Entgrenzung, Pluralisierung und Identitätsbestimmung. Herausforderungen der Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften

Entgrenzung, Pluralisierung und Identitätsbestimmung. Herausforderungen der Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Rüdiger Graf, Christopher Neumaier, Jenny Pleinen, Kim Christian Priemel
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.02.2016 - 27.02.2016
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Von
David Kuchenbuch, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Giessen

Manchmal ist man auch als Historiker überrascht von der Geschwindigkeit, mit der die Zeit vergeht. Liegt die Veröffentlichung von Anselm Doering-Manteuffels und Lutz Raphaels Studie „Nach dem Boom“ wirklich schon fast zehn Jahre zurück? Und ist tatsächlich ein halbes Jahrzehnt vergangen, seit auf dem Berliner Historikertag 2010 – angeregt unter anderem von diesem Buch – die Schwierigkeiten zum Thema gemacht wurden, die für die zeithistorische Forschung mit Blick auf die Beweiskraft, aber auch die Originalität ihrer Beobachtungen entstehen, wenn sie in die „Welt der Sozialwissenschaften“ eintaucht? Bekanntlich haben „westliche“ Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine große Zahl sozialwissenschaftlicher Selbstbeschreibungen hervorgebracht. Diese liefern willkommene Indikatoren beschleunigter Wandlungsprozesse. Historisch – und historisierungsbedürftig – sind allerdings auch die sozialwissenschaftlichen Datenerhebungstechniken und -anlässe dieser Zeit, was quellenkritische Zurückhaltung ihnen gegenüber erforderlich macht. Sonst besteht die Gefahr, nicht nur die damaligen Kategorien, Trendbehauptungen und Theorien ohne Erkenntnisgewinn zu reproduzieren, sondern auch normative Vorannahmen, die in die jeweiligen Datensätze eingelassenen sind. Überdies können sozialwissenschaftliche Deutungsangebote politische Entwicklungen mit ausgelöst haben. Auch deshalb schieben sie sich wie ein semantischer Schleier gerade vor die unabgeschlossenen Prozesse, die Zeithistorikerinnen zu erklären suchen, die sie aber als Zeitgenossen oft vor demselben Weltdeutungshorizont betrachten wie ihre Quellen.

Es ist erfreulich, dass die Organisatoren des Potsdamer Workshops „Entgrenzung, Pluralisierung und Identitätsbestimmung. Herausforderungen der Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften“ nicht einfach zur Fortsetzung der Diskussion über die Schwere dieser Herausforderungen eingeladen haben, die vor allem in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ geführt worden ist.1 Vielmehr wurde die Debatte (teils) erweitert zu einer Verständigung über state of the art und Zukunftsaussichten der Zeit- oder „Gegenwartsgeschichte“, was sogar geschichtsphilosophische Beiträge anregte. Der explorativen Anlage entsprach eine – im positiven Sinne – sprunghafte Diskussion, weshalb vom Workshop auch nicht konsequent in der Reihenfolge der Vorträge berichtet werden soll.

Wie KIM CHRISTIAN PRIEMEL (Berlin) in seinem Einleitungsvortrag verdeutlichte, sieht sich die Zeitgeschichte mit mehrerlei Entgrenzungsprozessen konfrontiert, die Fragen nach ihrer Identität aufwerfen: Erstens sind die Zeiträume, für die sie zuständig ist, nicht gerade geschrumpft. Das verändert die normative Blickrichtung des Forschens; mit wachsendem Abstand zum „Dritten Reich“ beginnt das Interesse an den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Bedeutung des „Zeitalters der Extreme“ zu überlagern. Der Rezivilisierungsabsicht der älteren NS-Forschung steht vermehrt der Versuch gegenüber, eine kritische Vorgeschichte der Problemkonstellationen der Gegenwart zu schreiben, was zur Annäherung an die Sozialwissenschaften führt. Zur zeitlichen Entgrenzung kommt die räumliche. Die Forderungen nach einer transnationalen und globalen Reperspektivierung macht auch vor der Zeitgeschichte nicht Halt. Sie umzusetzen wird nicht erleichtert durch einen zweiten Entgrenzungsprozess: den Zuwachs der Überlieferung zur zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, der sich verbindet mit dem Zwang, mit Quellen neuen, etwa audiovisuellen Typs umzugehen, was wiederum auf eine kultur-, eine bild- und medienwissenschaftliche Erweiterung des Werkzeugkastens drängt. Damit ist drittens die Deutungskonkurrenz mit den Nachbarfächern angesprochen, die teils selbst historische turns vollzogen haben. In deren Gefilde führt aber auch eine Tendenz der Geschichtswissenschaften zum „Präsentismus“ hinein. Der, so Priemel, kann blind machen für Prozesse längerer Dauer – und, so könnte man ergänzen, er birgt die Gefahr, die Geschichte als Argumentationsressource für eigene Gegenwartsdiagnosen zu gebrauchen.

STEFANIE MIDDENDORF (Halle) und HABBO KNOCH (Köln) vertieften Priemels Beobachtungen zum ehemaligen Kernareal der (west)deutschen Zeitgeschichte: Deren Funktion als Präventionswissenschaft, so Knoch, verliere mit Abstand zum Nationalsozialismus als Erlebnishorizont an Bedeutung. Das resultiere aber weder im „Verblassen des Menetekels“ des Holocaust, noch verringere es das forschende Interesse am Nationalsozialismus, wie neue Themen wie „Volksgemeinschaft“ und die vergleichende Gewaltforschung zeigten. Es gelte, die „Kernerfahrung“ des Holocaust auch auf die Erforschung anderer Zeiträume zu beziehen. Auch Middendorf sprach sich angesichts des Auseinandertretens der erinnerungskulturellen Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus und des Interesses an einer kritischen Genealogie der Gegenwart für ein stärkere Einbeziehung der 1930er- und 1940er-Jahre in die Debatte etwa über die Ursprünge des Gegenwartskapitalismus aus, was sie am Beispiel der Finanzmarkregulationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts exemplifizierte. Dem Risiko der Universalisierung des Nationalsozialismus im Rahmen von Problemgeschichten moderner Gesellschaften stehe die Chance gegenüber, „Neuheitsbehauptungen“ vorzubeugen und Deutungsroutinen zu durchbrechen.

Middendorf schlug damit auch einen Weg vor, der fehlenden Fremdheitserfahrung der Zeitgeschichte gegenüber der jüngeren Vergangenheit zu begegnen. Die hatte Priemel einleitend problematisiert, auch weil sie dazu verleite, zeitgeschichtliche Binnenzäsuren einseitig von der Entwicklung des „Westens“ oder der Bundesrepublik her zu denken. Damit war wohl auch jenes Konzept gemeint, dessen Reproduktion in einigen Gesamtdarstellungen der letzten Jahre die erwähnte Debatte mit ausgelöst hatte: der „Wertewandel“. CHRISTOPHER NEUMAIERs (Potsdam) Vortrag zu „soziologischen Perspektiven auf die Familie in Zeiten des Wertewandels“ führte vor, welches Potential im close reading hochaggregierten Datenmaterials liegt. Eheschließungsstatistiken etwa ließen keineswegs allein auf die Verbreitung der sogenannten Selbstverwirklichungswerte schließen, wie manche Sozialforscher es (gegen Widerspruch aus der eigenen Disziplin) suggerierten; andere – ökonomische, demografische – Faktoren waren ausgeblendet worden. Neumaier verdeutlichte zudem, wie problematische Auffassungen von ehelicher „Partnerschaft“ in die Feststellung des Verfalls familiärer Bindungskräfte eingegangen waren. Der Meinungswandel zugunsten der Gleichberechtigung der Geschlechter korrelierte überdies keineswegs mit der sozialen Praxis in der Ehe. BERNHARD DIETZ (Mainz) legte den Fokus auf die außerwissenschaftliche Karriere des Wertewandelstheorems. Dessen Adaption in Unternehmensführungen und Wirtschaftspresse in den 1980er-Jahren brachte er mit einem generationellen Wechsel in den Chefetagen in Verbindung, aber auch mit Umstellungen in Produktion und Produktdesign. Wenn Manager sich auf Selbsterfüllungswerte beriefen, dann allerdings kaum in „postmaterialistischer“ und auch in weniger kulturpessimistischer Perspektive als die sozialwissenschaftliche Wertewandelsforschung. Der Begriff verlieh heterogenen soziökonomischen Veränderungen Richtung und Sinn. Zugleich öffnete er insbesondere personalpolitische Spielräume in Unternehmen, sicherte diese gegenüber Kritik ab und verstärkte somit Trends in Richtung eines „Neuen Geists des Kapitalismus“.

Die Anregungen des Historikertags 2010 sind manchmal auf die Frage zugespitzt worden: Steht Zeithistorikern in der Welt der Sozialwissenschaften nur der Weg einer kontextualisierenden Wissenschaftsgeschichte offen – also ein Ansatz, der Daten und Deutungen einer rechtschaffenen Quellenkritik unterzieht, sich aber letztlich auf die Beschreibung ihrer Genese bescheidet? Oder lassen diese sich doch als Spuren des Wandels von Sozialstrukturen oder Einstellungen betrachten? Letztlich neigten die „Wertewandel“-Beiträge, wie der Workshop insgesamt, vorsichtig zur letzteren Position. Allerdings waren Tendenzen erkennbar, etwa in der Diskussion über WINFRIED SÜß’ (Potsdam) Vortrag zu Ungleichheitsdiagnosen im Wandel, bzw. zur ihren Realitätseffekten. Süß warf Befürwortern eines Rückzugs auf die Diskursebene vor, sie kapitulierten vor der Schwierigkeit, sozialhistorischen Realprozessen auf die Spur zu kommen. Wenn er selbst ein Programm zur Untersuchung sozialer Ungleichheiten mit den Daten und Begriffen der Sozialwissenschaftler ausbreitete, setzte er sich bewusst dem Einwand aus, das historisch-normative Sinnfeld des Ungleichheitsbegriffs nicht völlig einhegen zu können – selbst mithilfe multipolarer Kategorien, die Ungleichheit jenseits von Schichtungsmodellen fassen, „Lebenslage“ oder „Intersektionalität“ etwa.

Einigkeit bestand vor allem dahingehend, dass gute Historiker auszeichnet, gute von schlechter Sozialwissenschaft unterscheiden zu können. Aber wie geht man über die Präzisierungsforderungen der Sozialwissenschaften selbst hinaus? Einen Weg demonstrierte JANOSCH STEUWER (Bochum) mit seiner Analyse der Meinungsforschung zur Zwangsarbeiterentschädigung in den frühen 2000er-Jahren. Steuwer zeigte, dass die damaligen Umfragen vom Gebrauch der öffentlichen Meinung durch die Auftraggeber zeugen. Er argumentierte, dass „mathematisierte Meinungen“ kaum als Grundlage belastbarer Aussagen zu historischen Gerechtigkeitsvorstellungen taugen: Hinter gleichen Antworten verbergen sich unterschiedliche Einstellungen. So sprach sich Steuwer dafür aus, Ego-Dokumente wie Bürgerbriefe einzubeziehen, die zwar keinerlei Repräsentativität auszeichne, die aber Sinnstiftungsfacetten, etwa zum „Dritten Reich“, sichtbar machten.

Es kann also sinnvoll sein, sozialwissenschaftliche Daten als Indizien ganz anderer Prozesse heranzuziehen, als von ihren Produzenten intendiert. Das ist natürlich die Überlegung, die Sekundäranalysen solcher Daten zugrunde liegt, wie sie KERSTIN BRÜCKWEH (Tübingen/Duisburg-Essen, jetzt: Potsdam) vorstellte, und zwar anhand eines interdisziplinären Projekts zur Aufbereitung von arbeitssoziologischem Material des „Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts Göttingen“ (SOFI) mit eHumanities-Werkzeugen, das durch ein Lehrforschungsprojekt flankiert wurde. Brückweh, die die Gewinne solcher Kooperationen für alle Beteiligten betonte, verschwieg nicht die Grenzen, an die man stoßen kann, wenn man gemeinsam mit Sozialwissenschaftlern (und Informatikern!) in deren Archiven stöbert. Diesen Eindruck teilte sie mit anderen Diskutanten, die als Historikerinnen an sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten arbeiten oder gearbeitet haben. So argumentierten ARIANE LEENDERTZ und NINA VERHEYEN (beide Köln) in ihrem gemeinsamen Vortrag zum Verhältnis von Zeitgeschichte und (gegenwärtiger) Soziologie, dass von einer Deutungskonkurrenz nicht die Rede sein könne, weil Soziologen sich heute kaum mit der Geschichte – auch der eigenen Fachgeschichte – beschäftigten. Die Bereitschaft zum Gespräch schwinde zudem proportional zur Mathematisierung und Modellbildung in einem Fach, das sich stärker als die Geschichtswissenschaft in Methodenlager aufteile, die um die verfügbaren Ressourcen kämpften. Umso zentraler sei es, sich mit Deutungskonkurrenzen innerhalb der Soziologie auseinanderzusetzen.

Daran knüpfte sich die Frage, in der Welt welcher Sozialwissenschaften sich die Zeitgeschichte überhaupt bewegt. Angeregt von FRANK BÖSCHs (Potsdam) Überblick über die Fragen, die ein mediengeschichtlicher Ansatz mit Blick auf die genannten Herausforderungen aufwirft, wurde daher diskutiert, inwiefern man bei der Nutzung sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse die Mechanismen historischer Aufmerksamkeitsökonomien reproduziert. Das rückt Journalisten in den Blick und auch die Tatsache, dass Massenmedien vor allem die klaren Zahlen von Demoskopie und empirischer Sozialforschung nachfragen. Es zwingt überdies zu fragen, wer Studien bezahlte, welche Rolle beispielsweise außerwissenschaftliche Motive dabei spielten, wenn Befragungen zu Sexualpraktiken durchgeführt wurden. Nicht zu vergessen, so eine Anregung aus dem Publikum, sei auch der Einfluss der Wissenschaftsverlage. Für die 1970er- und 1980er-Jahre – die, wie Bösch verdeutlichte, unter mediengeschichtlichem Gesichtspunkt kaum als Krisenphase erscheinen – kommt noch hinzu, dass gerade das Fernsehen eine eigene wissenschaftliche Begleitforschung auf den Plan rief. Die Befunde der Kommunikationswissenschaften bei der „Vermessung der Medienlandschaft“ müssten sorgfältig historisiert werden, so Bösch. Das gelte auch hinsichtlich des Einflusses, den sie auf die Konsumforschung und damit auf sozialwissenschaftliche Messkategorien hatten.

Ähnliche Wechselwirkungen ließen sich wohl auch mit Blick auf die „Psy“-Wissenschaften feststellen, deren gesellschaftsdiagnostische und lebensweltliche Bedeutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas unterbelichtet blieb. Umso willkommener war BENOÎT MAJERUS’ (Luxemburg) Überblick über die Psychiatriegeschichte, die er am Beispiel der Forschung zur „Aktion T4“, zur pharmakologischen Bedeutung des Medikaments 4560RP und zu antipsychiatrischen double-bind-Theorien beleuchtete. Majerus unterschied zwischen sozialgeschichtlichen, epistemologischen und subjektivierungstheoretischen Narrativen, die kaum verlustfrei zusammengebracht werden könnten. Ähnliche Gesprächsbarrieren thematisierte TIM B. MÜLLER (Hamburg) mit Blick auf innerhistorische methodologische Differenzen, wenn er ausführte, dass die Vereindeutigungslogik der modellbildenden Wirtschaftsgeschichte einer nicht-normativen Demokratiegeschichte im Wege stehe. Dem fügte PIETER LAGROU (Brüssel) die Aufforderung hinzu, die Geschichte der Demokratie, die sich bislang um eine Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen den Prinzipien von Volkssouveränität und individuellen Rechten gedrückt habe, in langer Perspektive neu zu denken.

Gerade die beiden letztgenannten Vorträge vereinte die Reflexion über die Historizität der eigenen heuristischen Kategorien. Diese thematisierte auch MARTINA STEBER (München), wenn sie ausgehend von einer Analyse der Wandlungen des Konservatismus- und des Neoliberalismusbegriffs forderte, die zeitgenössischen Sinnhorizonte solcher Begriffe genau zu rekonstruieren. Ein ähnliches Argument machte RÜDIGER GRAF (Potsdam), der die narrativen Strategien herausarbeitete, die die Autoren von zeithistorischen Gesamtdarstellungen der vergangenen Jahre gewählt haben, um mit dem „offenen Ende“ der Zeitgeschichte umzugehen – etwa Zäsursetzung, Teleologiewarnung und Trendprognose. Graf nahm dies zum Ausgangspunkt, um eine Abfolge kultureller Zukunftsgenerierungen seit dem 19. Jahrhundert zu umreißen: von der Erwartungs- über die Gestaltungs- und Bewahrungs- hin zur Risikozukunft der Gegenwart. Er warf damit die Frage auf, ob nicht das Leben im Bewusstsein vieler möglicher Zukünfte auch die Darstellungsmodi der Zeitgeschichte verändern sollte.

Die Debatte über den gesellschaftlichen Wandel nach 1970 hat offenkundig ihre Funktion erfüllt, die Reflexion über die eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu vertiefen. Zugleich hat sie Fallstudien stimuliert, die zeigen, dass wir die Sinnstiftungshorizonte der jüngeren Vergangenheit bei entsprechender Quellenlage (das heißt bei Zugang zu den Archiven der Sozialwissenschaften) sowohl verstehen als auch erklären können, sie also keineswegs duplizieren müssen. Es ist angesichts der alten Beobachtung, dass das dekadologische Denken von Archivsperrfristen bestimmt ist, nicht bemerkenswert, dass mittlerweile die 1990er-Jahre zum Thema werden.2 Zu hoffen ist, dass dabei die Anregung nicht aus dem Blick gerät, die FRANK REICHHERZER (Potsdam) in seinem Vortrag zum Zeithorizont der Zeitgeschichte auf den Punkt brachte: Nämlich, diese als Problemgeschichte anzugehen, ihre „Erstreckungszeiten“ vom Forschungsgegenstand her zu denken und offen dafür zu bleiben, dass vergangen geglaubte Vergangenheit sich wieder „vergegenwärtigen“ kann.

Von einer Krise der Zeitgeschichte, so der Tenor des Workshops, kann angesichts ihrer innerfachlichen Legitimität und Außenwirkung (Stichworte: Studierendenzahlen, Auftragsforschung) eigentlich nicht die Rede sein. Auch mit Blick auf ihr „Proprium“ gegenüber den „systematischeren Wissenschaften“ bestand Einigkeit, die Zeitgeschichte punkte gerade mit ihrer Expertise für Differenz und Kontingenz und mit ihren hermeneutischen Kompetenzen, worauf auch eine vergleichsweise stabile Fachidentität gründe. Diese Selbstvergewisserung hatte allerdings etwas Geschichtsvergessenes. Bekanntlich haben Sozialhistoriker einmal weit heftiger mit der empirischen Sozialforschung geflirtet, ja, sich eher als Kontinent der „Welt der Sozialwissenschaften“ verstanden denn als Entdeckungsreisende in deren Territorien. Die „Herausforderung“ kam für sie gerade aus der Kulturgeschichte und deren vermeintlichem Relativismus. Wurde hier vielleicht doch ein gewisses Fremdeln deutlich, aber eben gegenüber der eigenen Fachgeschichte in just dem Zeitraum, der in Potsdam im Zentrum stand? Und ist dieses Fremdeln der Grund dafür, dass – mit Ausnahme des Vortrags von Brückweh – kaum auf die Anregung Lutz Raphaels und Jenny Pleinens (deren Vortrag, genauso wie die Präsentationen Christiane Reineckes und Claudia Gatzkas, leider entfallen musste) eingegangen wurde, selbst wieder verstärkt Sozialstatistiken zu produzieren?3

