancen

Carl-Hans Hauptmeyer (Hannover): Bemerkungen zur Integration der heimatvertriebenen Schlesier in Niedersachsen

Andrea Genest (Berlin): Integrationserwartungen und -erfahrungen mit DDR-Zuwanderung in den 1950er- und 1960er-Jahren

Mercedes Martinez Calero (Hannover): Spanische Arbeitsmigranten/-innen in Deutschland (1960/1973) und die Bildungserfolge ihrer Nachkommen

III. Vermittlungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Handlungsfeldern

Stephan Scholz (Oldenburg): Fotografische Repräsentationen und Konstruktionen von „Flucht und Vertreibung“ im Schulbuch

Thomas Schwark (Hannover): Migration als Narrativ im Geschichtsmuseum


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