Autoritarismus und Demokratie in Westeuropa. Die Bundesrepublik Deutschland und Spanien 1945-1986

Autoritarismus und Demokratie in Westeuropa. Die Bundesrepublik Deutschland und Spanien 1945-1986

Organisatoren
Till Kössler, Universität Bochum; Carlos Sanz, Universidad Complutense de Madrid
Ort
Madrid
Land
Spain
Vom - Bis
10.09.2015 - 11.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
José-Carlos Aránguez, Universität Complutense Madrid; José-Manuel Morales, Universität Complutense Madrid

Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise ist die populäre Deutung der Geschichte Europas und der Europäischen Union nach 1945 als einer Geschichte zunehmender demokratischer Konvergenz in Frage gestellt worden. Demgegenüber hat die Vorstellung neues Gewicht erlangt, dass unterschiedliche sozioökonomische Voraussetzungen und politisch-kulturelle Traditionen einer Angleichung der Länder Nord- und Südeuropas deutliche Grenzen setzen und deshalb von getrennten nord- und südeuropäischen Entwicklungspfaden ausgegangen werden muss. Die internationale Tagung „Autoritarismus und Demokratie in Westeuropa. Die Bundesrepublik Deutschland und Spaniens 1945-1986“, die am 10. und 11. September 2015 in Madrid stattfand, setzte hier an. Sie brachte deutsche und spanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um die Entwicklung der Bundesrepublik und Spanien nach 1945 aus der Perspektive einer europäischen Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte zu diskutieren.

In diesem Sinne formulierte TILL KÖSSLER (Bochum) zu Beginn drei Leitfragen: Ist Europäisierung historisch immer nur als Demokratisierung und Liberalisierung denkbar? Welche Bedeutung kommt der Unterscheidung von „Nord-“ und „Südeuropa“ in der europäischen Nachkriegsgeschichte zu? Und schließlich: Lassen sich Prozesse der Annäherung und ähnliche Strategien im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen zwischen der Bundesrepublik und Spaniens trotz der unterschiedlichen politischen Ordnungen feststellen oder schlugen beide Gesellschaften nach 1945 getrennte Pfade ein? CARLOS SANZ (Madrid) betonte im Anschluss die Notwendigkeit, diese Fragen in einem Dialog von Wissenschaftlern der verschiedenen europäischen Länder zu beantworten und erinnerte zugleich an die Entwicklung der deutsch-spanischen Historiographie seit der Franco-Zeit. LUIS-ENRIQUE OTERO (Madrid) skizzierte im Anschluss Konjunkturen des wechselseitigen Interesses zwischen den akademischen Kulturen Deutschlands und Spaniens seit der Epoche der Romantik.

Der erste Block der Tagung beschäftigte sich in vergleichender Perspektive mit dem Erbe von Nationalsozialismus und Faschismus nach Ende des Zweiten Weltkriegs. TONI MORANT I ARIÑO (Valencia) beschrieb anhand des Frauenverbandes der Falange, wie überzeugte Falangisten das Kriegsende und besonders die Hinrichtung von Mussolini am 28. April 1945 als Krise und voller Panik erlebten, da sie einen Sturz des Franco-Regimes durch die Alliierten erwarteten. In den Folgejahren traten faschistische Symbole und Ideen in der Außendarstellung des Verbandes zwar zurück, doch verharrte ein Großteil der Mitgliedschaft in einer inneren Distanz gegenüber den nationalkatholischen Leitlinien der Diktatur und pflegte eine eigene faschistische Erinnerungskultur. Diese fand ihren Ausdruck in der Gründung der Hermandad de la División Azul (Bruderschaft der Blauen Division), die das Gedenken an die spanischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs wach halten wollte, die auf nationalsozialistischer Seite gegen die Sowjetunion gekämpft hatten. Das deutsche Pendant dieser Organisation war der Veteranenverband der Legion Condor, deren Wirken von STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Berlin) darstellte. Wie ihr spanischen Gegenstück erlangte auch diese Ehemaligenorganisation keine größere politische Bedeutung und stellte sowohl für Adenauer als auch für Franco ein Ärgernis dar, da sie das Bemühen um internationale Anerkennung der beiden Staaten konterkarierte. Jenseits der offiziellen Politik spielten die während des Bürgerkriegs aufgebauten persönlichen Beziehungen ehemaliger Nationalsozialisten nach Spanien jedoch eine Rolle im Wiederaufbau der Kontakte zwischen den Ländern nach 1945.

