Reformationsraum Thüringen? Faktoren, Funktionen und Konzeptionen der mitteldeutschen Reformation

Reformationsraum Thüringen? Faktoren, Funktionen und Konzeptionen der mitteldeutschen Reformation

Organisatoren
Netzwerk Reformationsforschung in Thüringen
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.01.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland M. Lehmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die unterschiedlichen Thüringer Akteure der Reformationsforschung arbeiten seit 2012 im „Netzwerk Reformationsforschung in Thüringen“ zusammen. Unter der Leitung der Thüringer Staatskanzlei, des Lutherbeirates des Freistaates Thüringen und der „Projektgruppe Reformationsgeschichte“ der Universitäten Jena, Erfurt und der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha werden in regelmäßigen Abständen erfahrene Wissenschaftler/innen und Nachwuchsforscher/innen zusammengebracht, um über ihre Projekte zu berichten und neue Forschungsansätze zu diskutieren. Seit 2014 zeugen Workshops zu zentralen Themen, Methoden und Quellen von der Vielschichtigkeit der reformationsgeschichtlichen Forschungslandschaft in Thüringen und eröffnen Synergien zwischen den beteiligten Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Der mittlerweile 4. Workshop widmete sich am 29. Januar 2016 im Senatssaal der Friedrich-Schiller-Universität Jena dem Thema „Reformationsraum Thüringen? Faktoren, Funktionen und Konzeptionen der mitteldeutschen Reformation“. Nach der Begrüßung durch den Thomas A. Seidel (Reformationsbeauftragter der Thüringer Landesregierung) und Christopher Spehr (Uni Jena, Projektgruppe Reformationsgeschichte) führte SIEGRID WESTPHAL (Osnabrück) in das Thema der Sitzung ein. Ziel des Arbeitsgesprächs solle sein, der Frage nachzugehen, was die Spezifika der Reformation im Thüringer Raum seien. Zugespitzt formuliert: Gab es eine thüringische Reformation oder lediglich die Reformation in Thüringen? Im Titel wurde hierbei bewusst der methodische Begriff des „Raums“ aufgegriffen, der seit den 1990er-Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften breit diskutiert wird, im Zuge dessen man vom „Spatial Turn“ bzw. von der „topologischen Wende“ spricht (Anthony Giddens, auch Martina Löw). Die Räume, die durch soziales Handeln konstituiert werden, lassen sich in vier Bereiche ausdifferenzieren, die sich gegenseitig behindern oder verstärken können: der herrschaftlich-politisch-administrative, der wirtschaftlich-soziale, der religiös-kulturelle und der kognitiv-imaginäre Raum. Zu erwägen sei, ob gerade die gegenseitige Verstärkung des herrschaftlich-administrativen und religiösen Raums eine Voraussetzung für die Durchsetzung der Reformation in Thüringen gewesen sein könnte.

Den ersten Beitrag des Arbeitsgesprächs bot UWE SCHIRMER (Jena), der über das Thema „Räume, Regionen und Landschaften. Quellenbefunde aus dem frühen 16. Jahrhundert“ sprach. In einem ersten Teil lotete er aus geographischer Perspektive den Wettiner Raum aus, um das thüringische Kerngebiet von den anderen Regionen abzugrenzen. Der thüringische Raum bezeichnet das Gebiet zwischen Harz und Thüringer Wald entlang der Nord-Südachse und zwischen Werra und Saale entlang der West-Ost-Achse. Im zweiten Teil referierte Uwe Schirmer über die Sozialformation des thüringischen Raums, wobei er auf die Verdichtung der Herrschaftsstrukturen durch die ernestinische Regierung einging.

In seinem Vortrag „Die Ernestiner und Luther – Überlegungen“ konzentrierte sich CHRISTOPHER SPEHR (Jena) auf die Frage, inwieweit die Ernestiner direkt oder indirekt Einfluss auf Luthers theologisches Wirken nahmen. Weil der Wittenberger ein Problemdenker war, der auf Fragen situativ reagierte, waren es nicht selten diese Anfragen und Bitten seiner Landesherren, die ihn anregten und zu neuen Erkenntnissen herausforderten. So habe Kurfürst Friedrich der Weise mit seinen Anfragen dazu beigetragen, dass Luther seine reformatorische Theologie auf den Feldern der Fundamentaltheologie, der Schriftauslegung, der Predigtlehre und der Seelsorge in den Entscheidungsjahren 1519 bis 1521 ausbaute. Hinsichtlich der Ausformulierung seiner Obrigkeitslehre, christlichen Ethik und kirchlichen Praxis kamen Johanns und Johann Friedrichs Bitten Gewicht zu. Einfluss auf die theologische Bekenntnisbildung nahm Kurfürst Johann Friedrich unter anderem, als dieser im Sommer 1536 Luther um dessen religiöses Testament bat, woraus die „Schmalkaldischen Artikel“ erwuchsen. Schließlich, so das Resümee, eröffnete Luther mit seiner Lehre einen Resonanzraum, der weit über die ernestinischen Einflussbereich reichte.

