Wandel und Integration. Die Pariser Verträge 1954 im Prozeß der deutsch-französischen Annäherung der Nachkriegszeit

Wandel und Integration. Die Pariser Verträge 1954 im Prozeß der deutsch-französischen Annäherung der Nachkriegszeit

Organisatoren
Forschergruppe „Identités, Relations Internationales et Civilisations de l’Europe“ (UMR 8138 IRICE: Paris IV, Paris I, CNRS) von Hélène Miard-Delacroix (Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines, Lyon) und Rainer Hudemann (Universität des Saarlandes)
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
07.10.2004 - 09.10.2004
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Von
Johannes Großmann; Sonja Kümmel; Niels May; Miriam Schriefers

Die auf Anregung der Forschergruppe „Identités, Relations Internationales et Civilisations de l’Europe“ (UMR 8138 IRICE: Paris IV, Paris I, CNRS) von Hélène Miard-Delacroix (Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines, Lyon) und Rainer Hudemann (Universität des Saarlandes) mit vielfältiger Unterstützung organisierte Tagung im Deutschen Historischen Institut, der Maison Heinrich Heine und der Sorbonne nahm den fünfzigsten Jahrestag der Pariser Verträge von 1954 zum Anlass, eine völkerrechtlich entscheidende Etappe für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu den Schutzmächten und vor allem zu Frankreich in den Kontext sozioökonomischer und soziokultureller europäischer Wandlungsprozesse der Zeit zu stellen: Transformationen in beiden Ländern selbst, in der beginnenden westeuropäischen Integration und in den Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen. Ziel des Kolloquiums war es, den Begriff „rapprochement“ in seinen zahlreichen Bedeutungen (Annäherung, Konvergenz, Angleichung) zu erfassen und zu hinterfragen und zugleich dem deutsch-französischen Bereich einen breiteren Raum zu geben in einer auflebenden Forschungslandschaft, in der manche Fragestellungen – wie die Modernisierung oder die Frage des amerikanischen Einflusses – bisher oft eher in einem bilateralen, auf jeweils andere Partner bezogenen Sinn erforscht werden.

In der Einführung zog Georges-Henri Soutou (Paris IV) eine analytische Bilanz der Pariser Verträge und betonte deren Bedeutung für das darauf folgende halbe Jahrhundert. Der Wandel betraf nicht nur die Beziehungen zwischen Deutschland und der westlichen Welt, indem die Bundesrepublik zum gleichwertigen Partner im westlichen Integrationsprozess avancierte. Er bezog sich auch auf die Verteilung der jeweiligen Rechte und Pflichten in der Handhabung der deutschen Frage sowie auf Inhalt und Qualität der bilateralen deutsch-französischen Beziehungen, welche nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die europäische Entwicklung von ihrer supranationalen Ausrichtung hin zur zwischenstaatlichen Kooperation lenkten.

Die erste Sektion „Die Verträge als Spiegelbild europäischer Wandlungsprozesse“, geleitet von Werner Paravicini und Alfred Grosser, beleuchtete die Pariser Verträge unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Faktoren des Wandels auf der politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Ebene.
Während Geneviève Maelstaf (Paris IV) aufzeigte, wie die Beibehaltung des Viermächtestatuts in der Frage einer deutschen Wiedervereinigung der doppelten Herausforderung einer Einbindung Westdeutschlands in die westliche Interessengemeinschaft bei gleichzeitiger Wahrung der Beziehungen zur UdSSR angemessen Rechnung getragen habe, versuchte Ulrich Lappenküper (Universität Bonn), die jeweiligen Prioritäten, Sachzwänge und Überlegungen als Ursprung und Fundament einer konstruktiven Annäherung der beiden Staaten deutlich zu machen. Béatrice Heuser (MGFA Potsdam) untersuchte das Vertrauensverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf die militärische Kooperation und stellte fest, dass trotz aller symbolträchtigen Versöhnung in anderen Bereichen die Motorfunktion der beiden Länder für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik nicht gelte.

Ausgehend von der großen Diskrepanz in den französischen und bundesdeutschen Wirtschaftsdaten in den fünfziger Jahren beschrieb Bernard Poloni (Paris IV) vergleichend die Grundzüge des Wiederaufbauprozesses in beiden Ländern und wies auf die strukturellen, aber auch konzeptionellen Unterschiede hin, indem er die liberale Orientierung der deutschen Ordnungspolitik der zum staatlichen Dirigismus tendierenden französischen gegenüberstellte. In Bezug auf eine gemeinsame Europa-Politik hingegen verdeutlichte Sylvie Guillaume (Université de Bordeaux), dass es zwischen den beiden Ländern Konvergenzen institutioneller, ideologischer und soziologischer Art gegeben habe, und unterstrich vor allem die Bedeutung des Generationsfaktors. So sei die deutsch-französische Annäherung nach 1945 nicht zuletzt durch die gemeinsamen Erfahrungen zweier Weltkriege und anschließend durch die geteilte antikommunistische Einstellung ermöglicht worden.

Armin Heinen (RWTH Aachen) beschrieb in seinem methodisch originellen und bahnbrechenden Vortrag zur Saarfrage den Evolutionsprozess der verschiedenen Konzepte und Diskurse bis zur Lösung des Konfliktes. Die 1955 in demokratischer Abstimmung erfolgte Ablehnung des Europastatuts habe die gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse widergespiegelt, die sich seit 1945 in Frankreich, der Bundesrepublik und an der Saar vollzogen und gleichzeitig den Weg zur friedlichen Integration Europas auf nationalstaatlicher Basis geebnet hätten.

Wenngleich die Entkolonialisierung sowohl den französischen Staat finanziell als auch das Klima der fünfziger Jahre atmosphärisch belastete und somit den Kontext der deutsch-französischen Annäherung mitprägte, hatte dieser Faktor laut Jean-Paul Cahn (Paris IV) nur geringen Einfluss auf die Beziehungen zwischen Bonn und Paris. Zwar habe die Bundesrepublik in der Algerienfrage eine Gelegenheit gesehen, sich gegenüber der DDR international zu profilieren. Jedoch hätten weder die weitreichenden Aktivitäten der Nationalen Befreiungsfront (FNL) in der Bundesrepublik, noch die harschen französischen Reaktionen bis hin zu mehrmaligen Verletzungen der westdeutschen Souveränität die deutsch-französischen Beziehungen nachhaltig beeinträchtigen können.

Die zweite Sektion, geleitet von Hélène Miard-Delacroix und Horst Möller (IFZ München), wandte sich der bilateralen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich im multilateralen Kontext zu.
In seinem Beitrag über den ökonomischen Strukturwandel im europäischen und transatlantischen Zusammenhang illustrierte Christoph Buchheim (Universität Mannheim) die strukturelle Angleichung Deutschlands und Frankreichs in den fünfziger und sechziger Jahren. Bei diesem Weg hin zu einer transatlantischen Konvergenz hätten sich die Methoden der französischen „planification“ weit weniger vom deutschen Modell einer Sozialen Marktwirtschaft unterschieden als bisher angenommen. So habe auch in der Bundesrepublik die öffentliche Hand oft regulierend eingegriffen, während staatliche Intervention in Frankreich hingegen nicht selten als Mittel zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Liberalisierungen gedient habe.

Ein bisher unzureichend untersuchtes Forschungsfeld erschloss André Steiner (ZZF Potsdam): Er legte ein Konzept zur Erforschung konkreter Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Weichenstellungen vor, wobei die dynamischen Effekte des Integrationsprozesses durch Wettbewerbssteigerung und die Notwendigkeit höherer Effizienz im Vordergrund standen. Das Fallbeispiel der Automobilbranche könne dabei als Hinweis gelten, dass der Beitrag der europäischen Integration zur wirtschaftlichen Entwicklung zwar höher gewesen sei als bisher vermutet, jedoch weitaus niedriger als von vielen Politikern der damaligen Zeit beschworen. Christoph Buchheim wies in der anschließenden Diskussion darauf hin, dass sich die Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses mit globalen Integrationstendenzen überschnitten hätten, was das Aufstellen einer klaren Bilanz erschwere.

Auf die Frage nach den Faktoren, die den Annäherungsprozess der zwei Gesellschaften förderten, gab Hartmut Kaelble (HU Berlin) eine ausbalancierte Antwort. Er verwies in seinem Beitrag zur Geschichte des Massenkonsums zunächst auf die globale Dimension der Entwicklung, welche in den USA bereits in den dreißiger und vierziger Jahren eingeleitet worden sei und nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Europa Einzug gehalten habe. Dort habe sich die Standardisierung der Konsumartikel jedoch in Grenzen gehalten, da die Europäer dem Massenkonsum stets skeptisch gegenüber gestanden hätten, wobei diese Vorbehalte in Deutschland weniger antiamerikanisch motiviert gewesen seien als in Frankreich. Trotz dieser geringen deutsch-französischen Unterschiede sei die allgemeine Entwicklung in beiden Ländern aber ähnlich gewesen, so dass man von einer Angleichung durch Massenkonsum sprechen könne.

Anschließend trug Horst Möller den militärgeschichtlichen Beitrag von Klaus-Jürgen Müller (Hamburg) vor. Dieser unterzog das Verhältnis von Militär und Gesellschaft einem deutsch-französischen Vergleich und unterstrich dabei eher die Traditionsbrüche als die Kontinuitäten. Er zeigte auf, wie die Gründung der Bundeswehr 1956 unter dem Primat der Politik in Westdeutschland zu einer historisch einmaligen Integration der Streitkräfte in die Zivilgesellschaft geführt habe, während in Frankreich mit dem Algerienkrieg erstmals die traditionelle Einheit von Nation und Armee zu zerfallen gedroht habe.

Alfred Wahl (Metz) stellte fest, dass die sportlichen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg rascher wieder aufgenommen worden seien als nach dem Ersten, wobei es in Frankreich dennoch grundsätzliche Differenzen zwischen der offiziellen Politik und der öffentlichen Meinung gegeben habe, die sich in der ablehnenden Haltung der französischen Sportverbände gegenüber Deutschland widergespiegelt hätten. Mit Gründung der Bundesrepublik und dem Fortschreiten des Kalten Krieges sei diese gegensätzliche Haltung jedoch schrittweise aufgehoben worden.

Frédéric Hartweg (Université de Strasbourg) würdigte schließlich den Beitrag französischer Christen zur „Differenzierung“ des Deutschlandbildes sowie deren Einsatz für deutsche Flüchtlinge und Kriegsgefangene und die deutsche Bevölkerung während der Besatzungszeit. Diese weitgehend privaten Initiativen protestantischer Kreise hätten die offizielle kirchliche Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich begünstigt und die spätere politische Annäherung vorweggenommen. In diesem Beitrag kam die Bedeutung von kleinen, aber aktiven privaten Initiativen für den Annäherungsprozess zur Sprache, wodurch der Übergang zur dritten Sektion der Tagung eingeleitet wurde.

In der dritten Sektion, geleitet von Roland Höhne (Universität Kassel) und Jérôme Vaillant (Université Lille), wurden mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen die Phänomene „Austausch, Eigenbild und Fremdwahrnehmung als Annäherungsfaktoren“ untersucht.
Hans-Jürgen Lüsebrink (Universität Saarbrücken) stellte die These auf, dass die Wahrnehmung des Nachbarn von der Bedürfnislage abhänge und demnach Konfliktsituationen stets Misstrauen in Bezug auf die eigene nationale Souveränität hervorriefen, was zu einer Reaktivierung verdrängter Perzeptionsweisen führe; so geschehen später bei der deutschen Wiedervereinigung, als Frankreich das Wiederaufleben deutscher Allmachtsansprüche fürchtete. In der Diskussion fragten Béatrice Heuser, ob nicht auch ein spielerisch-ästhetischer Umgang mit Stereotypen möglich sei, und Armin Heinen, ob die polemische Frage nach einem deutschen Blitzkrieg nicht auch als kritischer Appell an das französische Deutschlandbild zu werten sei. Beide Fragen wurden vom Vortragenden bejaht.

Corine Defrance (CNRS Paris I/IRICE Paris IV) erklärte mit Nachdruck, dass der Pariser Vertrag von 1954 über eine kulturelle Annährung der beiden Länder anschließend in der Politik bald in Vergessenheit geriet. Frankreich habe lediglich über die traditionelle Verbreitung von französischer Sprache und Landeskunde der Bundesrepublik demokratische Werte vermitteln wollen, während ein deutscher Kultureinfluss in Frankreich bis zur Gründung der Goethe-Institute praktisch nicht existiert habe und auf politischer Ebene wegen der Kulturhoheit der Länder auch in der Folge kaum hätte vorangetrieben werden können. So sei es vor allem privaten Initiativen (Organisation von deutsch-französischen Jugendtreffen, Aktionen im Rahmen von Städtepartnerschaften, Gründungen von Forschungsinstituten etc.) zu verdanken, dass ab Mitte der fünfziger Jahre eine im weitesten Sinne kulturelle Annäherung nicht nur zwischen den Staaten, sondern vor allem zwischen deren Bürgern stattgefunden habe.

Hingegen hielt Emmanuelle Picard (INRP Paris) die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Initiativen für weniger aussagekräftig, als die Analyse es auf den ersten Blick vermuten lasse, da auch die vorgeblich privaten Akteure wie Alfred Grosser durchaus in Beziehungen zur höchsten politischen Ebene gestanden und somit effiziente Transmissionsriemen gefunden und selbst gebildet hätten. Statt dessen schlug sie die Unterscheidung in traditionelle und populäre Kulturvermittlung vor und hob den Erfolg volksnaher Aktionen unkonventionellerer Kreise gegenüber den von der französischen Bildungselite getragenen klassischen Vermittlungsmethoden hervor.

Christophe Charle (Paris I) untersuchte in seinem Vortrag die Rolle der Intellektuellen und Schriftsteller im Annäherungsprozess zwischen Frankreich und Deutschland während der fünfziger Jahre, und zwar mithilfe eines morphologischen Vergleichs und auf der Suche nach Transferbewegungen und Vernetzungstendenzen. Er stellte dabei fest, dass es zwar noch keine europäische Intellektuellenkultur gegeben habe, wohl aber in beiden Ländern kleine Gruppierungen mit eher elitärem Charakter, deren Ziel eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit und deren Verdienst die Erfindung neuer Kommunikationsformen gewesen seien.

Aus einer mediengeschichtlichen Perspektive wurde das Thema von Andreas Fickers (University of Utrecht) beleuchtet. In beiden Ländern hätten Rundfunk und Fernsehen nach dem Krieg dazu beigetragen, die durch den Zusammenbruch des politischen Systems beziehungsweise den „Vichy-Komplex“ in Frage gestellte jeweilige nationale Identität neu zu definieren und zu verankern. Als „Zeuge und Akteur“ habe zunächst das Radio als Informationsquelle und meinungsbildendes Instrument gedient, bevor das Fernsehen mit jeweils einem einzigen öffentlich-rechtlichen Sender zum „unmittelbarsten Mittel“ der Regierung für die Herstellung des Kontaktes mit der Bevölkerung geworden sei. In diesem Konvergenzprozess stellte er aber einen grundlegenden Unterschied fest: Während der französische Zentralstaat die so ermöglichte landesweite „Verschmelzung von privatem und öffentlichen Raum“ gezielt zur staatlich zensierten und vereinheitlichten politischen Instruktion der Bürger genutzt habe, sei die föderal organisierte ARD in Deutschland auf unpolitische Inhalte ausgerichtet gewesen und habe durch die in großen Familienserien vermittelten gesellschaftlichen Werte zur Herausbildung einer neuen, bundesdeutschen Identität beigetragen.

Thomas Raithel (IFZ München) kontrastierte in seinem Vortrag das parlamentarische System der frühen Bundesrepublik mit der Vierten Französischen Republik. Anhand einer dreigliedrigen Analyse – es wurden die regierungstragende, die legislative und die Alternativfunktion beleuchtet – mit Rückschau auf die Zwischenkriegszeit wurde deutlich, dass Frankreich mit ähnlichen strukturellen Problemen zu kämpfen hatte wie die Weimarer Republik. Vor allem das Fehlen einer demokratischen Opposition und der 1958 eingeführte Semipräsidentialismus eröffnen vielfältige Vergleichsmöglichkeiten.

Schließlich behandelte Sylvain Schirmann (IEP Strasbourg) die Rolle und Stellung der französischen Gewerkschaften zur Europäischen Integration 1949-1954. Dabei verdeutlichte er die unterschiedlichen Positionen der Gewerkschaften, deren reformistische bzw. revolutionäre Orientierung sich als entscheidend erwies, sowie ihre größtenteils ambivalente Haltung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess. Insbesondere der Kalte Krieg habe in der Gewerkschaftslandschaft eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung des deutschen Nachbarn und Partners im Einigungsprozess gespielt.

Im letzten und wohl ergiebigsten Sinne der Angleichung wurde der Begriff „rapprochement“ in der vierten Sektion unter Leitung von Jean-Pierre Rioux (CNRS Paris) und Robert Frank (Paris I) hinterfragt. Der Titel „Wege nach Westen“ wies auf die Einbettung dieses bilateralen Vorganges in einen breiteren, das ganze westliche Lager einschließenden Prozess hin.
Jean-François Sirinelli (Sciences-Po Paris) eröffnete mit einem Vortrag über die „Jugend als Protestkultur und als Baustein der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und Frankreich“. Die Akzentsetzung auf diese besondere Altersgruppe des Babybooms lasse sich durch die zahlreichen gesellschaftlichen Kontraste rechtfertigen, welche in den Vorstellungen, den neuen Stereotypen und der Massenkultur die Generationskomponente als die entscheidende herausragen ließen. Mit der ersten „Nicht-Kriegsgeneration“ habe eine völlig neue Phase in der Geschichte der europäischen Länder begonnen.

Michel Hubert (Paris III) untersuchte die demographische Situation von 1954 bis heute und stellte die Gründe und Ursachen für den Geburtenrückgang und den gesellschaftlichen Alterungsprozess dar, der in Deutschland und Frankreich in unterschiedlichem Ausmaß festzustellen sei. Dieser Vortrag untermauerte mit quantitativen Daten die qualitative Schilderung der gemeinsamen Tendenzen des Jahrzehnts, wie sie Jean-François Sirinelli angeboten hatte.
Thomas Lindenberger (ZZF Potsdam) fragte nach den Einflüssen des Kalten Krieges auf die Filmproduktion Deutschlands und Frankreichs und damit nach der Prägung der Populärkultur durch den ideologischen und polarisierenden Kontext des Ost-West-Konflikts. Die so entstandenen Koproduktionen basierten auf kritisch-realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Der Kalte Krieg selbst trat sowohl in Frankreich als auch in Deutschland jedoch in Filmen nur selten als Sujet auf. Eine Thematisierung erfolgte allenfalls in Komödien in Form eines „unideologischen Hinweglachens“.
In den Abschlussreferaten brachten Andreas Wirsching (Universität Augsburg) und Dietmar Hüser (Universität Kassel) die Debatte um die „Verwestlichung“ der beiden Länder vergleichend auf den Punkt.

Wirsching stellte den Zusammenhang zwischen Massenkultur und Demokratie her und wandte diesen Vergleich auf die deutsche und französische Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre an. In beiden Ländern sei vor dem Hintergrund der demokratisch legitimierten politischen Stabilität soziale Ungleichheit mit massenkultureller Nivellierung einhergegangen. Voraussetzung für Massenkultur (Freizeit, Medien und Konsum) sei stetiges ökonomisches Wachstum, das für ein dialektisches Gleichgewicht zwischen individueller Konstruktion und uniformierender Massenkultur sorge. Letztere festige einerseits die politische Stabilität, wirke aber gleichzeitig „entpolitisierend“. In der Bundesrepublik, die sich dadurch von der DDR abzugrenzen suchte, etablierte sich die amerikanisch geprägte Massenkultur eher als in Frankreich, welches sich ab den sechziger Jahren jedoch trotz vehementer Kritik und politischen Anti-Amerikanismus’ gegen den Einzug der amerikanischen Konsumkultur nicht mehr wehren konnte.

Dietmar Hüser formulierte auf anschauliche Art und Weise die Grenzen und Möglichkeiten der Begriffskonzepte „Amerikanisierung“ und „Westernisierung“. Während der Begriff der „Amerikanisierung“ in den letzten Jahren immer mehr in die Kritik geraten sei und dem Begriff der „Westernisierung“ für den anhaltenden Ideentransfer der Vorzug gegeben werde, sei letztgenannte Konzeption jedoch nicht für Frankreich anwendbar, welches sich selbst als integraler Bestandteil des Westens sehe, sich aber dennoch deutlich gegenüber Amerika abgrenze. Anhand der Populärkultur in Frankreich zeigte Hüser, dass die „Eindringtiefe“ amerikanischen „Kulturgutes“ dort wesentlich geringer sei und Frankreich statt dessen viel stärker auf Aneignungsprozesse setze, wie beispielsweise in der Comic- und Rock ’n Roll-Kultur.

Hélène Miard-Delacroix und Rainer Hudemann betonten in einem Versuch der Bilanz die vielfältigen Zugangsweisen der einzelnen Teilnehmer, die sich insgesamt an die Vergleichsmethodik gehalten hätten: somit leisteten sie einen interessanten Beitrag zu dem Versuch einer Analyse von Ausmaß und Grenzen der „Westernisierung“, welche sich auf eine Modernisierung der Strukturen und der Gesellschaften in ihrer Gesamtheit gründete. Als gemeinsames Ergebnis nannten sie die beschleunigende Wirkung des Kalten Krieges im deutsch-französischen Annäherungsprozess, aber auch eine differenzierte Einschätzung von den Bereichen, in denen sich die Angleichung mit unterschiedlichem Rhythmus vollzog. Schließlich sei die Bedeutung des Willens kleiner Entscheidungsträger oder Gruppen hervorgehoben worden, wobei zugleich langfristige, zunächst weniger sichtbare Tendenzen den Wandel beider Gesellschaften hin zu Konvergenz und Angleichung begleitet hätten.

Anmerkungen:
Die ausgearbeiteten Ergebnisse der Tagung werden 2005 im R. Oldenbourg Verlag München publiziert werden. Kontakt: Prof. Dr. Rainer Hudemann, Historisches Institut, Universität des Saarlandes, Postfach 15 11 50, D-66041 Saarbrücken.

Dem wissenschaftlichen Beirat der Tagung gehörten außer den beiden Organisatoren an: Jean-Paul Cahn (Paris IV), Robert Frank (Paris I), Armin Heinen (Aachen), Georges-Henri Soutou (Paris IV).
Für die Ermöglichung des Kolloquiums und der Publikation danken die Organisatoren und der Beirat den folgenden Institutionen: UMR 8138 IRICE (CNRS), Université Franco-Allemande UFA / Deutsch-Französische Hochschule DFH, Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG, Université de Paris IV – Sorbonne (Conseil scientifique, Centre de recherche sur les mondes germanique, néerlandais et scandinave, Ecole doctorale IV „Civilisations, Cultures, Littératures et Sociétés“, UFR d’Etudes germaniques), CIERA – Centre Interdisciplinaire d’Etudes et de Recherches sur l’Allemagne Paris / Lyon, Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaft des Saarlandes, Deutsches Historisches Institut, Maison Heinrich Heine, Universität des Saarlandes, Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines Lyon.


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