Auch auf die deutsch-spanischen Kulturbeziehungen wirkte sich der neue Gegensatz von parlamentarischer Demokratie und Autoritarismus zunächst wenig aus. MARICIÓ JANUÉ I MIRET und ALBERT PRESAS I PUIG (beide Barcelona) zeigten, dass im Bereich von Kultur und Wissenschaft eine hohe Kontinuität der handelnden Personen die Bedeutung der Zäsur von 1945 und der anschließenden Neugründung von Wissenschaftsorganisationen deutlich relativierte. Etablierte persönliche Kontakte erlangten angesichts der Unterbrechung offizieller politischer Beziehungen und der politischen Isolierung Franco-Spaniens sogar ein besonderes Gewicht. Beide Staaten nutzten die Felder von Wissenschaft und Kultur zur politischen Annäherung und zur Integration in eine weitere westeuropäisch-atlantische Welt. Wie ARNO GIMBER (Madrid) demonstrierte, waren auch die literarischen Kontakte zwischen Deutschland und Spanien nach 1945 zunächst durch das Ausklammern politischer Fragen gekennzeichnet. Der einflussreiche deutsche Übersetzer der Werke Federico García Lorcas, Enrique Beck, stellte beispielsweise die folkloristischen, unpolitischen Seiten des andalusischen Schriftstellers heraus auf Kosten seiner politischen Interventionen. Erst neue Übersetzungen seit den 1960er-Jahre brachen mit dieser Tradition. Nun trugen auch Übersetzungen deutschsprachiger Autoren wie vor allem Hermann Hesse und Bertolt Brecht, die oft über Umwege Spanien erreichten, zu einer allmählichen Öffnung des literarischen Lebens auf der iberischen Halbinsel bei.

Ein dritter Vortragsblock behandelte Facetten des widersprüchlichen politischen Umgangs mit Franco-Spanien. JASPER TRAUTSCH (Regensburg) wies anhand von Karten und zeitgenössischen Äußerungen nach, dass maßgebliche westliche Politiker Spanien während des Kalten Krieges trotz seiner diktatorischen Verfassung als Teil einer gemeinsamen „westlichen“ Wertegemeinschaft imaginierten und ihre Politik entsprechend ausrichteten. JOHANNES GROßMANN (Tübingen) zeichnete nach, wie sich im Rahmen des 1952 gegründete Europäische Dokumentations- und Informationszentrum (CEDI) jenseits der offiziellen Außenpolitik enge wechselseitige Kontakte zwischen europäischen Konservativen und Vertretern des Franco-Regimes entwickelten. Die gemeinsamen Treffen dienten einerseits praktischen außenpolitischen Interessen des Franco-Regimes, förderten aber andererseits auch eine europäische Vereinheitlichung konservativen Denkens über Ländergrenzen hinweg und bewirkten in längerfristiger Perspektive zudem eine allmähliche Öffnung der Konservativen gegenüber liberalen Ideen.

Auch innerhalb des franquistischen weltanschaulichen Lagers lässt sich in den 1960er-Jahren eine neue Thematisierung von „Europa“ erkennen. CARLOS LEMKE (San Sebastián/Rom) erläuterte wie spanische Jesuiten Auswege aus der „postkonziliaren Krise“ in der Folge der Liberalisierungsimpulse des 2. Vatikanischen Konzils suchten und im Rahmen des 1967 gegründeten Instituto Fe y Secularidad (Institut Glauben und Welt) auf neue Weise Begriffe wie „Demokratie“ und „Moderne“ positiv reflektierten. NICOLÁS SESMA (Grenoble) verfolgte in einem parallelen Vortrag die widersprüchliche Öffnung politischer Debatten in der politisch äußerst einflussreichen franquistischen Revista de Estudios Políticos (Zeitschrift für politische Studien).

Die Fragen von Autoritarismus und Demokratie gewannen in der Endphase des Franco-Regimes und nach dem Tod Francos eine neue Bedeutung. NATALIA URIGÜEN (Madrid) und ANTONIO MUÑOZ (Lissabon) wandten sich vor diesem Hintergrund der Spanienpolitik von CDU und SPD zu und eröffneten vergleichende Perspektiven auf die deutsche Demokratisierungspolitik. Muñoz zeigte, wie die deutschen Sozialdemokraten ihre Förderung den sich wandelnden Bedürfnissen der spanischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) anpassten und zur Durchsetzung eines moderaten, reformorientierten Kurses beitrugen. Urigüen schilderte demgegenüber die Schwierigkeiten der bundesdeutschen Christdemokratie in Spanien politisch nahestehende Kreise zu identifizieren, die gleichzeitig in der Bevölkerung Einfluss besaßen. Nach dem Scheitern eines christdemokratischen Bündnisses bei den ersten freien Wahlen 1977 wandte sich die CDU zunehmend der neuen Regierungspartei Unión de Centro Democrático (UCD) als Ansprechpartner zu, bevor auch diese nach dem Wahlsieg der Sozialisten 1982 an politischer Bedeutung verlor.

Ein weiterer Block von Vorträgen wandte sich der Bedeutung „Europas“ in unterschiedlichen Politikfeldern zu. ANNA CATHARINA HOFMANN (Freiburg) befasste sich mit der Wahrnehmung des deutschen „Wirtschaftswunders“ in Spanien. Für die franquistische Führung erschien eine Nachahmung der deutschen Wirtschaftspolitik attraktiv, da sie nicht nur einen Weg zu neuer internationaler Anerkennung zu weisen schien, sondern vermeintlich auch die Möglichkeit einer nationalen Integration der Bevölkerung hinter ein Programm von Fleiß und Leistungsbereitschaft aufzeigte. MORITZ GLASER (Kiel) präsentierte Ergebnisse seiner vergleichenden Analyse der Tourismusindustrie an der spanischen Mittelmeerküste und der deutschen Ostsee um 1970. Er zeigte, dass sich die lokalen Akteure mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen und die lokalen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Tourismus trotz des unterschiedlichen politischen Kontexts viele Ähnlichkeiten aufwiesen. PATRICIA HERTEL (Basel) erörterte im Anschluss die deutsch-spanischen Tourismusbeziehungen im Spannungsfeld von Diktatur und Demokratie. Das bundesdeutsche Außenministerium entpolitisierte lange Zeit aufgrund wirtschaftlicher Interessen die Reisetätigkeit nach Spanien bewusst. Auch Reiseführer thematisierten die diktatorische Ordnung Spaniens kaum. Allerdings gewannen über das Genre der literarischen Reiseberichte politische Gegenwartsfragen für einen Teil von Reisenden allmählich an Bedeutung.

Im letzten Vortragsblock zum Thema der Migration zeigten GLORIA SANZ (Pamplona) und VÍCTOR SEVILLANO (Windsor) wie die Arbeitsmigration nach Deutschland in den 1960er- und 70er-Jahren auf neue Weise die Frage von Autoritarismus und demokratischer Lebensweise aufwarf. Sevillano beschrieb beispielsweise wie die Verbände spanischer Einwanderer in das Fadenkreuz von Einflussversuchen sowohl des franquistischen Regimes als auch bundesdeutscher Institutionen gerieten. FRAUKE KERSTEN (Oldenburg) fragte schließlich nach nicht-intendierten modernisierenden Effekten der franquistischen Frauenpolitik und diskutierte die gesellschaftlichen Folgen eines wachsenden Interesses spanischer Frauen und Frauenverbände in der Spätphase des Regimes an der Frauenpolitik westlicher Demokratien.

Zum Abschluss der Tagung diskutierten BIRGIT ASCHMANN (Berlin) und XOSÉ-MANOEL NÚÑEZ-SEIXAS (München) Perspektiven des Tagungsthemas. Aschmann sprach sie sich dafür aus, die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte als eine besondere Phase der deusch-spanischen Geschichte zu verstehen. Eine zunächst vergleichbare politische Außenseiterrolle der beiden Staaten im internationalen Kontext führte für einige Zeit zu einem hohen wechselseitigen Interesse und einer Vielzahl praktischer Beziehungen. Politische Systemunterschiede stellten dabei kein Hindernis für die bilateralen Kontakte dar. Núñez-Seixas betonte seinerseits die Notwendigkeit, die Entwicklung nach 1945 in eine längere Geschichte der spanisch-deutschen und europäischen Kulturkontakte seit dem 19. Jahrhundert einzuordnen. Beide Referenten schlugen vor, über eine deutsch-spanische Beziehungsgeschichte hinaus vermehrt europäische und globale Perspektiven aufzugreifen und dabei einerseits neue Themen wie etwa die Massen- und Populärkultur und andererseits die Vielfalt an Akteuren und kulturellen Vermittlern in den Blick zu nehmen.

Konferenzübersicht:

Welcome
Dean of the Faculty of Geography and History, Complutense University of Madrid
Introduction
Till Kössler (Bochum) / Carlos Sanz (Madrid)

Session 1: The Shadow of National Socialism

Toni Morant i Ariño (Valencia): The Necessity to Mark Distances. The Falange and National Socialism after the Second World War

Stefanie Schüler-Springorum (Berlin): Veterans of the Condor Legion and Spain in the 1950s and 1960s

Session 2: Culture, Arts and Sciences

Arno Gimber (Madrid): Literary Exchanges Between Spain and West Germany After 1945

Marició Janué i Miret (Barcelona): The Implication of the End of the Second World War for the Spanish-German Cultural Relations

Albert Presas i Puig (Barcelona): Science Policy and Academic Contacts Between West Germany and Spain

Session 3: Mental Maps, Political Science and Political Ideas

Jasper Trautsch (Regensburg): West or South? Spain on the German Mental Maps about Europe since 1945

Nicolás Sesma (Grenoble): New Images for Old Allies. Francoist Spain and its Idea of the Federal Republic of Germany

Carlos Lemke (San Sebastian / Rome): The Instituto Fe y Secularidad. Spanish Jesuits and the Question of Democracy and Modernity (1967-1986)

Session 4: Political Parties

Johannes Großmann (Tübingen): An Unexpected Rapprochement. Francoist Spain, the Federal Republic of Germany, and the Reinvention of Conservative Internationalism after 1945

Natalia Urigüen (Madrid): The European Christian Democratic Union, German Christian Democrats and the Spanish Case: 1965-1982

Antonio Muñoz (Lisbon): The Friedrich Ebert Foundation and the Reconstruction of the Spanish Socialism during the Transition to Democracy

Session 5: Economics and Tourism

Anna Catharina Hoffmann (Freiburg): The German Resurgence. The Perception of the German Economic Miracle and Economic Policy Change under the Franco Regime (1950-1960)

Moritz Glaser (Kiel): Tourism, Space and Architecture Around 1970. Spain and West Germany in Comparative Perspective

Patricia Hertel (Basel): Uncertain Destination? The Relationship Between Authoritarian and Democratic States in Western Europe: The Case of German Tourism in Spain (1950 – 1980)

Session 6: Migrations, Family and the State

Gloria Sanz (Pamplona): Politic and Emigration, Spain and the Federal Republic of Germany in the 1960s and 1970s

Victor Sevillano (Windsor): The Associations of Spanish Migrants in West Germany (1960-1985)

Frauke Kersten (Oldenburg): Women, Family and the State in Spain and Federal Republic of Germany (1945-1986)

Commentary
Birgit Aschmann (Berlin)
Xosé-Manoel Nuñez-Seixas (Munich)


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