Kein Kernthema des Workshops waren die Schwierigkeiten, die aus der räumlichen Entgrenzung der Zeitgeschichte erwachsen. Es ging überwiegend um die Klassiker: Die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien. Dankenswerterweise zeigte FLORIAN GREINERs (Augsburg) Bilanz der historischen Europaforschung, dass die Affirmation des Gegenwärtigen im Licht der Vergangenheit keineswegs ausgestorben ist: Der Europäisierungsprozess wird oft aus einer teleologischen Perspektive gesehen, die, so Greiner, einer stärkeren Einbeziehung der Erfahrungsdimension der „Europäisierten“ bedarf. JÖRG NEUHEISER (Tübingen) wiederum ergründete, warum der Wertewandel, dessen Erforschung international koordiniert worden war, in der Bundesrepublik auf fruchtbareren Boden fiel als in Frankreich. Er erklärte dies mit den Spezifika des deutschen Umfragemarktes und damit, dass sich mit dem Wertewandel in Deutschland besser Politik machen ließ, auch, weil an die ältere Trope der „Deutschen Arbeit“ angeknüpft werden konnte.

Nun scheint es durchaus möglich, dass sich die oft geforderte geografische Erweiterung bald dank digitaler Techniken wie data mining und distant reading wird realisieren lassen, mit denen sich ANDREAS FICKERS (Luxemburg) auseinandersetzte. Er plädierte für ein hybrides „Thinkering“ mit den Methoden der digital humanities, wies jedoch auch auf die Schwierigkeiten hin, die beispielsweise aus den intransparenten Heuristiken von Suchmaschinen resultieren und aus der „vorgelagerten Quellenkritik“ der digitalen Überlieferung in Form von Metadaten. Die eigentliche Herausforderung einer Zeitgeschichtsforschung, die sich über ihr idiographisches Erkenntnisinteresse definiert, scheint überhaupt von der von Fickers kritisierten „Geisteswissenschaft 3.0“ auszugehen. Deren Exponenten versuchen, rechnergestützt universelle kulturelle Muster herauszupräparieren. Sie riskieren dabei, ahistorisch Pfadabhängigkeiten von sehr langer Dauer zu hypostasieren. Ähnliches gilt – wie Verheyen und Leendertz beobachteten – für die naturwissenschaftliche „Big“ oder „Genetic History“. Es sind nicht zuletzt die Visualisierungen der entsprechenden Ergebnisse, denen gegenüber gerade eine Geschichtswissenschaft, die in der Historisierung vermeintlich neutraler Daten geschult ist, künftig Differenzierungsforderungen und Verzerrungsvorbehalte wird artikulieren müssen, ohne sich einem Dialog zu entziehen.

Konferenzübersicht:

Rüdiger Graf (Potsdam), Kim Christian Priemel (Berlin): Begrüßung und Einführung

Sektion 1 : Entgrenzung der Vergangenheit: Verlust und Persistenz des NS-Bezuges
Moderation/Diskussion: Dietmar Süß (Augsburg)

Habbo Knoch (Köln): Unendliche Zeitgeschichte? Der Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert

Stefanie Middendorf (Halle): Problemgeschichte der Gegenwart? Der Ort des Nationalsozialismus in der Zeitgeschichte

Sektion 2: Räumliche Entgrenzung: Der Ort der Bundesrepublik
Moderation/Diskussion: Heike Wieters (Berlin)

Florian Greiner (Augsburg): Die Pluralisierung eines imaginierten Raumes - Tendenzen, Perspektiven und Herausforderungen der zeithistorischen Europa-Forschung

Jörg Neuheiser (Tübingen): Wertewandel, Arbeit und Zeitgeschichte. Wie national darf eine transnationale Geschichtsschreibung sein?

Sektion 3: Zeitgeschichte und sozialwissenschaftliche Ungleichheitsforschung
Moderation/Diskussion: Annelie Ramsbrock (Potsdam)

Winfried Süß (Potsdam): Entdeckungserzählungen und Verschattungsnarrative. Soziale Ungleichheit zwischen Soziologie und (Zeit-)Geschichte

Sektion 4: Zeitgeschichte und Sozialwissenschaften: Kategorien und Praktiken
Moderation/Diskussion: André Steiner (Potsdam)

Ariane Leendertz und Nina Verheyen (Köln): Die Sozialwissenschaften in der Welt der Historie: Thesen zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Soziologie

Kerstin Brückweh (Tübingen/Duisburg-Essen): Junge Erwachsene und die „Krise” des Arbeitsmarktes seit den 1970ern. Zur produktiven Verbindung von Geschichts- und Sozialwissenschaften

Sektion 5: Zeitgeschichte und sozialwissenschaftliche Umfrageforschung
Moderation/Diskussion: Alexander Gallus (Chemnitz)

Christopher Neumaier (Potsdam): Soziologische Perspektiven auf die Familie im Zeitalter des Wertewandels

Bernhard Dietz (Mainz): Herausforderungen der Zeitgeschichte in der Welt der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung

Janosch Steuwer (Bochum): „Durch den Druck der Öffentlichkeit“? Der zeithistorische Umgang mit Meinungsumfragen am Beispiel der Zwangsarbeiterentschädigung

Sektion 6: Zeitgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte
Moderation/Diskussion: Kim Christian Priemel

Tim B. Müller (Hamburg): Demokratie, Wirtschaftsgeschichte und Zeitgeschichte

Benoît Majerus (Luxemburg): T4, 4560RP und double bind. Psychiatrische Begriffe und zeitgeschichtliche Analyse im 20. Jahrhundert

Sektion 7: Zeitgeschichtliche Quellen, Sprachen und Narrative
Moderation/Diskussion: Christoph Neumaier

Pieter Lagrou (Brüssel): The Black Years of the White Continent? Ways out of the liturgy of the superiority of the present over the past

Martina Steber (München): Im Netz der Sprache. Begriffsbildung in der Zeitgeschichte

Andreas Fickers (Luxemburg), Zwischen „close“ und „distant reading“: Zur Hybridität zeithistorischer Forschungspraxis im digitalen Zeitalter

Sekton 8: Zeitgeschichte, Medien- und Kommunikation
Moderation/Diskussion Rüdiger Graf

Frank Bösch (Potsdam): Zeitgeschichtsschreibung im Zeitalter der Massenmedien

Sektion 9: Entgrenzung von Gegenwart und Zukunft
Moderation/Diskussion: Martin Sabrow (Potsdam)

Frank Reichherzer (Potsdam): Die Grenzen der Gegenwart. Überlegungen zur Zeitperspektive der Zeitgeschichte

Rüdiger Graf: Die Unkenntnis der Zukunft und der Zukunftsbezug der Zeitgeschichte

Anmerkungen:
1 Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und Empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum Ende einer Romanze, in: Pascal Maeder / Barbara Lüthi / Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Mooser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 131–149; Bernhard Dietz / Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: VfZ 60 (2012), S. 293–304; Jenny Pleinen / Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 62 (2014), S. 173–194.
2 Siehe nur den Bericht von Roman Wild und Magaly Tornay zur Züricher Tagung „The Good Years – Historical Trajectories 1980-2010”: <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6127> (23.04.2016).
3 Pleinen / Raphael, Zeithistoriker, S. 191.


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