Das Thema „Bildungsraum und Raumbildung – Vernetzung mitteldeutscher Bildungsinstitutionen am Beispiel ihrer Musikpflege (circa 1550–1600)“ stand im Zentrum des Vortrags von STEFAN MENZEL (Weimar). Er konzentrierte sich hierbei auf die mehrstimmige und durch Mensuralnotation überlieferte geistliche Figuralmusik des 16. Jahrhunderts (cantus figuralis). Ihm zufolge lässt sich eine Intensivierung der Kirchenmusikpflege aufgrund der Reformation um 1550 feststellen. Jener Wandel gehe einher mit dem Aufbau des Schulwesens. Insbesondere veranschaulichte Stefan Menzel, wie sich die Choralmusik der Wirkungsstätten Annaberg, Zwickau, St. Joachimsthal sowie Hildburghausen, aber auch Eisleben, Magdeburg und Leipzig auf die Aufführungspraxis in Wittenberg auswirkte und später von dort die Musik der ersten reformatorischen Fürstenschulen in Pforta, Meißen und Grimma prägte.

DANIEL GEHRT (Gotha / Erfurt) referierte über das Thema „Editionsvorhaben zur Reformationsgeschichte am Gothaer Hof um 1717. Ein Zusammenspiel zwischen Forschungen und Sammlungen“. Während die Wolfenbütteler Bibliothek eine Edition der Lutherbriefe plante, entstand in Gotha um 1717 das Forschungsprojekt, die Briefe Melanchthons herausgeben zu wollen. Initiator dieses Vorhabens war der Gothaer Theologe und Bibliothekar auf Schloss Friedenstein Ernst Salomon Cyprian. Wenngleich dieses Projekt nicht zustande kam, lassen sich dennoch in diesem Zeitraum vermehrt Ankäufe von Melanchthon-Briefen für die Bibliothek beobachten.

Abgerundet wurde das Symposium durch den Vortrag von JOACHIM BAUER (Jena) über das Thema „Blick über 2017: Was bleibt von der frühbürgerlichen Revolution?“. Während er zunächst in Form einer Rückschau die Anwendung des Begriffs der „frühbürgerlichen Revolution“ auf die Bauernkriege im Zeitalter der Reformation betrachtete, plädierte er anschließend im Sinne einer Vorausschau für die Suche nach alternativen historiographischen Deutungsmustern, wobei er den Vorschlag machte, sich hierbei auf das Thema „Alternative Reformationskonzepte“ zu konzentrieren.

Zwischen den Vorträgen kam es zu intensiven Diskussionen über die angesprochenen Themen. Wiederholt wurde über die Frage diskutiert, wieso die religiöse Devianz, die bei einzelnen Vertretern reformatorischer Ideen in der Frühzeit der Reformation auszumachen sei, sich bemerkenswerterweise auf den thüringischen Raum als „Laboratorium der Reformation“ konzentriert habe. In diesem Zusammenhang wurde angeregt, beim Nachdenken über die verschiedenen „Räume“ methodisch den Begriff der „Identität“ in die Überlegungen einzubeziehen. Auch in den zukünftigen Sitzungen solle dieser Frage vertieft nachgegangen werden.

Konferenzübersicht:

Thomas A. Seidel (Reformationsbeauftragter der Thüringer Landesregierung) und Christopher Spehr (Projektgruppe Reformationsgeschichte, Universität Jena): Begrüßung

Siegrid Westphal (Universität Osnabrück, Lutherbeirat): Einführung ins Thema

Moderation: Siegrid Westphal und Christopher Spehr

Uwe Schirmer (Universität Jena): „Räume, Regionen und Landschaften. Quellenbefunde aus dem frühen 16. Jahrhundert“

Christopher Spehr (Projektgruppe Reformationsgeschichte, Universität Jena): „Die Ernestiner und Martin Luther – Überlegungen“

Stefan Menzel (Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar): „Bildungsraum und Raumbildung – Vernetzung mitteldeutscher Bildungsinstitutionen am Beispiel ihrer Musikpflege (ca. 1550-1600)“

Daniel Gehrt (Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt): „Editionsvorhaben zur Reformationsgeschichte am Gothaer Hof um 1717. Ein Zusammenspiel zwischen Forschungen und Sammlungen“

Joachim Bauer (Universität Jena): „Blick über 2017: Was bleibt von der frühbürgerlichen Revolution?“

Abschlussdiskussion


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts